Urteil des SozG Landshut vom 02.02.2011

SozG Landshut: anrechenbares einkommen, lex specialis derogat legi generali, ausnahme, verwertung, blindheit, einkünfte, vorrang, bayern, öffentlich, bezirk

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 02.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 10 SO 36/09
I. Unter Abänderung des Bescheides vom 08.12.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.2009
wird der Beklagte verurteilt, dem Kläger Blindenhilfe nach § 72 SGB XII ohne Anrechnung des Landesblindengeldes
nach § 83 SGB XII zu zahlen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu ersetzen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Gewährung von Blindenhilfe gemäß § 72 SGB XII ohne dass im Rahmen der
Einkommensberechnung nach den §§ 82 ff. SGB XII das Landesblindengeld als anrechenbares Einkommen
berücksichtigt wird.
Der am ...1963 geborene Kläger ist blind. Der Kläger wohnt mit seiner Lebensgefährtin Frau B. H. zusammen in einer
Bedarfsgemeinschaft. Beide erhalten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der
Agentur für Arbeit S. Ferner bezieht der Kläger Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (sog.
Landesblindengeld). Das Landesblindengeld betrug gemäß Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom
09.07.2008 für die Zeit ab 01.02.2008 500,00 EUR monatlich und ab 01.07.2008 monatlich 505,00 EUR.
Mit Schreiben vom 14.05.2008 beantragte der Kläger beim beklagten Bezirk Niederbayern ergänzende Blindenhilfe
nach SGB XII. Die Blindenhilfe beträgt nach § 72 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bis 30.06.2004 für blinde Menschen, die das
18. Lebensjahr vollendet haben 585,- EUR monatlich. Die Blindenhilfe verändert sich jeweils zu dem Zeitpunkt und in
dem Umfang, wie sich der aktuelle Rentenwert in der gesetzlichen Rentenversicherung verändert. Bei isolierter
Anwendung des § 72 Abs. 1 SGB XII ergibt sich demnach für den Zeitraum 01.01.2008 bis 30.06.2008 eine
"aufgestockte Blindenhilfe" i.H.v. 88,16 EUR und für den Zeitraum ab 01.07.2080 i.H.v. 89,63 EUR.
Mit Bescheid vom 08.12.2008 gewährte der Beklagte ab 21.05.2008 bis auf weiteres eine Blindenhilfe jedoch nur in
folgender Höhe:
• anteilig 21.05.2008 bis 31.05.2008 in Höhe von monatlich 5,41 EUR • vom 01.06.2008 bis 30.06.2008 in Höhe von
monatlich 14,76 EUR und • ab 01.07.2008 bis auf weiteres in Höhe von monatlich 15,43 EUR.
Bei der Berechnung der "aufgestockten" Blindenhilfe nach § 72 SGB XII wurde insbesondere das Landesblindengeld
als Einkommen nach § 83 SGB XII berücksichtigt, so dass sich die Hilfebedürftigkeit des Klägers entsprechend
minderte. Bezüglich den sonstigen Berechnungen wird auf die Berechnungsblätter des Bescheids vom 08.12.2008
verwiesen (vgl. Blätter 47 ff. Beklagtenakte).
Am 15.12.2008 legte der Kläger gegen den Bewilligungsbescheid vom 08.12.2008 Widerspruch ein. Das
Landesblindengeld sei nicht nach § 83 Abs.1 SGB XII als Einkommen anzurechnen, da bei der Bundesblindenhilfe §
72 Abs.1 SGB XII als speziellere Anrechnungsvorschrift Vorrang habe. Mit dieser unmittelbaren Anrechnung des
Landesblindengelds im Rahmen des § 72 Abs. 1 Satz 1 SGB XII habe bereits eine Verwertung dieser Leistung
stattgefunden. Deshalb könne das Landesblindengeld nicht auch noch bei der Berechnung der Bedürftigkeit nach den
§§ 82 ff. SGB XII angesetzt werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.07.2009 wies die Regierung von Niederbayern den Widerspruch zurück.
