Urteil des SozG Landshut vom 17.11.2006

SozG Landshut: ärztliche verordnung, krankenpflege, aussichtslosigkeit, meinung, form, versorgung, offenkundig, kontrolle, verfügung, niedersachsen

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 17.11.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 10 KR 13/05
I. Unter Abänderung der Bescheide vom 10.09.2003, 03.12.2003, 07.06.2004, 18.06.2004 und 23.09.2004, jeweils in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.01.2005, sowie unter Abänderung der Bescheide vom 03.01.2005
und 30.03.2005, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2005, wird die Beklagte verurteilt, die
der Klägerin ab 22.09.2003 bereits bewilligte Behandlungspflege im Umfang von 4 bzw. 8 Stunden täglich mit einem
Stundensatz von 28,00 Euro zu vergüten.
II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sowie Gerichtskosten in Höhe von 300,00
Euro zu tragen.
Tatbestand:
Streitig ist der Stundensatz für die der Klägerin bewilligte Behandlungspflege.
Bei der 1999 geborenen Klägerin bestehen u.a. folgende Gesundheitsstörungen: Zustand nach peripartaler Asphyxsie,
Anfallsleiden, schwere mentale und statomotorische Retardierung, Tetraspastik, Niereninsuffizienz, Harn- und
Stuhlinkontinenz. Sie ist auf ständige Sauerstoffgabe angewiesen und mit einer PEG-Sonde versorgt. Abgesehen von
Zeiten erforderlicher Krankenhausbehandlung wird sie zu Hause gepflegt. Nach dem SGB XI ist Pflegestufe III
anerkannt.
Seit 14.08.2003 wird der Klägerin durchgehend Behandlungspflege (Medikamentengabe, Intensivpflegeleistungen,
Kontrolle der Vitalfunktionen, Sauerstoffgabe, Monitoring, PEG-Pflege) verordnet, zunächst vier Stunden täglich,
später acht Stunden täglich. Der zeitliche Umfang der Behandlungspflege ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Die
häusliche Krankenpflege wird von S. H., außerklinische Kinder- und Intensivpflege, zu einem Stundensatz von 28,00
Euro erbracht. Die Beklagte beteiligt sich an den Kosten der Behandlungspflege nur in Höhe von 162,24 Euro
kalendertäglich. Sie ist der Auffassung, dass Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung von der Pflegekasse
zu übernehmen und deshalb von Leistungen der Krankenkasse abzuziehen sei. Ihrer Berechnung legte die Beklagte
den im Gutachten des MDK zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI angenommenen Zeitbedarf für
Grundpflege von täglich 397 Minuten zugrunde, errechnete hieraus einen Zeitanteil von 27,57 % (bezogen auf 1440
Minuten/Tag) und kürzte dementsprechend den Stundensatz von 28,00 Euro auf 20,28 Euro. Unter
Berücksichtigungen der Leistungen der Pflegekasse in Höhe von kalendertäglich 47,73 Euro (Höchstbetrag 1.432,00
Euro monatlich) verbleibt ein Differenzbetrag von kalendertäglich 14,03 Euro bzw. monatlich 420,80 Euro. Der nicht
gedeckte Betrag ist nach Meinung der Beklagten entweder von der Klägerin bzw. ihren Eltern oder gegebenenfalls
vom Träger der Sozialhilfe zu finanzieren (Bescheide vom 10.09.2003, 03.12.2003, 07.06.2004, 18.06.2004,
23.09.2004, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.01.2005; Bescheide vom 03.01.2005 und
30.03.2005, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2005).
Sowohl gegen den Widerspruchsbescheid vom 11.01.2005 als auch gegen den Widerspruchsbescheid vom
19.05.2005 wurde form- und fristgerecht Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben. Die beiden Verfahren wurden
durch Beschluss der Kammer zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Bereits mit Beschluss vom 09.11.2004 (S 4 KR 237/04 ER) hatte das Sozialgericht Landshut die (damalige)
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der (damaligen) Antragstellerin häusliche
Krankenpflege im Umfang von acht Stunden täglich zu einem Stundensatz von 28,00 Euro bis 31.12.2004 zu
gewähren. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde wurde durch Beschluss des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 16.03.2005 (L 4 B 23/05 KR ER) zurückgewiesen. Der Senat führte dabei in den
Entscheidungsgründen im Wesentlichen aus: Die von der Antragsgegnerin vorgenommene Kürzung des
Stundensatzes von 28,00 Euro auf 20,28 Euro sei nicht gerechtfertigt. Die Antragsgegnerin ignoriere, dass tatsächlich
acht Stunden Behandlungspflege verordnet und notwendig seien. Es sei aus keiner ärztlichen Stellungnahme
ersichtlich, dass - wie bei einer 24-Stunden-Behandlungspflege - es zu Zeiten der Überlappung von Behandlungs- und
Grundpflege komme. Dies wäre aber Voraussetzung für eine anteilsmäßige Kürzung, die ihrerseits den Zeitbedarf
(Stundenzahl) beträfe, nicht aber das Honorar für den Leistungserbringer.
