Urteil des SozG Landshut vom 14.02.2006

SozG Landshut: blindheit, verlust des sehvermögens, teleologische auslegung, grammatikalische auslegung, demenz, pflegepersonal, anerkennung, anspruchsvoraussetzung, mitarbeit, meinung

Sozialgericht Landshut
Urteil vom 14.02.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 15 BL 3/03
I. Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 11.07.2001 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.01.2003, bei der Klägerin ab 28.06.2002 Blindheit nach dem Bayerischen
Blindengeldgesetz anzuerkennen und entsprechende Leistungen zu gewähren.
II. Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2003 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 19.08.2003 ab dem 28.06.2002 die Voraussetzungen für das Merkzeichen "BL"
anzuerkennen.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 8/10.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten steht in Streit, ob bei der Klägerin ab 01.01.2001 die Voraussetzungen für die Gewährung
von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz vorliegen und ob ab diesem Zeitpunkt auch die
Voraussetzungen für das Merkzeichen "BL" anzuerkennen sind.
Bei der 1936 geborenen Klägerin traten etwa ab 1990 Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit ein begleitet von
zunehmenden Sehstörungen. Diagnostiziert wurde eine "präsenile Alzheimer-Erkrankung", die innerhalb weniger Jahre
zur schweren Pflegebedürftigkeit führte. Bereits ab 01.04.1995 bezog die Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe III.
Ab 16.12.1998 wurde ihr Ehemann, J. F., als Betreuer für die Klägerin bestellt. Seit etwa 1990 musste der Ehemann
die Klägerin bei den alltäglichen Verrichtungen unterstützen und pflegte sie insgesamt 12 Jahre lang. Als der
Pflegeaufwand schließlich nicht mehr zu Hause zu bewältigen war, wurde die Klägerin ab 01.03.2001 im S. H. in L.
untergebracht und betreut. Am 30.01.2001 stellte der Betreuer einen Antrag beim Beklagten auf Gewährung von
Blindengeld.
Im vom Beklagten eingeholten Befundbericht des Bezirksklinikums L. vom 13.03.2001 wird erwähnt als Diagnose eine
schwere Demenz vom Alzheimer-Typ mit frühem Beginn. Die kraniale Computertomographie vom 17.01.2001 ergab
eine globale Hirnatrophie. Im durchgeführten augenärztlichen Konzil vom 25.01.2001 wurde festgestellt eine
Amaurose, d.h. eine totale Erblindung mit Ausfall sämtlicher optischer Funktionen, bei der jegliche Lichtempfindung
aufgehoben ist (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, S.53). Im Übrigen fand sich ein "Fundus
skleroticus, eine ausreichend scharf begrenzte Papille, Makulae altersentsprechend, Gefäße sklerotisch verändert".
Aussagen zum Hörvermögen der Klägerin fanden sich im vorgenannten Bericht des Bezirkskrankenhauses L. vom
13.03.2001 nicht.
Zunächst veranlasste der Beklagte eine Begutachtung der Klägerin durch den Augenarzt Dr. K. Dieser erläuterte im
Gutachten vom 06.06.2001, dass bei der Klägerin eine augenärztliche Anamnese nicht erhebbar sei und die
Sehschärfe mangels Fähigkeit zur Mitarbeit nicht messbar sei. Er stellte folgende augenärztliche Diagnosen:
"Kataracta senilis, zarte Makulanarben, Gefäßsklerose, fortgeschrittene Demenz". Der Versorgungsarzt Dr. W. führte
in seiner Stellungnahme vom 04.07.2001 aus, dass Blindheit bei der Klägerin nicht unter Vollbeweis nachzuweisen
sei, weil hierfür eine ausreichende Aufmerksamkeitsleistung erforderlich sei.