Insbesondere dürfe bei der Zusammenstellung des Einkommens das Landesblindengeld berücksichtigt werden. Zum
Einkommen gehören nach § 82 Abs.1 SGB XII alle Einkünfte in Geld- oder Geldeswert mit Ausnahme einiger
ausdrücklich genannter Leistungen. Danach sei auch das Landesblindengeld Einkommen im Sinne des
Sozialhilferechts.
Am 13.08.2009 erhob der Kläger, vertreten durch den Bayer. Blinden- und Sehbehindertenbund e.V. (BBSB), Klage
zum Sozialgericht Landshut:
Unstrittig sei, dass es sich bei dem Landesblindengeld um eine zweckidentische Leistung wie bei der Blindenhilfe
nach dem § 72 SGB XII handle. Beide Leistungen dienen dem Ausgleich der durch die Blindheit bedingten
Mehraufwendungen und Benachteiligungen. Das Landesblindengeld sei jedoch nicht nach § 83 Abs.1 SGB XII als
Einkommen anzurechnen, da bei der Blindenhilfe § 72 Abs.1 SGB XII als Spezialvorschrift anzuwenden sei. Deshalb
betrage die ergänzende Blindenhilfe in Bayern auch maximal 88,16 bzw. 89,63 EUR (Differenzbetrag zwischen
Blindenhilfe und Blindengeld). Mit dieser unmittelbaren Anrechnung des Landesblindengeldes habe bereits eine
Verwertung dieser Leistungen stattgefunden. Wenn das Landesblindengeld aber schon bei der Höhe des Betrages der
Blindenhilfe in Abzug gebracht worden sei, könne es nicht auf der anderen Seite auch noch bei der Berechung der
Bedürftigkeit angesetzt werden. Durch die Anrechnung des Landesblindengeldes als Einkommen fände eine doppelte
Verwertung des Landesblindengeldes statt.
Der Kläger beantragt, den Bescheid des Bezirks Niederbayern vom 08.12.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.07.2009 aufzuheben und den Bezirk Niederbayern zu verurteilen, ihm ergänzende
Blindenhilfe nach § 72 SGB XII in voller Höhe des Aufstockungsbetrags von monatlich 88,16 EUR bzw. 89,63 EUR zu
gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Denn beim Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz handle es sich um eine zweckbestimmte Leistung nach §
83 Abs.1 SGB XII. Zuletzt habe das OVG Schleswig-Holstein mit Urteil vom 29.09.2004 – Az.: 2 LB 40/04 – diese
Rechtsauffassung bestätigt. Danach sei Zweckidentität von Landesblindengeld und Blindenhilfe nach § 72 Abs.1 SGB
XII gegeben. Es sei daher bei der Prüfung eines Anspruchs auf Blindenhilfe als Einkommen zu berücksichtigen. Der
Einwand des Klägers, das Landesblindengeld werde doppelt angerechnet, treffe nicht zu, da nur bei der Berechnung
der Höhe der ergänzenden Blindenhilfe nach § 72 SGB XII eine echte Anrechnung des Landesblindengeldes auf die
Blindenhilfe erfolge, während die Zuordnung des Landesblindengeldes zum Einkommen im Sinne der §§ 82 ff. SGB
XII nur erfolge um feststellen zu können, ob die nachfragende Person überhaupt sozialhilfebedürftig sei oder nicht und
ob und ggf. in welcher Höhe ein Einkommenseinsatz zugemutet werden könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den wesentlichen Inhalt der
beigezogenen Beklagtenakte, auf die im Klageverfahren zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie
auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 02.02.2011 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf eine aufgestockte Blindenhilfe nach § 72 SGB XII ohne die Anrechnung des
Blindengeldes nach dem Bayer. Blindengeldgesetz im Rahmen des § 83 SGB XII.
