Urteil des SozG Landshut vom 04.06.2009

SozG Landshut: krankenkasse, freiwillige versicherung, mitgliedschaft, erwerbsfähigkeit, krankenversicherung, erwerbsunfähigkeit, versicherungspflicht, verwaltungsakt, sozialhilfe, versicherter

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 04.06.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 1 KR 172/08
I. Unter Aufhebung des Bescheides vom 21.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2008 wird
festgestellt, dass der Kläger ab 07.01.2008 freiwilliges Mitglied der Beklagten geworden ist.
II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger zum 07.01.2008 freiwilliges Mitglied der beklagten Krankenkasse
geworden ist.
Der 1961 geborene Kläger, der an einer psychischen Erkrankung leidet, lebte bis zum 24.10.2007 in Polen. Dort
bekam er Sozialhilfe wegen Erwerbsunfähigkeit. Am 25.10.2007 siedelte er nach Deutschland über und stellte Antrag
auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid
der Agentur für Arbeit, P., vom 15.11.2007 wurden ihm Leistungen für die Zeit vom 25.10.2007 bis 31.03.2008
bewilligt. Aufgrund des Bezugs von Alg II war der Kläger bei der Beklagten krankenversichert.
Nach Untersuchung des Klägers durch den ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit, P., stellte der Gutachter Dr. K. mit
ärztlichem Gutachten vom 20.12.2007 fest, dass aufgrund einer langjährigen chronischen Erkrankung des Klägers auf
neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet, die bisher weder medikamentös noch durch stationäre
Behandlungsmaßnahmen beeinflusst werden konnte, Arbeitsfähigkeit innerhalb der nächsten sechs Monate nicht
erreicht werden könne. Vielmehr sei damit zu rechnen, dass der Kläger auf Dauer für übliche Arbeitnehmertätigkeiten
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreichend belastbar sei.
Mit Schreiben vom 14.01.2008 hob die Agentur für Arbeit, P., hierauf die Entscheidung über die Bewilligung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Wirkung vom 07.01.2008 auf. Grund dafür sei
der Wegfall der Erwerbsfähigkeit. Damit endete auch die Pflichtversicherung bei der beklagten Krankenkasse.
Mit Schreiben vom 07.01.2008 stellte der Kläger, vertreten durch seine Betreuerin, bei der Beklagten einen Antrag zur
freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Beklagte lehnte diesen Antrag am 21.02.2008 ab, da der Kläger die
Vorversicherungszeit nicht erfüllt habe. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, im Wesentlichen mit der
Begründung, er sei in der Vergangenheit bei einer polnischen gesetzlichen Krankenkasse versichert gewesen. Im
Nachtrag zum Widerspruch wurde dann auch ein Versicherungsnachweis (E 104) einer polnischen Krankenkasse
vorgelegt, worin die Mitgliedschaft des Klägers vom 01.01.1999 bis 31.12.2007 bestätigt wurde. Der Widerspruch
wurde mit Widerspruchsbescheid vom 05.06.2008 zurückgewiesen: Aufgrund des vorliegenden Krankheitsbildes sei
davon auszugehen, dass bereits am 25.10.2007 keine Erwerbsfähigkeit vorgelegen habe. Die Zeit des Bezugs von
Alg II könne nicht berücksichtigt werden, da die Leistungen wegen der Erwerbsunfähigkeit zu Unrecht bezogen worden
seien. Laut Rundschreiben Nr.69/2000 EWG der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland (DVKA)
käme eine freiwillige Krankenversicherung nach dem Ausscheiden aus einem ausländischen
Krankenversicherungssystem nur dann in Betracht, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt vorher bereits einmal eine
Krankenversicherung bei einer deutschen gesetzlichen Krankenkasse bestanden habe. Diese Voraussetzung sei hier
nicht erfüllt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung wurde von der
Prozessbevollmächtigten des Klägers u.a. ausgeführt: Durch die Mitgliedschaft in der gesetzlichen polnischen
Krankenkasse habe der Kläger grundsätzlich die vorgeschriebene Vorversicherungszeit erfüllt. Der Kläger sei auch im
Zeitraum vom 25.10.2007 bis 06.01.2008 in Deutschland gesetzlich krankenversichert gewesen. Der Bescheid der
Agentur für Arbeit, P., vom 15.11.2007 begründe die Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges unabhängig davon, ob die
Voraussetzungen für die Leistung nach dem SGB II tatsächlich vorgelegen haben. Das Gesetz räume den
Krankenkassen auch kein eigenes Prüfungsrecht in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Leistungen nach dem SGB II
ein.