Demzufolge lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11.07.2001 die Gewährung von Blindengeld ab. Der Betreuer legte
hiergegen mit Schreiben vom 24.07.2001 Widerspruch ein. Der Widerspruchsbegründung vom 06.12.2001 wurden
Befundberichte des Neurologen Dr. S. vom 17.10.2001 und des Internisten Dr.H. vom 24.09.2001 beigelegt. Der
Neurologe Dr. S. beschreibt ein Augenöffnen auf Ansprache, eine kortikale Blindheit, sowie eine Sprachverarmung mit
nur noch geringen verbalen Automatismen, wobei jedoch der emotionale Gehalt der Sprachmelodie erfasst werde und
beantwortet werde. Der Internist Dr. H. führte am 24.09.2001 aus, dass er von einem beidseitigen kompletten Verlust
des Sehvermögens ausgehe.
Im Anschluss daran wurde ein augenfachärztliches Gutachten der Augenklinik R. von Prof.Dr. M. eingeholt. Prof.Dr.
M. stellte einen Verlust der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit fest: Die Klägerin reagiere weder auf große Objekte,
noch auf leuchtende Reizmarken. Visuelle Reize würden zu keinen Augenfolgebewegungen und Blickzielbewegungen
führen. Der Lidschlussreflex auf visuelle Drohgebärden könne optisch nicht ausgelöst werden, nur durch einen starken
Luftstoß. Während visuelle Reize nicht zu reproduzierbaren Verhaltensweisen führen würden, sei die Klägerin dennoch
in der Lage, auf akustische Reize, wenn auch stereotyp, so doch reproduzierbar, zu reagieren. Auf Ansprache ihres
Ehemannes antworte die Klägerin regelmäßig mit "ja". Dies sei ein Hinweis darauf, dass bei ihr eine primäre
Einschränkung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit auf der Ebene der sekundären Sehrinde (Erkennen von
strukturierten Reizen) bzw. höher gelegener visueller Zentren (Störung des Assoziationskortex) vorliege, die geeignet
sei, Blindheit zu begründen.
Der Versorgungsarzt Dr. W. vertrat in seiner Stellungnahme vom 14.11.2002 die Auffassung, dass über das
Gutachten des Prof. M. Blindheit im Sinne des Bayer. Blindengeldgesetzes nicht zu begründen sei (auch nicht über
das durchgeführte Blitz- bzw. Kontrast-VECP). Auch die Versorgungsärztin Dr. P. teilte diese Auffassung in ihrer
Stellungnahme vom 04.12.2002. Da die Klägerin alle kognitiven Fähigkeiten eingebüßt habe, zu keinerlei
Kontaktaufnahme mehr in der Lage sei und Sinnesmodalitäten generell nicht mehr nachprüfbar seien, mache auch die
Durchführung einer neuropsychologischen Untersuchung wenig Sinn. Der Einschätzung der Versorgungsärzte folgend
wies der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 21.01.2003 den Widerspruch der Klägerin zurück.
Hiergegen legte der Betreuer mit Schreiben vom 24.02.2003, eingegangen beim Sozialgericht Landshut am
25.02.2003 Klage ein. Am 22.09.2003 wurde zusätzlich Klage eingelegt gegen den Bescheid des Beklagten vom
03.02.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2003, in welchem im Rahmen des
Schwerbehindertenverfahrens das Merkzeichen "BL" abgelehnt wurde. Das damit zusammenhängende Streitverfahren
S 15 SB 504/03 wurde mit Beschluss vom 17.05.2004 mit dem hier vorliegenden Streitverfahren verbunden.