Die Gewährung von Blindenhilfe nach § 72 SGB XII gehört zum Bereich der Hilfe in anderen Lebenslagen, wie sie in
den §§ 70 bis 74 des SGB XII geregelt ist. Nach § 72 Abs.1 Satz 1 SGB XII wird blinden Menschen zum Ausgleich
der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen Blindenhilfe gewährt, soweit sie keine gleichartigen Leistungen
nach anderen Rechtsvorschriften erhalten. Gleichartig können andere Leistungen nur dann sein, wenn sie dazu
bestimmt sind, die durch die Sehbeeinträchtigung bedingten Mehrausgaben auszugleichen. Zu den gleichartigen
Leistungen gehören vor allem solche nach den Landesblindengesetzen (hier: Bayer. Landesblindengesetz). Soweit
das Landesblindengeld nicht die Höhe der Blindenhilfe nach § 72 Abs.2 SGB XII erreicht, bleibt der Anspruch
gegenüber dem Sozialhilfeträger erhalten. Der Anspruch richtet sich auf den Betrag, um den das Landesblindengeld
die Blindenhilfe unterschreitet (vgl. hierzu Kaiser, in: Beck’scher Online-Kommentar, Stand 01.12.2010, § 72 SGB XII,
Rn. 5).
Die Gewährung der – aufgestockten – Hilfeleistung steht unter dem Vorbehalt des Nichtüberschreitens der
Einkommensgrenzen nach §§ 19 Abs.3, 85 ff. SGB XII. Dieser Einkommensgrenze ist das bereinigte Einkommen
gegenüber zu stellen. Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder
Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Buch, des befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II, der
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des
Bundesversorgungsgesetzes vorsehen und der Renten oder Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz für
Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem
Bundesversorgungsgesetz. Der Beklagte hat zwar zu Recht im Rahmen der Berechnung der Blindenhilfe nach § 72
SGB XII die an den Kläger und seine Lebensgefährtin geleisteten SGB-II-Leistungen (Regelsatz + Kosten der
Unterkunft) als Einkommen berücksichtigt (vgl. hierzu Lücking, in: Hauck/Noftz, SGB XII, 2008, § 82, Rn.10; § 83,
Rn.9). Entgegen der Auffassung des OVG Schleswig-Holstein (vgl. Urteil vom 29.09.2004 – Az.: 2 LB 40/04) zur
vergleichbaren Rechtslage des BSHG (vgl. §§ 67, 76 ff. BSHG) und der herrschenden Meinung in der Literatur (vgl.
Schlette in: Hauk/Nofz, SGB XII, 2010, § 72 Rn.14) ist nach Ansicht der Kammer das Landesblindengeld nicht als
anrechenbares Einkommen im Sinne der §§ 82, 83 SGB XII zu berücksichtigen. Das Blindengeld nach dem Bayer.
Blindengeldgesetz (GVBl 1995, 150) gehört zwar nach dem Wortlaut des § 82 Abs.1 SGB XII zum anrechenbaren
Einkommen. Wie oben ausgeführt gehören zum Einkommen nach § 82 Abs.1 Satz 1 alle Einkünfte in Geld oder
Geldeswert mit Ausnahme ausdrücklich genannter (öffentlich-rechtlicher) Leistungen. Diese Formulierung ist jedoch
nicht so umfassend zu verstehen, wie ihr Wortlaut nahelegt. (so zurecht bereits BVerwGE 90, 217 ff.), sondern im
Zusammenhang mit den systematischen und teleologischen Vorstellungen des Gesetzgebers zu lesen.
Nach § 83 SGB XII sind Leistungen, die auf Grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich
genannten Zweck gewährt werden, nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall dem
selben Zweck dient. Diese Zweckidentität von Landesblindengeld und Blindenhilfe hat zu Recht auch das OVG
Schleswig-Holstein in seiner Entscheidung vom 29.09.2004 – Az.: 2 LB 40/04 – bejaht. Das Landesblindengeld ist
eine den Zivilblinden als Hilfe zu ihrer sozialen Einordnung gewidmete Versorgungsleistung des Landes und tritt an die
Stelle der Blindenhilfe nach § 72 SGB XII. Damit wäre auch nach dem Wortlaut des § 83 SGB XII das
Landesblindengeld als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen (so ausdrücklich OVG Schleswig-Holstein,
a.a.O.).
