Urteil des SozG Lübeck vom 23.03.2006

SozG Lübeck: ddr, zugehörigkeit, verpackung, kündigung, verordnung, arbeiter, sozialversicherung, agb, anwendungsbereich, techniker

Sozialgericht Lübeck
Urteil vom 23.03.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 14 RA 174/04
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der beklagte Zusatzversorgungsträger für die Klägerin bezogen auf den Zeitraum vom 3. Juli 1972 bis
31. März 1990 Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) und
die daraus erzielten Arbeitsentgelte festzustellen hat.
Die am 2 1944 geborene Klägerin legte am 31. Juli 1972 die staatliche Prüfung der DDR als Techniker (Konstruktion)
Hochbau ab. Von September 1972 bis Juli 1974 besuchte sie die Ingenieurschule für Bauwesen in L und war
gleichzeitig bis 16. August 1974 als Teilkonstrukteur bzw. später als Techniker beim VEB Industrieprojektierung L
beschäftigt. Seit dem 3. Juli 1974 war sie berechtigt, die Berufsbezeichnung Ingenieur zu führen. Von September
1974 bis März 1978 war sie Ingenieur bei der Nationalen Volksarmee, vom 17. April 1978 bis 29. Februar 1980 beim
VEB Blechwerk L und von März 1980 bis März 1990 beim VEB Verpackung L. Dort wurde ihr im März 1990 zum 31.
März 1990 gekündigt. Eine Versorgungszusage zu DDR-Zeiten erhielt die Klägerin nicht.
Mit Bescheid vom 26. November 2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab, für sie Zugehörigkeitszeiten
zur AVItech festzustellen. Die Klägerin habe am 30. Juni 1990 keine Beschäftigung ausgeübt, die – aus
bundesrechtlicher Sicht – dem Kreis der obligatorisch Versorgungsberechtigten zuzuordnen wäre.
Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin am 3. Dezember 2003 Widerspruch. Die sog. Stichtagsregelung sei
verfassungswidrig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 15. Juni 2004 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Der Anwendungsbereich der
AVItech sei nicht auf Produktionsbetriebe beschräkt. Die sog. Stichtagsregelung könne jedenfalls hier nicht gelten, da
zum einen die Kündigung der Klägerin beim VEB Verpackung L nach DDR-Recht unwirksam gewesen sei und zum
anderen nach § 2 Abs. 3 der Durchführungsbestimmung (2. DB) zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung
der technischern Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950 (VO
AVItech) die Versorgungsanwartschaft erhalten blieb, wenn innerhalb eines Jahres wieder eine Beschäftigung bei
einem VEB aufgenommen wurde.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 26. November 2003 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 3. Juli 1972
bis zum 31. März 1990 als Zeit der Zugehörigkeit der Klägerin zum Zusatzversorgungssystem nach Anlage 1 Nr. 1
zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) sowie ihre während dieser Zeit erzielten Entgelte
festzustellen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26. November 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2004 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die
Klägerin hat gegen die Beklagte für die Zeit vom 3. Juli 1972 bis 31. März 1990 keinen Anspruch auf Feststellung der
Zugehörigkeit zur AVItech und der tatsächlich in dieser Zeit erzielten Arbeitsentgelte nach § 8 AAÜG.
Gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 AAÜG hat der vor der Übertragung der Ansprüche und Anwartschaften
zuständige Versorgungsträger dem für die Leistungsfeststellung zuständigen Rentenversicherungsträger unverzüglich
die Daten mitzuteilen, die zur Durchführung der Versicherung und zur Feststellung der Leistung aus der
Rentenversicherung erforderlich sind. Gegenüber dem Berechtigten hat der Versorgungsträger den Inhalt dieser
Mitteilung durch Bescheid bekannt zu geben. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 AAÜG gelten Zeiten der Zugehörigkeit zu
einem Versorgungssystem, in denen eine Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden ist, als Pflichtbeitragszeiten
der Rentenversicherung. Diese Voraussetzungen liegen für den streitigen Zeitraum nicht vor.
Die Vorschriften des AAÜG sind auf die Klägerin nicht anwendbar. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG gilt das Gesetz für
Ansprüche und Anwartschaften (Versorgungsberechtigungen), die auf Grund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen im Beitrittsgebiet erworben worden sind und beim Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.
August 1991 bestanden haben. War ein Verlust der Versorgungsanwartschaft deswegen eingetreten, weil die
Regelungen der Versorgungssysteme ihn bei einem Ausscheiden aus dem Versorgungssystem vor dem Leistungsfall
vorsahen, gilt dieser Anwartschaftsverlust nach Satz 2 dieser Vorschrift als nicht eingetreten. Beide Tatbestände
erfüllt die Klägerin nicht. Denn es lag weder am 30. Juni 1990 noch zu einem früheren Zeitpunkt eine
Einzelfallentscheidung vor, durch die ihr eine Versorgungsanwartschaft zuerkannt worden ist.
