Urteil des SozG Lübeck vom 15.02.2010

SozG Lübeck: norwegen, rente, erwerbsfähigkeit, verwaltungsverfahren, widerspruchsverfahren, prozessökonomie, zugehörigkeit, gerichtsakte, vergleich, berufsunfähigkeit

Sozialgericht Lübeck
Urteil vom 15.02.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 15 R 428/09
1. Der Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2009
wird aufgehoben. 2. Der Rechtsstreit wird an die Beklagte zurückverwiesen. 3. Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre
notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin gegen die Beklagte ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht.
Die am in , Deutschland, geborene und in , Norwegen, wohnhafte Klägerin stellte am 7. Dezember 2007 einen Antrag
auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei der Deutschen Rentenversicherung Berlin-
Brandenburg. Dieser Antrag wurde am 15. Dezember 2008 an die Beklagte weitergeleitet. Am 1. Dezember 2008 ging
das Formblatt E 204 N, das Formblatt E 205 N und das Formblatt E 207 N bei der Deutschen Rentenversicherung
Bund ein. Hinsichtlich des Inhalts wird auf Blatt 5 bis 17 der Verwaltungsakte verwiesen.
Mit Bescheid vom 23. Januar 2009 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit ab, weil in den letzten fünf Jahren drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte
Beschäftigung oder Tätigkeit nicht vorhanden seien. Im maßgeblichen Zeitraum vom 1. Dezember 2001 bis zum 6.
Dezember 2007 seien nur ein Jahr und ein Kalendermonat mit entsprechenden Beiträgen belegt. Auch sei die
Wartezeit nicht vorzeitig nach Maßgabe der §§ 53, 245 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) erfüllt. Schließlich
seien auch die Voraussetzungen des § 241 Abs. 2 SGB VI nicht erfüllt. Bei diesem Sachverhalt sei nicht geprüft
worden, ob eine teilweise bzw. eine volle Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit vorliege.
Die Beklagte teilte dem norwegischen Rentenversicherungsträger mit Schreiben vom 28. Januar 2009 auf Formblatt E
210 D den Ausgang des Rentenverfahrens mit.
Gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten erhob die Klägerin am 9. März 2009 Widerspruch. Sie trug vor, dass
die Information des norwegischen Versicherungsträgers hinsichtlich der Versicherungszeiten nicht korrekt sei. Sie sei
bis April 2008 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen.
Am 4. Juni 2009 ging ein Schreiben der unter Bezugnahme auf das Schreiben der Beklagten vom 28. Januar 2009 bei
der Beklagten ein. Die wolle präzisieren, dass die Klägerin seit ihrer Einwanderung nach Norwegen am als
Einwohnerin pflichtmäßiges Mitglied des norwegischen Sozialversicherungssystems sei. Sie sei also seit diesem
Datum in Norwegen in sozialen Bereichen versichert. Die bat um Mitteilung, ob dieses Faktum die Grundlage des
ablehnenden Bescheides ändere.
Mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 2009 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur
Begründung führte sie unter Darlegung der gesetzlichen Grundlagen aus, dass im maßgeblichen Zeitraum vom 1.
Dezember 2001 bis zum 6. Dezember 2007 lediglich 13 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt seien. Die
Voraussetzungen des § 43 SGB VI würden von der Klägerin somit nicht erfüllt. Die Beklagte wies darauf hin, dass der
norwegische Rentenversicherungsträger auf dem Vordruck E 205 zunächst lediglich für die Zeit vom bis zum 31.
Januar 2003 eine Beschäftigungszeit gemeldet habe. Aus der im Widerspruchsverfahren nachgereichten
Bescheinigung ergebe sich lediglich eine Versicherungszeit als Einwohnerin in Norwegen. In den Ländern mit
Einwohnerversicherung, wozu auch Norwegen gehöre, würden allein durch den dortigen Wohnsitz Versicherungszeiten
begründet, welche in Form von Wohnzeiten im ausländischen Versicherungsverlauf bescheinigt würden. Diese
Wohnzeiten seien Pflichtbeiträge, die bei der Prüfung sämtlicher Wartezeiten (§§ 50, 243b, SGB VI) heranzuziehen
seien. Nach dem ab dem 1. Januar 1996 geltenden Recht könnten bei der Prüfung der besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 43, 53 und 245, 237, 237a SGB VI sowie der erweiterten
Vertrauensschutzregelung "45 Jahre Pflichtbeiträge" der §§ 236 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 237a
Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VI nur noch Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit berücksichtigt
werden. Dies habe zur Folge, dass dabei Wohnzeiten nur noch dann angesetzt werden könnten, wenn während dieser
Zeit eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden sei. Die von der angegebenen Wohnzeiten
könnten jedoch nicht berücksichtigt werden. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wären nur bei
Eintritt eines Leistungsfalls vor dem 1. Februar 1997 erfüllt. Nochmals hingewiesen wurde darauf, dass das Vorliegen
einer vollen bzw. teilweisen Erwerbsminderung oder einer Berufsunfähigkeit nicht geprüft worden sei.