Das Sozialgericht Landshut hat Beweis erhoben durch Einholung eines neuroradiologischen Gutachtens von Dr. S. B.
aus P. Diesem wurden auch zahlreiche radiologische Aufnahmen des Schädels der Klägerin zur Auswertung
vorgelegt. Dr. B. stellte einen fortgeschrittenen atrophen Hirnsubstanzverlust mit regionären Akzentuierungen
insbesondere in den Schläfen- und Hinterhauptslappen des Gehirns fest. Die graue Hirnsubstanz sei global, u.a. auch
im Bereich der Sehrinde und des Kortex des Schläfenlappenkomplexes atrophiert. Die Regionen, die am Vorgang der
visuellen Wahrnehmung beteiligt seien, seien jedenfalls auch von dem Hirnabbauprozess mit betroffen. Es ergäben
sich zahlreiche Hinweise für eine kortikale Agnosie, insbesondere fehlende Reizantworten beim VECP, ein fehlender
optokinetischer Nystagmus, sowie unkorrigiertes Außenschielen.
Der im weiteren vom Sozialgericht Landshut beauftragte Augenarzt Dr. F. bestätigte Dr. B. insofern, als auch aus
seiner Sicht die höher gelegenen Zentren, die für die Auswertung der visuellen Signale verantwortlich sind, sowie die
Assoziativzentren temporal und frontal vom allgemeinen Hirnabbauprozess mit betroffen seien. Zu einem Blickkontakt
bzw. einer Blickfixation (reproduzierbar) sei die Klägerin nicht in der Lage. Eine Aussage über die Sehleistung könne
er aber nicht treffen, weil entsprechende Prüfungen im Hinblick auf die mangelnde Mitarbeit der Klägerin nicht
durchgeführt werden könnten. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.12.2005 geht Dr. F. davon aus, dass
auch die Sinneswahrnehmung "Hören" bei der Klägerin stark eingeschränkt sei. Die Pflegekraft, Frau L., die die
Klägerin mitbetreut, führte jedoch in ihrem Schreiben vom 28.11.2005 aus, dass sie davon ausgehe, dass die Klägerin
noch einigermaßen gut höre, lediglich sei eine Sprachverständigung kaum möglich. Frau L. wurde in der mündlichen
Verhandlung vom 14.02.2006 als Zeugin einvernommen.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 11.07.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.01.2003 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Blindengeld ab 01.01.2001
zu zahlen, desweiteren den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 03.02.2003 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 19.08.2003 zu verurteilen, bei der Klägerin das Merkzeichen "BL" anzuerkennen.
Der Vertreter des Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogenen Blindengeld- und
Schwerbehindertenakten des Beklagten, sowie die vorliegende Streitakte.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Klage ist zulässig. Das Sozialgericht Landshut ist zur Entscheidung über die ordnungsgemäß eingelegte Klage
(§§ 87, 90 und 92 SGG) sachlich und örtlich zuständig (§§ 51 und 57 SGG).
II.
Die Klage ist auch insofern begründet, als nach der Überzeugung der Kammer ab dem 28.06.2002 (Untersuchung bei
Prof. M.) die Voraussetzungen für die Anerkennung von Blindheit nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz unter
Vollbeweis nachgewiesen sind.
Blindheit liegt einerseits vor, wenn das Augenlicht vollständig fehlt (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten
aber auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass
sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind (Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG).
Nach der Überzeugung des Gerichts liegt bei der Klägerin eine Störung des Sehvermögens von einem solchen
Schweregrad vor, die der Herabsetzung der Sehschärfe auf maximal 1/50 gleichzuachten ist. Das Gericht stützt seine
Überzeugung auf das neuroradiologische Gutachten des Dr. B. vom 18.04.2005, das Gutachten des Prof. M. vom
21.10.2002, das hier im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann, sowie auf das Ergebnis der
Beweisaufnahme im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14.02.2006.
Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 31. Januar 1995 (Az: 1 RS 1/93) betont, dass man die
Gewährung von Blindengeld nicht auf diejenigen Fälle beschränken kann, in denen nachweislich zumindest Teile des
optischen Apparates (der Augen, der Sehnerven, der Sehbahnen und der Sehrinde in den Hinterhauptlappen des
Gehirns) weitgehend zerstört sind. Vielmehr kommt auch bei einer kombinierten Sehstörung, die sowohl auf einer
Schädigung des optischen Apparates, als auch auf cerebralen Verarbeitungsstörungen beruht, die Annahme einer der
Blindheit gleichzuachtenden Sehstörung nach Art.1 Abs.2 Nr.2 BayBlindG in Betracht (vgl. auch Entscheidung des
Bundessozialgerichts vom 26.10.2004, Az: B 7 SF 2/03 R).