Die Klägerin hatte auch nach dem am 1. August 1991 gültigen Bundesrecht auf Grund der am 30. Juni 1990
gegebenen tatsächlichen Umstände aus bundesrechtlicher Sicht keinen Anspruch auf Erteilung einer fiktiven
Versorgungszusage im Sinne der vom BSG vorgenommenen erweiternden verfassungskonformen Auslegung des § 1
Abs. 1 AAÜG (vgl. BSG 9. April 2002, B 4 RA 31/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr. 2). Das BSG hat insoweit entschieden,
dass eine (fiktive) Versorgungsanwartschaft nicht nur bei denjenigen besteht, die am 30. Juni 1990 zwar nicht in
einem Versorgungssystem einbezogen waren, jedoch nach § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG so behandelt werden, weil sie zu
irgendeinem Zeitpunkt davor aus dem Versorgungssystem ausgeschieden waren, sondern auch bei denjenigen, die
am 30. Juni 1990 nach den Regeln der Versorgungssysteme zwar die Voraussetzungen für eine Einbeziehung erfüllt
gehabt hätten, jedoch aus bundesrechtlich nicht anzuerkennenden Gründen nicht einbezogen worden waren (vgl.
BSG, a. a. O.).
Unter den Anwendungsbereich des AAÜG fallen somit auch diejenigen, die auf Grund der am 30. Juni 1990
gegebenen Sachlage nach der am 1. August 1991 gegebenen bundesrechtlichen Rechtslage einen Anspruch auf eine
Versorgungszusage gehabt hätten. Ein derartiger (fiktiver) bundesrechtlicher Anspruch auf Erteilung einer Zusage im
Bereich der AVItech hängt gemäß § 1 VO AVItech in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 der 2. DB von den
folgenden Voraussetzungen ab: 1. der Berechtigung, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen - persönliche
Voraussetzung - und 2. der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit - sachliche Voraussetzung -, und zwar 3. in
einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens (§ 1 Abs. 1 der 2. DB) oder in
einem durch § 1 Abs. 2 der 2. DB gleichgestellten Betrieb - betriebliche Voraussetzung – (vgl. BSG 31. März 2004, B
4 RA 31/03 R, v. in juris). Die vom BSG entwickelten Grundsätze zu den Voraussetzungen eines solchen fiktiven
Anspruchs sind allerdings nur anwendbar, wenn diese im Einzelfall am 30. Juni 1990 gegeben waren (vgl. BSG 26.
Oktober 2004, B 4 RA 40/04 R, SozR 4-8570 § 1 Nr. 7). Diese Stichtagsregelung verstößt nicht gegen
Verfassungsrecht (vgl. BVerfG 26. Oktober 2005, 1 BvR 1921/04, SozR 4-8560 § 22 Nr. 1).
Die o. g. Voraussetzungen lagen am 30. Juni 1990 nicht vor. Zwar erfüllte die Klägerin die persönliche Voraussetzung,
denn sie war seit 3. Juli 1974 berechtigt, die Berufsbezeichnung Ingenieur zu führen. Ingenieure sind in § 1 Abs. 1
Satz 1 der 2. DB ausdrücklich genannt.
Aber die sachliche Voraussetzung war am 30. Juni 1990 nicht gegeben, denn die Klägerin übte im streitigen Zeitraum
keine ihrer Berufsbezeichnung entsprechende Tätigkeit aus. Nach eigener Angabe war sie beim VEB Verpackung L
im März 1990 zum 31. März 1990 gekündigt worden und hat spätestens ab 1. April 1990 nicht mehr dort gearbeitet.
Dies wird bereits dadurch deutlich, dass sie lediglich die Anerkennung von Beschäftigungszeiten bis zum 31. März
1990 beantragt hat.
Ob die Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses beim VEB Verpackung L nach § 54 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1
Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16. Juni 1977 (AGB) rechtmäßig war, kann hier dahin gestellt bleiben. Denn selbst
wenn das Arbeitsverhältnis bei rechtswidriger Kündigung durch den Betrieb fortbestanden hätte, liegt die sachliche
Voraussetzung am 30. Juni 1990 nicht mehr vor. Maßstab für die Frage, ob die sachliche Voraussetzung der VO
AVItech auch vorliegt, wenn am 30. Juni 1990 das Arbeitsverhältnis zwar fortbesteht, eine Arbeit aber nicht verrichtet
wird, sind die zu Bundesrecht gewordenen, am 1. August 1991 geltenden leistungsrechtlichen Regelungen der
Versorgungssysteme und die sonstigen zu Bundesrecht gewordenen abstrakten-generellen Regelungen, die von den
zuständigen Rechtssetzungsorganen der DDR in der vorgesehenen Form getroffen worden sind, wobei für das
Sprachverständnis dieser Texte auf den staatlichen Sprachgebrauch der DDR am 30. Juni 1990 abzustellen ist (vgl.