Nach Auffassung der Kammer ist jedoch zu beachten, dass die §§ 72 und 83 SGB XII demselben Zweck dienen. Ziel
der Regelungen ist es jeweils, Mehrfachleistungen von Sozialleistungen zu verhindern, die in ihrer Zwecksetzung
identisch bzw. gleichartig sind (vgl. BVerwGE 88, 90; 92, 220, 225; BSGE 93, 290, 294 f.; LSG Baden-Württemberg
vom 21.09.2006 – Az.: L 7 SO 5514/05), wobei § 72 Abs.1 Satz 1 SGB XII eine spezielle Konkurrenzregelung für
Sozialleistungen normiert, die Blindheit bedingte Mehraufwendungen ausgleichen wollen, während § 83 SGB XII eine
allgemeine Vorschrift des Sozialhilferechts bezüglich der Einkommensberechnung ist. Eine kumulative Anwendung
beider Vorschriften zu Lasten des Hilfeempfängers ist nach den Grundsätzen lex specialis derogat legi generali (eine
spezielle Norm verdrängt die generelle, allgemeinere Norm) ausgeschlossen (vgl. allgemein zum
Spezialitätsgrundsatz im Rahmen von Normenkonkurrenzen, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991,
S. 266 ff.; Schmalz, Methodenlehre, 2. Auflage 1990, Rn.76). Ansonsten würde dies bei einer Folgebetrachtung zu
dem widersprüchlichen Ergebnis führen, dass der Kläger durch die Förderung aus zwei verschiedenen
Sozialleistungstöpfen (Bundes-Blindenhilfe nach § 72 SGB XII und Bayer. Landesblindengeld) schlechter gestellt
würde, als wenn kein Landesblindengeld – also nur eine Sozialleistung – gezahlt würde. Ein Ergebnis, das
schlechterdings nicht gewollt sein kann und auch im Widerspruch zu § 2 Abs.2 SGB I steht. Danach sind die sozialen
Rechte bei der Auslegung von Vorschriften und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist insbesondere
sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Danach stellt z.B. eine generell
restriktive, z.B. in erster Linie aus finanziellen, haushaltsmäßigen Erwägungen geleitete Handhabung des SGB XII
einen Verstoß gegen § 2 Abs. 2 SGB I dar (vgl. ausführlich hierzu auch Seewald, in: Kasseler Kommentar,
Sozialversicherungsrecht, Mai 2006, SGB I, § 2 Rn. 10 ff.).
Die kumulative Anwendung von § 72 Abs.1 Satz 1 SGB XII und von § 83 SGB XII führt über das oben dargestellte
Doppelleistungsverbot hinaus, weil nicht nur die doppelte Auszahlung gleichartiger, zweckidentischer Leistungen
verhindert wird, sondern über den Überschneidungsbereich hinaus eine echte Leistungskürzung erfolgt.
Auch das LSG Baden-Württemberg betont im Urteil vom 21.09.2006 – Az.: L 7 SO 5514/05 – den Vorrang der
Anrechnungsregel des § 72 SGB XII. Im Leitsatz dieser Entscheidung heißt es wörtlich:
"Die Bundesblindenhilfe ist aufstockend zu gewähren, soweit die Höhe der Landesblindenhilfe die Beträge des § 72
Abs.2 SGB XII nicht erreicht. Weitergehende Anrechnungen zwischen den Leistungsarten sind ausgeschlossen."
Im Übrigen bestehen bezüglich der im Bescheid vom 08.12.2008 erfolgten Berechnung der aufgestockten Blindenhilfe
nach § 72 SGB XII keine schwerwiegenden Bedenken. Da jedoch nach Auffassung der Kammer das
Landesblindengeld nicht als Einkommen im Sinne von § 83 SGB XII zu berücksichtigen ist, ist der Bescheid vom
08.12.2008 entsprechend zu ändern und der Widerspruchsbescheid vom 15.07.2009 aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193 SGG.
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