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es für die Beurteilung der Blindheit auch nicht
maßgeblich darauf an, auf welchen Ursachen (ophtalmische oder cerebrale) die Störung des Sehvermögens beruht,
sondern auf den nachgewiesenen tatsächlichen Verlust der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit. Es kommt also darauf
an, ob der Betroffene praktisch nichts sehen kann, wenn also z.B. Störungen des Sehvermögens mit visuellen
Verarbeitungsstörungen in einer Weise zusammenwirken, dass die Störungen des Sehvermögens insgesamt in ihrem
Schweregrad einer Sehschärfenbeeinträchtigung von maximal 1/50 gleichzuachten sind. Ausgeschlossen ist die
Leistung von Blindengeld nur für diejenigen, die zwar optische Reize erkennen können, aber nicht in der Lage sind,
das Gesehene zu benennen und begrifflich richtig zuzuordnen (Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 31.
Januar 1995, Az: 1 RS 1/93).
Das Bundessozialgericht hat sich damit für eine Auslegung des Blindheitsbegriffs nach dem reinen Wortlaut der
gesetzlichen Regelung (Art.1 Abs.2 BayBlindG), der den Begriff der Blindheit nicht von seinen Ursachen abhängig
macht, entschieden (sog. grammatikalische Auslegung). Die Auslegung des Blindheitsbegriffs nach dem Sinn und
Zweck der Regelung (teleologische Auslegung) hat das Bundessozialgericht dagegen abgelehnt (Entscheidung des
Bundessozialgerichts vom 26.10.2004, Az: B 7 SF 2/03 R). Es kommt danach nicht darauf an, ob dem Betroffenen
nachweisbar blindheitsbedingte Mehraufwendungen entstehen. Dies ist nach Auffassung des Bundessozialgerichts
keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung für die Zahlung von Blindengeld.
In seiner Entscheidung vom 20.07.2005 hat das Bundessozialgericht allerdings - über den Wortlaut des Art.1 Abs.2
BayBlindG hinaus - eine weitere Anspruchsvoraussetzung gefordert, welche die Gewährung von Blindengeld
einschränkt: "Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen
eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit
führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker
betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten". (BSG, Entscheidung vom 20.07.2005 Az: B 9a BL 1/05
R). In dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall handelte es sich um ein cerebral schwer geschädigtes Kind,
das visuell nur auf den Wechsel von hell/dunkel reagierte. Aus Videosequenzen, auf denen der Kläger im besagten
Fall zu sehen war, hat das Berufungsgericht dessen Unfähigkeit zur optischen Wahrnehmung bei weitgehend
erhaltenem Tastsinn und Gehör festgestellt.
Die Kammer sieht keinen Grund, den vorliegenden Fall anders zu behandeln: Es besteht für die Kammer kein Zweifel,
dass bei der Klägerin eine visuelle Agnosie im Sinne eines "Nicht-Erkennen-Könnens" vorliegt. Dies hat bereits Prof.