BSG 13. Dezember 2005, B 4 RA 3/05 R, v. in juris). Den zu Bundesrecht gewordenen, am 1. August 1991 geltenden
Bestimmungen der Verordnung zur Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten vom 17. November 1977 (SVO),
an welche die VO AVItech ergänzend anknüpft (§ 1 VO AVItech), lässt sich jedoch entnehmen, dass auch im
Sprachgebrauch der DDR bei einer Nichtverrichtung der Arbeit zwischen sozialpflichtversicherungsschädlichen und
sozialpflichtversicherungsunschädlichen Tatbeständen unterschieden wurde (vgl. BSG, a. a. O.). Während der Dauer
eines Arbeitsrechtsverhältnisses waren nach §§ 278 Abs. 1 Satz 1 AGB, 2 Abs. 1 Satz 1 SVO alle Werktätigen bei
der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten pflichtversichert. Das Sozialpflichtversicherungsverhältnis
begann demnach mit der Aufnahme der Arbeit und endete, wenn sämtliche Rechtsbeziehungen des Werktätigen zur
Sozialpflichtversicherung erloschen waren, in der Regel mit dem Tod (vgl. BSG, a. a. O.). Eine länger andauernde
Nichtverrichtung der Arbeit, u. a. eine unbezahlte Freistellung der Werktätigen von der Arbeit für länger als 3 Wochen,
führte gemäß § 4 Satz 1 SVO zu einer Unterbrechung der Pflichtversicherung. Eine solche Unterbrechung ist im Falle
des Beschäftigungsverhältnisses der Klägerin eingetreten. Denn sie hat in der Zeit seit dem 1. April 1990 kein Gehalt
mehr bezogen. Es ist davon auszugehen, dass jedenfalls übereinstimmend eine unbezahlte Freistellung auf
unbestimmte Zeit vereinbart worden ist. Denn der Betrieb war, wie die Klägerin selbst schildert, aufgrund
zusammengebrochener Auftragslage an einer Weiterbeschäftigung der Klägerin nicht interessiert. Die Klägerin selbst
ist gegen die (möglicherweise) rechtswidrige Kündigung nicht vorgegangen, woraus zu erkennen ist, dass auch sie mit
einer unbezahlten "Freistellung" einverstanden war.
Mithin war das Sozialpflichtversicherungsverhältnis gemäß § 4 Satz 1 SVO ab Beginn der Freistellung, also ab 1.
April 1990, unterbrochen. Fortsetzungstatbestände im Sinne von § 3 SVO lagen nicht vor. Damit hat die Klägerin am
30. Juni 1990 keine ihrer Berufsbezeichnung entsprechende Tätigkeit mehr ausgeübt und erfüllte die sachliche
Voraussetzung der VO AVItech nicht.
Die Tatsache, dass nach § 2 Abs. 3 der 2. DB die Versorgungsanwartschaft erhalten blieb, wenn innerhalb eines
Jahres wieder eine Beschäftigung bei einem VEB aufgenommen wurde, führt entgegen der Ansicht der Klägerin zu
keinem anderen Ergebnis, denn sie hat nach dem 31. März 1990 bis zum 30. Juni 1990 keine solche Beschäftigung
wieder aufgenommen. Nachdem nach der Rechtsprechung des BSG ausschließlich an die relevanten Fakten
anzuknüpfen ist, dass heißt an die Texte der Versorgungsordnungen und die Durchführungsbestimmungen, ist eine
Auslegung oder Erweiterung dieser Texte unzulässig (vgl. BSG 9. April 2002, B 4 RA 41/01 R). Der Einigungsvertrag
hat grundsätzlich nur die Übernahme zum 3. Oktober 1990 bestehender Versorgungsansprüche und -anwartschaften
von "Einbezogenen" in das Bundesrecht versprochen und Neueinbeziehungen ausdrücklich verboten (Nr. 9 Buchst a
Satz 1 Halbsatz 2 Einigungsvertrag und § 22 Abs. 1 Rentenangleichungsgesetz). Das Verbot der Neueinbeziehung
aufgrund von "DDR-Versorgungsregelungen" ist verfassungsgemäß (vgl. BSG a. a. O.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).