Nach Ansicht der Beklagten bestehen Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung E 104. Dies ergebe sich schon
daraus, dass in diesem Formblatt eine Versicherungszeit des Klägers vom 01.01.1999 bis 31.12.2007 in Polen
bestätigt wird; der Versicherungsschutz in Polen müsste aber bereits mit Übersiedlung des Klägers nach Deutschland
am 25.10.2007 geendet haben. Arbeitslosengeld II sei ab 25.10.2007 zu Unrecht bezogen worden. Diese Zeit könne
deshalb nicht auf die Vorversicherungszeit angerechnet werden. Der Bewilligungsbescheid vom 15.11.2007 sei
schlichtweg falsch. Es könne nicht sein, dass es der Willkür eines Sachbearbeiters obliege, die Krankenkassen mit
Krankheitskosten zu belasten und die Sozialhilfeverwaltungen zu entlasten; dies führe zu einem Missbrauch.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellte die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Antrag, den Bescheid der
Beklagten vom 21.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2008 aufzuheben und
festzustellen, dass der Kläger seit 07.01.2008 bei der Beklagten gemäß § 9 Abs.1 Nr.1 SGB V freiwillig
krankenversichert ist.
Die Beklagtenvertreterin stellte den Antrag, die Klage abzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den wesentlichen Inhalt der
beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Agentur für Arbeit, P., auf die im Klageverfahren zwischen den
Beteiligten gewechselten Schriftsätzen sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21.01.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 05.06.2008 ist aufzuheben. In der Sache ist festzustellen, dass der Kläger ab
07.01.2008 freiwilliges Mitglied der beklagten Krankenkasse geworden ist.
1. Gemäß § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V können der Versicherung Personen beitreten, die als Mitglieder aus der
Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate
oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens 12 Monate versichert waren. Zeiten der
Mitgliedschaft nach § 189 SGB V und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb nicht bestanden hat, weil Alg
II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt. Nach § 188 Abs.2 Satz 1 SGB V beginnt die Mitgliedschaft
der in § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V genannten Versicherungsberechtigten mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus
der Versicherungspflicht. Der Beitritt ist schriftlich zu erklären (§ 188 Abs.3 SGB V) und der Krankenkasse innerhalb
von drei Monaten anzuzeigen (§ 9 Abs.2 Nr.1 SGB V).
2. Der Kläger hat durch seine form- und fristgerechte Erklärung vom 07.01.2008 wirksam eine freiwillige Mitgliedschaft
bei der Beklagten begründet. Er war in der Zeit vom 25.10.2007 bis 06.01.2008 aufgrund des Bezugs von
Arbeitslosengeld II nach § 5 Abs.1 Nr.2a SGB V pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Der freiwillige Beitritt ist
der Beklagten fristgerecht angezeigt worden.
3. Der Kläger hat auch die gesetzlich vorgeschriebene Vorversicherungszeit nach § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V
erfüllt. Er war vom 01.01.1999 bis zu seiner Ausreise nach Deutschland Mitglied einer gesetzlichen polnischen
Krankenkasse. Dies bestätigt der Versicherungsnachweis E 104 der polnischen Krankenkasse N. F. Z. vom
04.03.2008. Der Umstand, dass der Kläger nach diesem Versicherungsnachweis noch bis zum 31.12.2007 in der
polnischen Krankenkasse versichert war, obwohl er bereits am 25.10.2007 nach Deutschland übersiedelte, begründet
keine Zweifel an der Richtigkeit dieses Nachweises dem Grunde nach. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass in Polen
das Krankenversicherungssystem anders ablaufen kann als üblicherweise in Deutschland oder der Kläger aufgrund
eines Irrtums der polnischen Krankenkasse noch bis zum 31.12.2007 dort gesetzlich versichert war.
4. Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass zu keinem Zeitpunkt vorher eine Krankenversicherung
bei einer deutschen gesetzlichen Krankenkasse bestanden habe (wie es im Rundschreiben Nr.69/2000 vom
18.12.2000 der DVKA verlangt wird). Der Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit, P., vom 15.11.2007 bestimmt
weiterhin die unmittelbaren leistungsrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen dem Kläger und der Agentur für Arbeit,
P., nach dem SGB II und begründet die Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges bis 06.01.2008 (vgl. Urteil des
Bundessozialgerichts vom 24.06.2008 B 12 KR 29/07 sowie B 12 KR 1/08).