Am 04.05.2005 ging ein erneuter Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Landshut
ein. In der Begründung wurde mitgeteilt, dass die Antragsgegnerin sich weiterhin weigere, die ärztlich verordnete
Behandlungspflege zu einem Stundensatz von 28,00 Euro zu vergüten.
Durch die erkennende Kammer wurde daraufhin mit Beschluss vom 19. Juli 2005 die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin häusliche Krankenpflege im Umfang von acht Stunden täglich
zu einem Stundensatz von 28,00 Euro bis zur Entscheidung des Hauptsacheverfahrens in der ersten Instanz zu
gewähren, soweit eine entsprechende ärztliche Verordnung vorgelegt wird. Diese Entscheidung wurde rechtskräftig.
Im Klageverfahren wiederholten die Beteiligten ihre bereits in dem Verfahren auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes ausgetauschten Standpunkte. Auf die dortigen Ausführungen wird Bezug genommen. Darüber hinaus
trug die Beklagte im Schriftsatz vom 28.02.2005 vor: Es erscheine lebensfremd, anzunehmen, dass in der Zeit, in
welcher der Pflegedienst anwesend ist, nur behandlungspflegerische Maßnahmen anfallen. Vielmehr könne davon
ausgegangen werden, dass auch grundpflegerische Verrichtungen durchzuführen sind und dann auch vom
Pflegedienst durchgeführt werden. Im vorliegenden Fall sei damit ebenfalls eine Anwendung der mit Urteil des
Bundessozialgerichts vom 28.01.1999 (B 3 KR 4/98 R) aufgestellten Grundsätze, d.h. Quotelung der Stunden (!),
angebracht. Im Übrigen gereiche die Berechnungsweise der Beklagten der Klägerin zum Vorteil, schließlich werde
seitens der Beklagten die Stunde lediglich in Grund- und Behandlungspflege aufgeteilt, die "sonstige Zeit" bleibe
unberücksichtigt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Antrag, die Beklagte unter
Aufhebung der Bescheide vom 10.09.2003, 03.12.2003, 07.06.2004, 18.06.2004 und 23.09.2004, jeweils in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 11.01.2005, sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 03.01.2005 und
30.03.2005, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2005, zu verurteilen, der Klägerin für die
Zeit ab 22.09.2003 die bereits bewilligte Behandlungspflege von vier bzw. acht Stunden täglich mit einem
Stundensatz von 28,00 Euro zu vergüten.
Der Beklagtenvertreter stellte den Antrag, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen Bezug genommen auf den wesentlichen Inhalt der
beigezogenen Akten S 4 KR 237/04 ER und S 10 KR 106/05 ER, auf den Beschluss des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 16.03.2005 (L 4 B 23/05 KR ER), auf die im Klageverfahren gewechselten Schriftsätze
sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch in vollem Umfang begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, die der Klägerin verordnete
und von ihr auch in Anspruch genommene häusliche Krankenpflege im Umfang von vier bzw. acht Stunden täglich mit
28,00 Euro pro Stunde zu vergüten. Die Kürzung des Stundensatzes auf 20,28 Euro ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten.
Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 37 Abs.2 SGG. Die Beklagte beruft sich für ihre Entscheidung zu Unrecht
auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.01.1999 (B 3 KR 4/98 R). In der damaligen Entscheidung ging es um
einen Versicherten, bei dem Behandlungspflege rund um die Uhr, d.h. 24 Stunden täglich, notwendig war. Dass sich in
einem solchen Fall Grund- und Behandlungspflege zeitweise überschneiden, ergibt sich aus den Gesetzen der Logik.