M. in seinem Gutachten vom 21.10.2002 festgehalten, indem er darauf hinwies, dass bei der Klägerin visuelle Reize
keine reproduzierbaren Verhaltensweisen erzeugen können. So führen visuelle Reize nicht zu Augenfolgebewegungen
und nicht zu Blickzielbewegungen. Selbst der Lidschlussreflex kann auf visuelle Drohgebärden nicht ausgelöst
werden, lediglich durch einen entsprechend starken Luftstoß. Prof.Dr. M. geht davon aus, dass neben der sekundären
Einschränkung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit durch die Demenz auch eine primäre Einschränkung der
visuellen Wahrnehmungsfähigkeit vorliegt, die durch einen neurogenen Abbau der sekundären Sehrinde und höher
gelegener visueller Zentren zu erklären ist. Dr. B. bestätigt in seinem neuroradiologischen Gutachten vom 18.04.2005
einen massiven und fortschreitenden Abbau der Hirnsubstanz u.a. auch im Bereich der Sehbahn und der
Assoziativzentren, sowie anderer höher gelegener visueller Zentren. Seiner Aussage nach sind im vorliegenden Fall
die essentiellen Hirnareale die ein Erkennen und eine Integration der Wahrnehmungsobjekte in ein sinnvolles
Wahrnehmungskonzept erst ermöglichen, durch die Alzheimer-Erkrankung geschädigt.
Auch Dr. F. bestätigt im Ergebnis, dass auch die Sehbahn in den generalisierten Hirnabbauprozess mit einbezogen
ist, sieht sich aber trotz fehlender reproduzierbarer Blickfixation der Klägerin nicht in der Lage, Aussagen zur visuellen
Wahrnehmungsfähigkeit der Klägerin zu treffen. Demgegenüber maßt er sich die rein ins juristische Fachgebiet
fallende Bewertung an, dass die bei der Klägerin vorliegende Störung des "Erkennens und Benennens" nicht Blindheit
im Sinne des Bayerischen Blindengeldgesetzes sei, was nicht sein gutachterlicher Auftrag war. Das Gutachten des
Dr. F. konnte aufgrund dieser gravierenden Mängel im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung nicht verwertet werden.
Die Kammer ist nach der Beweisaufnahme vom 14.02.2006 auch davon überzeugt, dass bei der Klägerin eine
spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, d.h. dass andere Sinneswahrnehmungen (wie das Hören,
Tastempfinden oder Schmecken) weit weniger eingeschränkt sind als das "Sehen". Nach Aussagen des Ehemannes
und Betreuers der Klägerin, J. F., der täglich etwa sechs bis sieben Stunden bei der Klägerin verbringt, ist ihm die
Kommunikation mit ihr gut möglich. Auf Fragen antwortet sie ihm mit "Ja" oder "Nein". Vor den Augen der Kammer
hat Herr F. mit der Klägerin gesprochen und sagte "Jetzt trinken wir etwas". Daraufhin hat die Klägerin getrunken. Er
hat gefragt: "Ist es jetzt wieder gut?" und sie hat mit "Ja" geantwortet. Der Ehemann fragte sie dann: "Mama, hast du
Hunger?". Sie sagte "Nein".
Der Ehemann sagte aus, dass nicht nur er, sondern auch das Pflegepersonal und die beiden Töchter gut mit der
Klägerin kommunizieren können. Sie spricht auch die Namen der beiden Töchter aus. Ihr Tastsinn ist gut ausgeprägt,
sie hat mehrere Kuscheltiere, sowie einen Massageball und einen Gummiring, nach denen sie greift und mit denen sie
Übungen macht. Nach Einschätzung des Ehemannes kann die Klägerin auch schmecken. Bei ihren Lieblingsspeisen
werde der Teller geleert und es laufe ihr nichts aus dem Mund.
Die Zeugin H. L., die zum Pflegepersonal der Klägerin zählt, konnte die Aussagen des Ehemannes weitgehend
bestätigen. Auch sie redet mit der Klägerin, bekommt jedoch nicht immer sinnvolle Antworten. Sie meint, nur wenn die
Klägerin gut drauf sei, könne das "Ja" auch wirklich ein "Ja" bedeuten. Die Klägerin bemerkt nach Aussagen der
Zeugin L. eindeutig, wenn jemand das Zimmer betritt, dann wird sie unruhig und erwartungsvoll. Wenn sie etwas nicht
mag, z.B. das Waschen mit einem Waschlappen, so reagiert sie auch teilweise mit einem vehementen "Nein" und
wehrt sich körperlich. Sie kann auch noch Worte sagen wie "Freilich" oder "Gute Nacht" oder "Pfüa Gott". Sie
antwortet damit manchmal auch auf eine Verabschiedung oder Begrüßung.