Am 2. September 2009 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Lübeck erhoben.
Zur Begründung ihrer Klage reicht die Klägerin sowohl einen zwischen ihr und der Firma am 5. Juni 2002
geschlossenen Arbeitsvertrag als auch einen weiteren Arbeitsvertrag zwischen ihr und der Firma ein, wo die Klägerin
im Zeitraum vom 3. Januar 2006 bis zum 11. August 2006 tätig war. Ebenfalls reicht die Klägerin
Steuerbescheinigungen aus Norwegen für den Zeitraum von 2002 bis einschließlich 2008 ein. Des Weiteren reicht die
Klägerin einen Bescheid des Amtes für Soziales und Versorgung in vom 11. Januar 1993 zur Gerichtsakte, wonach
ihr ein Grad der Behinderung von insgesamt 30 zuerkannt wurde.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 23. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 5. August 2009 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Verwaltungsakte der Beklagten ging am 22. September 2009 beim Sozialgericht Lübeck ein.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsakte sowie den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Bescheides in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Beklagte wegen unzureichender
Sachverhaltsaufklärung erfolgreich.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2009
ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er ist unter einem wesentlichen Verstoß gegen den in § 20
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) enthaltenen Untersuchungsgrundsatz ergangen und daher gemäß § 131
Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufzuheben. Gleichzeitig ist die Sache zur weiteren Sachaufklärung an die
Beklagte zurückzuverweisen.
Gemäß § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG kann das Gericht in den Fällen des § 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG, in denen
es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und
den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich
sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung übergeordneter Belange sachdienlich ist.
Nach Änderung des § 131 Abs. 5 SGG durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichts- und des
Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (SGGArbGGÄndG, BGBl. I, S. 444) mit Wirkung vom 1. April 2008 und der
damit verbundenen ausdrücklichen Erwähnung des § 54 Abs. 4 SGG ist nunmehr endgültig klargestellt, dass § 131
Abs. 5 SGG auch bei kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen Anwendung findet.
Soweit dem vereinzelt in der Literatur (Mey, SGb 2010, 68, 72) entgegengehalten wird, dass von der Möglichkeit einer
Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 131 Abs. 5 SGG im Kontext mit Leistungsklagen generell kein Gebrauch
zu machen sei, da stattdessen als "Mittel der Wahl" eine Fortführung und Entscheidung des Verfahrens mit einer
Kostenentscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG durch das Gericht in Betracht käme, ist dieser Auffassung nicht zu
folgen. Denn sie übersieht, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 SGG nicht mit denen
einer solchen nach § 192 Abs. 4 SGG kongruent sind. Die Auferlegung von Kosten gemäß § 192 Abs. 4 SGG hat
nicht nur die objektive Notwendigkeit weiterer Ermittlungen, sondern auch deren Erkennbarkeit für die Beklagte im
vorangegangenen Verwaltungsverfahren zur Voraussetzung (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer (Hrsg.),
SGG, 9. Aufl. 2008, § 192 Rdnr. 18e). Davon abgesehen, dass eine Entscheidung nach § 131 Abs. 5 SGG sich
zumindest gegenüber der Beklagten im Vergleich zu einer Entscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG regelmäßig als ein
milderes Mittel darstellen dürfte, ist eine Kostenentscheidung gemäß § 192 Abs. 4 SGG darüber hinaus aufgrund der
unterschiedlichen Voraussetzungen nicht in jedem und auch im hier zu beurteilenden Fall nicht geeignet, die Vorteile
einer – vom Gesetzgeber gerade im Hinblick auf die bis zur Änderung des § 131 Abs. 5 SGG nicht erfasste
kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage und aus diesem Grund erweiterte – Entscheidungsmöglichkeit nach §
131 Abs. 5 SGG auszugleichen. Auch Erwägungen der Prozessökonomie stehen – wie noch zu zeigen ist – einer
Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte und einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Beklagte im
vorliegenden Fall nicht entgegen.