Dementsprechend war es im dortigen Fall auch gerechtfertigt, aus der 24stündigen Behandlungspflege einen Zeitanteil
Grundpflege herauszurechnen. Der vorliegende Fall ist damit nicht zu vergleichen. Bei der Klägerin sind "lediglich"
acht Stunden Behandlungspflege notwendig, somit stehen - rechnerisch und tatsächlich - 16 Stunden pro Tag für
hauswirtschaftliche Versorgung und grundpflegerische Leistungen zur Verfügung. Aus welchen Gründen die Beklagte
bei der geschilderten Situation glaubt, annehmen zu müssen, in jeder Stunde Behandlungspflege sei jeweils auch ein
(fiktiver) Grundpflegeanteil von 27,57 % enthalten, war für die Kammer nicht nachvollziehbar. Nach der Vorstellung der
Kammer leistet der Pflegedienst entweder Behandlungspflege oder Grundpflege, nicht aber beides gleichzeitig. Dass
beide Leistungen im Regelfall durch dieselbe Pflegekraft erbracht werden, ändert nichts an der rechtlichen und
tatsächlichen Abgrenzbarkeit der beiden Leistungsarten.
In Anbetracht der nach Auffassung der Kammer eindeutigen, klaren Rechtslage erübrigen sich weitere Ausführungen.
Der zeitliche Umfang der vom Arzt jeweils verordnete Behandlungspflege ist zwischen den Beteiligten ohnehin
unstreitig. Dass der Pflegedienst S. H. auf vertraglicher Grundlage seine Leistungen erbringt, steht ebenfalls außer
Frage.
Dem Klageantrag war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den § 193 Abs.1 SGG und - soweit der Beklagten Gerichtskosten auferlegt wurden
- auf § 192 Abs.1 Satz 1 Ziffer 2 SGG. Nach dieser Vorschrift kann Mißbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung bereits
dann vorliegen, wenn trotz offensichtlicher Aussichtslosigkeit und entsprechendem Hinweis des Vorsitzenden der
Rechtsstreit fortgeführt wird. Anders als ihre Vorgängervorschrift § 192 SGG a.F., die auch die Fortführung eines
objektiv offensichtlich aussichtslosen Verfahrens nur bei subjektiver Kenntnis der Aussichtslosigkeit sanktionierte,
ermächtigt § 192 Abs.1 Satz 1 Nr.2 SGG n.F. Gericht bereits dann zur Auferlegung von Verschuldenskosten, wenn
die Fortführung des Rechtsstreits sich objektiv als offenkundig aussichtslos darstellt und der Beteiligte hierüber und
über die mögliche Kostenfolge in der vorgeschriebenen Form belehrt worden ist (vgl. Landessozialgericht
Niedersachsen Bremen, Urteil vom 16.12.2003, Az.: L 9 U 67/01).
Die Beklagte hat den Rechtsstreit fortgeführt, obwohl der Vorsitzende ihrem Vertreter im Termin zur mündlichen
Verhandlung die Mißbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung dargelegt und auf die Möglichkeit der Auferlegung von
Kosten bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen hat. Die Beklagte ist vom Vorsitzenden - auch unter Hinweis
auf die eindeutigen Ausführungen des Bayerischen Landessozialgerichts im Beschluss vom 16. März 2005 -
unmißverständlich darauf hingewiesen worden, dass sie eine positive Entscheidung nicht erhalten könne. Von Seiten
des Beklagtenvertreters wurde lediglich darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der Beklagten das Urteil des
Bundessozialgerichts vom 28.01.1999 (a.a.O.) ihre Rechtsauffassung stütze. Wenn ein Beteiligter auf seinem
Standpunkt beharrt, ohne diese weiter begründen zu können und ohne sich noch berechtigte Hoffnungen auf für ihn
günstigen Ausgang des Rechtsstreits machen zu können, so nimmt er die kostenfreie Sozialgerichtsbarkeit nach
Meinung des Gerichts mißbräuchlich in Anspruch. In Anbetracht des Aufwands für das Absetzen des Urteils sowie die
anteilige Arbeit der Schreibkanzlei und der Geschäftsstelle war nach Auffassung der Kammer eine Kostenbeteiligung
in Höhe eines Betrages von 300,00 Euro gerechtfertigt.
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