Sowohl der Ehemann als auch die Zeugin L. sagten übereinstimmend aus, dass die Klägerin laute Veranstaltungen
nicht ertrage, weil sie hier sehr nervös wird und zu schreien anfängt. Lärm nimmt die Klägerin damit eindeutig war.
Der Kammer genügte der Eindruck, den die Richter durch den Augenschein des persönlichen Erscheinens der
Klägerin gewinnen konnten. Auf die Einholung eines neuropsychologischen Gutachtens wurde bewusst verzichtet,
weil es zur Grobdifferenzierung der Sinneswahrnehmungen der Klägerin nach Meinung der Kammer keines geschulten
medizinischen Sachverstandes bedarf. Detaillierte wissenschaftliche Testverfahren dürften bei der stark
eingeschränkten geistigen Leistungsfähigkeit der Klägerin auch nicht aussagekräftig sein. Auch in dem Präzedenzfall,
den das Bundessozialgericht am 20.07.2005 entschieden hat (Az: B 9a BL 1/05 R) wurde ohne Einholung eines
neuropsychologischen Gutachtens eine Bewertung der Sinneswahrnehmungen anhand von Videosequenzen durch die
Richter vorgenommen. Das Bundessozialgericht hat in der Nichteinholung eines neuropsychologischen Gutachtens
keinen Verfahrensfehler gesehen.
Den Vollbeweis dieser Tatsache und auch den Vollbeweis der visuellen Agnosie sieht die Kammer erst mit der
Untersuchung der Klägerin bei Professor M. am 28.06.2002 als gegeben an. Vor diesem Zeitpunkt liegen lediglich
solche ärztliche Befunde vor, die zwar auf den Verlust der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit hinweisen, aber nicht auf
die Unterschiedlichkeit der Sinneswahrnehmungen eingehen. So geht aus dem Bericht des Bezirkskrankenhauses L.
vom 13.03.2001 beispielsweise nur der Verlust der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit hervor, dagegen nicht, inwieweit
die Klägerin noch zu anderen Sinneswahrnehmungen in der Lage war. Auch das Gutachten des Dr. K. vom
06.06.2001 führte diesen Punkt nicht weiter. Dagegen hat Prof. M. eindeutig darauf hingewiesen, dass die Klägerin auf
akustische Reize in reproduzierbarer Weise reagiert. Auch dort antwortete sie auf Ansprache des Ehemannes mit
"Ja". Bereits ab diesem Zeitpunkt ist also schon die Unterschiedlichkeit der Sinneswahrnehmungen nachgewiesen.
Aus den genannten Gründen war der Bescheid des Beklagten vom 11.07.2001 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.01.2003 aufzuheben und der Beklagte zu verurteilen, bei der Klägerin ab 28.06.2002
Blindheit nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz anzuerkennen. Dementsprechend war der Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2003 auch zu
verurteilen, ab dem 28.06.2002 die Voraussetzungen für das Merkzeichen "BL" anzuerkennen. Im Übrigen war die
Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Die Kostenquotelung, nach welcher der Beklagte die
außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 8/10 zu tragen hat, entspricht nach Auffassung der Kammer in etwa dem
Verhältnis des Obsiegens der Klägerin zu ihrem Unterliegen. Das Ziel des Klageantrags war die Gewährung von
Blindengeld ab 01.01.2001, nicht erst ab 28.06.2002. Nach Meinung der Kammer fällt dieser Aspekt aber bei der
Kostenquotelung nicht sehr ins Gewicht, zumal das zentrale klägerische Begehren, die Anerkennung von Blindheit
rückwirkend für einen beträchtlichen Zeitraum (ab 28.06.2002) erreicht wurde.
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