Die Anwendung des § 131 Abs. 5 SGG ist hier nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts möglich, da
die Klage nach dem 31. März 2008 erhoben wurde.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 131 Abs. 5 SGG sind sämtlichst erfüllt.
Gemäß § 131 Abs. 5 Satz 4 SGG kann eine Aufhebung der Verwaltungsakte und eine Zurückverweisung an die
Verwaltung nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen. Diese Voraussetzung
ist hier gegeben, da zwischen dem Eingang der Behördenakten bei Gericht – hier: dem 22. September 2009 - und der
Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung – hier: dem 5. Februar 2010 – weniger als sechs Monate
vergangen sind.
Die weitere Sachaufklärung ist zur beabsichtigten Entscheidung über die von der Klägerin begehrte Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit unbedingt erforderlich. Denn insoweit liegt bislang ein Ermittlungsausfall seitens der
Beklagten vor.
Die Beklagte hat im Renten- wie auch Widerspruchsverfahren zu keinem Zeitpunkt konkrete Ermittlungen über die
Beschäftigungs- und Versicherungszeiten der Klägerin in Norwegen angestellt. Ermittlungen wurden auch dann nicht
vorgenommen, als die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 9. März 2009 vortrug, dass sie bis einschließlich April
2008 in Norwegen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Trotz dieser Angabe hat sich die Beklagte in ihrer
Widerspruchsentscheidung im Wesentlichen auf ein – unaufgefordert eingereichtes – Schreiben der bezogen, in
welchem auf eine generelle Zugehörigkeit der Klägerin zum norwegischen Sozialversicherungssystem hingewiesen
wurde. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu würdigen, dass in Norwegen die Zurücklegung reiner Wohnzeiten
für die Zugehörigkeit zum Sozialversicherungssystem Norwegens ausreichend ist. Die Beklagte hätte dieses
unaufgefordert eingereichte Schreiben des norwegischen Versicherungsträgers nicht zu ihrer wesentlichen
Entscheidungsgrundlage im Widerspruchsbescheid vom 5. August 2009 machen dürfen. Vielmehr hätte es einer
konkreten Nachfrage beim norwegischen Rentenversicherungsträger über (weitere) Beschäftigungszeiten der Klägerin
in Norwegen bedurft. Derartige Ermittlungen haben jedoch nicht stattgefunden.
Die weiterhin durchzuführenden Ermittlungen sind erheblich. Erheblich sind weitere Ermittlungen zum einen dann,
wenn sie einen gewissen Umfang erreichen. Die Erheblichkeit kann sich zum anderen aber auch aus der notwendigen
Zeitdauer, den personellen Möglichkeiten des Gerichts wie auch aus besonders hohen Kosten ergeben (Keller, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer (Hrsg.), SGG, 9. Aufl. 2008, § 131 Rdnr. 19; vgl. Bienert, SGb 2005, 84, 86). Maßstab
ist insoweit, ob wegen der Art der erforderlichen Ermittlung die Belastung des Gerichts bei Vornahme dieser
Ermittlungen deutlich mehr als nur geringfügig ist (vgl. Zeihe/Hauck (Hrsg.), SGG, § 131 Rdnr. 33 (2009)). Dies ist
etwa dann der Fall, wenn umfangreiche Ermittlungen zu Vorversicherungszeiten im Ausland vorzunehmen sind (Wolff-
Dellen, in: Breitkreuz/Fichte (Hrsg.), SGG, 2009, § 131 Rdnr. 19).
So liegt der Fall auch hier. Denn hinsichtlich eines potentiell bestehenden Anspruchs auf Gewährung einer Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist Voraussetzung gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB
VI, dass in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte
Beschäftigung oder Tätigkeit vorliegen. Der Zeitraum von fünf Jahren kann sich gegebenenfalls verlängern. Für die
Feststellung, ob die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, bedarf es der Ermittlung von
Beschäftigungs- und Versicherungszeiten der Klägerin. Da die Klägerin ihren ständigen Wohnsitz in Norwegen hat,
bedarf es hier der Klärung des Versichertenkontos auch unter Berücksichtigung der in Norwegen zurückgelegten
Beschäftigungs- und sonstigen Versicherungszeiten. Diese Ermittlungen verursachen einen nicht unerheblichen
Zeitaufwand. Angesichts der zum Verfahren eingereichten Unterlagen ergibt sich hier auch ein mehr als nur
geringfügiger Umfang der notwendigen Ermittlungen der Vorversicherungszeiten der Klägerin. Sollte sich nach
Durchführung dieser Ermittlungen ergeben, dass eine ausreichende Zahl an Pflichtbeiträgen für eine Beschäftigung
oder versicherte Tätigkeit der Klägerin vorliegt, bedarf es für die Entscheidung über die Frage, ob der Klägerin ein
Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht, noch weiterer umfangreicher medizinischer
Prüfungen, die ebenfalls bislang nicht vorgenommen wurden. Hierzu kann die Einholung von Befund- und
Behandlungsberichten wie auch die Einholung von Sachverständigengutachten gehören, was mit nicht unerheblichen
Kosten sowie einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.
