Urteil des SozG Landshut vom 14.10.2010

SozG Landshut: arzneimittel, behandlung, therapie, label, krankenkasse, versorgung, medikament, ivf, gemeinschaftspraxis, konsens

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 14.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 1 KR 252/09
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch auf Kostenerstattung für das von der Klägerin selbst beschaffte Arzneimittel "Granocyte®"
(Wirkstoff Lenograstim) in Höhe von 1.262,97 Euro.
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin beantragte am 09.04.2009 unter Vorlage entsprechender Verordnungen der
Gemeinschaftspraxis für Hormonstörungen und Kinderwunsch Prof. Dr. S., Priv.Doz. Dr. M. B.-P. bei der Beklagten
die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Granocyte®. Die Klägerin habe insgesamt vier gescheiterte IVF- und
ICSI-Behandlungen hinter sich und einen Kryozyklus mit missed abortion. Nach immunologischer Abklärung sei eine
Therapie mit Granocyte® für sinnvoll gehalten worden; es bestehe jetzt eine Frühschwangerschaft.
Gestützt auf eine Stellungnahme des MDK Bayern vom 08.06.2009 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die
beantragte Kostenübernahme nicht erfolgen könne. Das Arzneimittel Granocyte® sei für die in Frage stehende
Indikation nicht zugelassen. Die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aufgestellten Voraussetzungen
für einen sogenannten off-label-use seien nicht erfüllt, zumindest genüge die wissenschaftliche Datenlage nicht den
Kriterien dieser Rechtsprechung. Im Widerspruchsverfahren nahm der MDK Bayern am 24.07.2009 erneut Stellung.
Es liege zwar eine Fertilitätsstörung vor. Die bei den immunologischen Untersuchungen gefundenen Auffälligkeiten
bedürften jedoch außerhalb der Behandlung der Fertilitätsstörung keiner spezifischen Therapie. Das Vorliegen einer
lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung im Sinne der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei nicht erkennbar. Mit Bescheid vom 29.07.2009
(Widerspruchsbescheid vom 11.11.2009) lehnte die Beklagte den Kostenerstattungsantrag endgültig ab.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Diese wurde mit Schriftsatz vom 11. Januar 2010 im Wesentlichen
dahingehend begründet, dass für die bei der Klägerin festgestellte aloimmunologische Schwäche keine zugelassene
Behandlungsform in Deutschland bestehe. Internationale Erfahrungen hätten einen erheblichen Erfolg bei der
Behandlung mit Lenograstim von Frauen, bei denen die Gefahr eines Abortes aufgrund einer immunologischen
Abwehrreaktion besteht, bestätigt.
Infolge der ICSI/IVF-Therapie unter Einsatz des Medikamentes Granocyte® sei es zu der Geburt einer gesunden
Tochter am 29.11.2009 gekommen. Die Voraussetzungen für einen sogenannten off-label-use seien gegeben. Bei der
Klägerin liege eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vor; es
fehle eine vertretbare andere Behandlungsalternative; in einschlägigen Fachkreisen bestehe Konsens über den
voraussichtlichen Nutzen des zulassungsüberschreitenden Einsatzes.
In ihrer Klageerwiderung vom 21.01.2010 wies die Beklagte unter anderem darauf hin, dass eine Kostenerstattung
schon mangels Einhaltung des Beschaffungsweges nicht erfolgen könne. Die Antragstellung sei am 09.04.2009
erfolgt. Das erste Privatrezept für das streitige Medikament sei am 23.03.2009 ausgestellt und am gleichen Tag
eingelöst worden. Nach Aussage des MDK lägen keine ausreichenden Studien vor, die für eine Wirksamkeit des
streitigen Präparates bei der vorliegenden Indikation sprechen. Wenn keine ausreichende Datenlage bestehe, müsse
über einen Schutz des Embryo vor dem Gebrauch eines Medikamentes im off-label-use nachgedacht werden.
Mit weiterem Schriftsatz vom 05.02.2010 wurde von der Bevollmächtigten der Klägerin vorgetragen: Die Klägerin habe
sich schon in einer Kinderwunschbehandlung befunden und das Medikament unverzüglich ab Implantation der Eizelle
benötigt. Es sei ihr daher nicht möglich und zumutbar gewesen, den Zeitraum bis zur Entscheidung der Beklagten
abzuwarten.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin in den Antrag, die Bescheide
der Beklagten vom 22.06.2009 und 29.07.2009, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2009,
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 1.292,67 Euro als
Kostenerstattung für das Medikament Granocyte® zu zahlen.