5. Ein eigenes Prüfungsrecht der Beklagten, ob Alg II zu Unrecht bezogen wurde, besteht nicht. Die Krankenkassen
dürfen nicht eigenständig die materielle Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges überprüfen, sondern sind an
Leistungsbewilligungen des nach dem SGB II zuständigen Trägers gebunden. Weder geben die Gesetzesbegründung
noch der Anlass der Gesetzesänderung etwas dafür her, dass den Krankenkassen ein eigenes Prüfungsrecht
hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges zustehen soll. Grundsätzlich gilt, dass innerhalb eines
gegliederten Sozialleistungssystems die anderen Träger die Regelungsbefugnis des zuständigen Trägers zu
akzeptieren haben. Soweit das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes anordnet, muss jeder Träger die
Entscheidung der anderen Träger respektieren und inhaltlich seinen Entscheidungen zugrunde legen (vgl. BSG SozR
3-2200 § 183 Nr.6; SozR 3-1300 § 86 Nr.3; Urteil des BSG vom 24.06.2008, B 12 KR 29/07 bzw. B 12 KR 1/08; Urteil
des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19.09.2007, L 11 KR 2/07). Die Gesetzesbegründung gibt keinen
Hinweis, dass im Rahmen des § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V von diesen Grundsätzen abgewichen werden sollte.
6. Auch die Änderung des § 44a SGB II mit Wirkung zum 01.08.2006 spricht dagegen, dass die Krankenkassen
eigenständig die Erwerbsfähigkeit als Leistungsvoraussetzung überprüfen dürfen. Sie haben nunmehr ebenfalls die
Möglichkeit, der Feststellung der Erwerbsfähigkeit durch die Agentur für Arbeit zu widersprechen und eine
Entscheidung der Gemeinsamen Einigungsstelle herbei zu führen. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird insoweit
berücksichtigt, dass von den finanziellen Folgen eines rechtswidrigen Bezugs von Arbeitslosengeld II aufgrund
fehlender Erwerbsfähigkeit auch die Krankenkassen betroffen sind (BT-Drs.16/1420 a.a.O.). Mit dieser
verfahrensrechtlichen Lösung wäre ein eigenes materielles Prüfungsrecht der Krankenkassen im Rahmen des § 9
Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V nicht vereinbar. Für eine Bindung der Krankenkassen an die Entscheidung des Trägers
nach dem SGB II (bzw. der Einigungsstelle) spricht schließlich noch, dass damit bei der Entscheidung über die
freiwillige Versicherung Auseinandersetzungen über die Richtigkeit der Entscheidung eines Leistungsträgers des SGB
II vermieden werden. Es wäre für die Betroffenen unzumutbar, wenn über längere Zeit der
Krankenversicherungsschutz ungeklärt bliebe (vgl. Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19.09.2007
a.a.O.).
7. "Zu Unrecht bezogen" im Sinne des § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 letzter Halbsatz SGB V hat ein Versicherter Alg II somit
nur dann, wenn die Bewilligung gemäß den §§ 45 ff. SGB X zurückgenommen, widerrufen oder aufgehoben worden
ist. In derartigen Fällen bleibt es zwar für die Vergangenheit bei der ursprünglich durch den Bezug von Alg II
begründeten Versicherungspflicht, doch folgt dann aus § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Halbsatz 2 SGB V, dass allein aus dem
ungerechtfertigten Bezug kein Recht auf eine freiwillige Fortsetzung der früheren, bestandsgeschützten Mitgliedschaft
besteht.
8. Der Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit, P., vom 15.11.2007 war auch nicht nichtig. Ein Verwaltungsakt ist
nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in
Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes muss sich
als Ausnahme von dem Grundsatz darstellen, dass ein Akt staatlicher Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich
trägt. Der dem Verwaltungsakt anhaftende Fehler muss diesen schlechterdings als unerträglich, d.h. mit tragenden
Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar erscheinen
lassen. Der Fehler muss zudem für einen verständigen Bürger offensichtlich sein (vgl. Urteil des BGH vom
14.06.2007, Az.: I ZR 125/04).
Allein der Umstand, dass der Kläger bereits bei der Stellung des Antrags auf Alg II angab, seiner Ansicht nach könne
er keine dreistündige Erwerbstätigkeit ausüben, begründet nicht einen offensichtlichen schwerwiegenden Fehler des
Bewilligungsbescheides. Zwar bekam der Kläger bereits in Polen Sozialhilfe wegen Erwerbsunfähigkeit, jedoch kann
daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass der Kläger auch erwerbsunfähig im Sinne des SGB II ist. Die in Polen
geltenden Kriterien für Erwerbsunfähigkeit können nicht einfach auf die im Rahmen des SGB II geltenden Grundsätze
übertragen werden. Folglich war die Agentur für Arbeit gehalten, die Erwerbsfähigkeit des Klägers im Rahmen des
SGB II erneut zu beurteilen. Dass die Agentur für Arbeit, trotz der entgegenstehenden Angaben des Klägers,
zunächst Arbeitslosengeld II gewährte, war keinesfalls willkürlich, sondern entspricht üblicher Verwaltungspraxis.
Danach ist Grundlage für eine Entscheidung im Regelfall nicht die Selbsteinschätzung des Antragstellers zu seinem
Leistungsvermögen, sondern die gutachterliche Feststellung des aus ärztlicher Sicht vorhandenen
Leistungsvermögens.
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG entspricht der Entscheidung in der Hauptsache.
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