Die weiter vorzunehmenden Ermittlungen sind auch entscheidungserheblich, da ohne die Kenntnis über die genauen
Vorversicherungszeiten angesichts ebenfalls fehlender Ermittlungen betreffend das (Rest-)Leistungsvermögen der
Klägerin über den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht entschieden werden
kann.
Zur Überzeugung des Gerichts ist die Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Beklagte auch unter
Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich.
Als sachdienlich ist die Zurückverweisung dann anzusehen, wenn die Verwaltungsbehörde die erforderlichen
Ermittlungen nach ihrer persönlichen und sachlichen Ausstattung besser, das heißt billiger, schneller und effektiver
durchführen kann als das Gericht und es daher vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen
(BSG, Urteil vom 17.04.2007 – B 5 RJ 30/05 R, BSGE 98, 198; BVerwG, Urteil vom 18.11.2002 – 9 C 2/02, BVerwGE
117, 200; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.01.2009 – L 4 R 1519/08, juris; SG Chemnitz, Gerichtsbescheid
vom 23.09.2009 – S 16 SB 184/09, juris; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer (Hrsg.), SGG, 9. Aufl. 2008, § 131
Rdnr. 19a; Bienert, SGb 2005, 84, 86). Eine Zurückverweisung ist regelmäßig dann sachdienlich, wenn die begründete
Möglichkeit besteht, dass die noch erforderlichen erheblichen Ermittlungen, insbesondere wegen der personellen und
sachlichen Ausstellung der Behörde – etwa mit eigenem ärztlichen Dienst – inhaltlich besser oder schneller
vonstatten gehen als bei Gericht (BSG, Urteil vom 17.04.2007 – B 5 RJ 30/05 R, BSGE 98, 198; Keller, in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer (Hrsg.), SGG, 9. Aufl. 2008, § 131 Rdnr. 19a).
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Beklagte ist zur Überzeugung des Gerichts in der Lage, die noch
erforderlichen erheblichen Ermittlungen über die Vorversicherungszeit der Klägerin und etwaig zurückgelegte
Beschäftigungszeiten in Norwegen besser und effektiver anzustellen, da es sich bei der Beklagten um die
Verbindungsstelle des Trägers der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zum norwegischen
Rentenversicherungsträger handelt. Die Beklagte dürfte Auskünfte des norwegischen Rentenversicherungsträgers mit
einem bedeutend geringeren Zeitaufwand erlangen, als dies dem Gericht möglich wäre. Zudem kann die Beklagte
unter Zuhilfenahme des ihm zur Verfügung stehenden ärztlichen Dienstes die ggf. erforderlichen Ermittlungen auf
medizinischem Fachgebiet weitaus kostengünstiger und zügiger vornehmen als das Gericht. Dem Gericht bliebe hier
lediglich die im Vergleich zeitaufwändigere und auch kostspieligere Möglichkeit der Einholung eines
Sachverständigengutachtens durch einen externen Sachverständigen. Zudem entstünden auf Seiten des Gerichts
weitere Kosten durch die gegebenenfalls notwendigen Übersetzungen von übersandten Dokumenten aus Norwegen in
die deutsche Sprache (vgl. § 184 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz).
Auch die Berücksichtigung übergeordneter Belange führt hier zu dem Ergebnis, dass der Rechtsstreit an die Beklagte
zurückzuverweisen ist.
Ob einer Entscheidung nach § 131 Abs. 5 SGG übergeordnete Gesichtspunkte entgegenstehen, ist unter Würdigung
aller relevanten Belange unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes insbesondere danach zu beurteilen,
ob die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung dem Interesse an einer Gesamtbereinigung des
Rechtsstreits in angemessener Zeit nicht entgegensteht. Dem Interesse an einer zügigen Bereinigung des
Rechtsstreits wird auch durch die Entscheidungsfrist nach § 131 Abs. 5 Satz 4 SGG mit Rechnung getragen
(Zeihe/Hauck (Hrsg.), SGG, § 131 Rdnr. 34 (2009)). Neben dem Interesse, eine sachwidrige Aufwandsverlagerung auf
die Gerichte zu vermeiden, sind weitere übergeordnete Belange wie diejenigen betreffend die Qualität der
Ermittlungsmöglichkeiten, die Prozessökonomie und auch die Belange aller Beteiligten zu berücksichtigen.