Der Beklagtenvertreter stellte den Antrag, die Klage abzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den wesentlichen Inhalt der
beigezogenen Beklagtenakte, auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Niederschrift
über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die beklagte Krankenkasse hat die beantragte Kostenerstattung zu Recht
abgelehnt. Sie ist nicht verpflichtet, der Klägerin die Kosten des ihr auf Privatrezept verordneten und von ihr selbst
beschafften, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandten Arzneimittels Granocyte® zu
erstatten. Die Voraussetzungen des § 13 SGB V für einen Kostenerstattungsanspruch sind nicht erfüllt. Zwar hat die
Beklagte die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Arzneimittel abgelehnt, jedoch fehlt es an der Kausalität
zwischen der ablehnenden Entscheidung der Beklagten und dem Kostenaufwand der Klägerin. Die Klägerin hatte bei
der Beklagten noch keinen Antrag auf Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel gestellt, als sie sich im Rahmen
der IVF/ICSI-Behandlung in der Gemeinschaftspraxis Prof. Dr. S./Priv.Doz. Dr. B.-P. ab 23.03.2009 mit Granocyte®
behandeln ließ. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können Versicherte ausschließlich dann
Kostenerstattung nach § 13 Abs.3 Satz 1 Fall 2 SGB V für selbst beschaffte Leistungen verlangen, wenn die
Krankenkasse vor der Selbstbeschaffung über den Leistungsantrag entschieden hat (Urteil des Bundessozialgerichts
vom 14.12.2006, B 1 KR 8/06 R unter Aufgabe von BSG vom 28.09.1993 – 1 RK 37/92).
Auch wenn man jedoch mit der Bevollmächtigten der Klägerin davon ausgeht, dass eine Entscheidung der
Krankenkasse wegen Unaufschiebbarkeit im vorliegenden Fall entbehrlich war, kommt man zu keinem anderen
Ergebnis. Ein Erstattungsanspruch der Klägerin scheitert nämlich auch daran, dass die Ablehnung ihrer Versorgung
mit dem begehrten Arzneimittel nicht zu Unrecht erfolgt ist.
Nach den Feststellungen des MDK bestand aufgrund der konkreten Datenlage keine begründete Aussicht, dass mit
dem Arzneimittel Granocyte® der gewünschte Behandlungserfolg erzielt werden kann. Hinreichend sichere
wissenschaftliche Erkenntnisse lagen insoweit nicht vor. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des MDK vom
24.07.2009 verlief eine Literaturrecherche in der Datenbank Pubmed ergebnislos. Insofern ist mit der Beklagten davon
auszugehen, dass die Datenlage hinsichtlich des Evidenzniveaus nicht den Anforderungen der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts genügt. Dies gilt auch für das von der Klägerseite vorgelegte "abstract" über einen mündlichen
Vortrag in Barcelona im Juli 2008. Danach soll es laut einer Studie zwischen Januar 2000 und Juni 2006 am
Ungarischen Zentrum für Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, an der 68 Frauen mit wiederholtem spontanen
Abort teilgenommen haben, unter medikamentöser Behandlung mit Lenograstim bei 82% der Frauen zu einer
erfolgreichen Schwangerschaft gekommen sein, in der Vergleichsgruppe nur bei 48%. Ungeachtet der Frage, warum
der MDK bei seiner Internetrecherche nicht fündig geworden ist, reicht diese Studie nicht aus, einen 0ff-Label-
Gebrauch von Arzneimitteln zu rechtfertigen. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt die Verordnung eines
Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es 1. um die
Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der
Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden
kann. Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass
das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn –
entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen
Prüfung der Phase 3 (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit
respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen – oder außerhalb eines
Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des
Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und
aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten
Sinne besteht. Das von Klägerseite vorgelegte "abstract" erfüllt offenkundig nicht die von der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts aufgestellten Voraussetzungen.
Zu keinem anderen Ergebnis führt auch die grundrechtsorientierte Auslegung des SGB V, anknüpfend an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005. Sie setzt unter anderem voraus, dass eine
lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare
Erkrankung vorliegt. Daran fehlt es hier. Die bei der Klägerin vorliegende Fertilitätsstörung kann nicht mit einer
lebensbedrohlichen Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden. Mit dem Kriterium einer Krankheit, die mit einer
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine
strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die
Eröffnung des sogenannten off-labe-use formuliert ist (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.05.2009, B 1 KR
15/08 R).
Im Übrigen schließt sich die Kammer der zutreffenden Begründung im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom
11.11.2009 an; von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen (§ 136 Abs. 3 SGG).
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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