Übergeordnete Gesichtspunkte, die es rechtfertigen, dass ein Kläger bei Leistungsklagen mit der Gefahr einer
Verzögerung des Rechtsstreits belastet wird, setzen in der Regel ein gravierendes Ermittlungsdefizit voraus, etwa
wenn die Behörde insgesamt oder zu einem wesentlichen Streitpunkt überhaupt keine eigene Sachverhaltsermittlung
im Verwaltungsverfahren durchgeführt hat (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer (Hrsg.), SGG, 9. Aufl. 2008, §
131 Rdnr. 119a m. w. Nachw. aus der Rspr.).
So liegt es auch hier. Die Beklagte hat – wie bereits ausgeführt – im hier zu beurteilenden Fall keine weiteren
Ermittlungen hinsichtlich der Beschäftigungszeiten der Klägerin angestellt, wozu nach den Ausführungen der Klägerin
im Widerspruch vom 9. März 2008 jedoch Anlass bestand. Insoweit liegt ein Ermittlungsausfall auf Seiten der
Beklagten vor. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Beklagte ist auch unter Gesichtspunkten der
Prozessökonomie sachdienlich, denn durch eine weitere Sachaufklärung und anschließende erneute Entscheidung
des Falles kann eine erneute Befassung des Gerichts mit dem Rechtsstreit vermieden werden. Die bereits dargelegte
Möglichkeit der effektiveren und schnelleren Durchführung von Ermittlungen hinsichtlich der besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
spricht auch dafür, dass durch die Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Verwaltung eine Verzögerung der
Entscheidung zu Lasten der Klägerin nicht eintreten dürfte.
Ferner erachtet es das Gericht auch deswegen als geboten, das Verfahren zurückzuweisen, da im hier zu
beurteilenden Fall sonst das gemäß §§ 77 ff. SGG durchzuführende Vorverfahren gegenstandslos würde. Nach der
Auffassung des Gesetzgebers soll eine Verlagerung der Ermittlungstätigkeit auf die Gerichte vermieden werden. Eine
zu enge Auslegung der Sachdienlichkeit im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG könnte letztlich dazu führen, dass
Ermittlungen nicht mehr durch die Verwaltungsbehörden, die dafür nach dem Gesetz (vgl. § 20 SGB X) originär
zuständig sind, sondern allenfalls durch die Gerichte durchgeführt werden müssen. Die Gerichte haben jedoch
grundsätzlich nicht die Aufgabe, die in die Zuständigkeit der Verwaltung fallenden Aufgaben zu erledigen, sondern
lediglich die getroffenen Entscheidungen der Verwaltung auf deren Vereinbarkeit mit Recht und Gesetz zu überprüfen.
Zusätzlich ist zu beachten, dass der Klägerin ohne die Zurückverweisung praktisch eine Rechtsschutzmöglichkeit,
nämlich die eines effektiven und gesetzlichen Widerspruchsverfahrens, entzogen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Insbesondere im Hinblick auf die weitgehend unterlassene
Aufklärung des Sachverhalts im Widerspruchsverfahren und dem damit einhergehenden Verstoß gegen § 20 SGB X
waren die Kosten der Beklagten in vollem Umfang aufzuerlegen. Im Falle einer gerichtlichen Entscheidung nach § 131
Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs. 4 SGG erzielt ein Kläger zwar nur einen Teilerfolg, da lediglich der angefochtene
Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben, aber keine Entscheidung über den sachrechtlichen
Anspruch getroffen wird. Eine Kostenbelastung des Klägers ist aber auch in diesem Fall nicht gerechtfertigt, weil ein
Kläger es nicht in der Hand hat, das Gericht zur Nachholung erforderlicher Ermittlungen und zur vollständigen Prüfung
des Anspruchs zu zwingen. Für die Beklagte dagegen realisiert sich ein mit unzureichenden Ermittlungen im
Verwaltungsverfahren eingegangenes Risiko (Humpert, in: Jansen (Hrsg.), SGG, 3. Aufl. 2009, § 131 Rdnr. 49). So
liegt es auch hier.
Dr. Leopold Richter