Urteil des SozG Köln vom 07.06.2004

SozG Köln: befreiung von der versicherungspflicht, beitragspflicht, private vorsorge, europäisches recht, wirtschaftliche tätigkeit, bfa, feststellungsklage, belastung, enkel, geschwister

Sozialgericht Köln, S 5 KR 322/03
Datum:
07.06.2004
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 5 KR 322/03
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
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Umstritten ist die Freistellung des Klägers vom Gesamtsozialversicherungsbeitrag
beziehungsweise die Verminderung der Beitragshöhe gemäß der Kinderzahl.
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Der 1954 geborene Kläger ist verheiratet und Vater dreier in den Jahren 1990, 1993 und
1996 geborener Kinder. Ab 1990 war er als angestellter Journalist beschäftigt. Nach
seinen eigenen Angaben betrug sein Monatsbruttoverdienst im Jahre 1997 5.000,- DM
nebst Sonderzahlungen. Für das Jahr 2003 hat er ein Jahresbruttoeinkommen von
33.400,- Euro angegeben. Seit 01.01.2004 ist der Kläger arbeitslos und bezieht
Arbeitslosengeld.
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Im Mai 1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten die umgehende Freistellung von
der Beitragspflicht zur Rentenversicherung. Die Beklagte vertrat damals die Auffassung,
über die Befreiung entscheide der zuständige Rentenversicherungsträger
(Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) und leitete den Antrag an diese weiter.
Bereits im März 1997 hatte der Kläger auch bei der BfA beantragt, auf die Erhebung von
Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu verzichten. Er meinte, bei
steigenden Beiträgen und sinkenden Leistungen sei private Vorsorge geboten, die sich
eine fünfköpfige Familie mit durchschnittlichem Einkommen nicht leisten könne. Durch
die Erziehung der Kinder trage er zudem zur Bestandssicherung der gesetzlichen
Rentenversicherung bei. Ausserdem sei die Generationengerechtigkeit nicht
gewährleistet. Mit Bescheid vom 31.07.1997 und Widerspruchsbescheid vom
10.02.1998 lehnte die BfA den Antrag ab, weil eine gesetzliche Grundlage zur Befreiung
von der Versicherungspflicht nicht bestehe und die Beitragspflicht zur gesetzlichen
Rentenversicherung nicht verfassungswidrig sei. Die Klage vor dem SG Köln (S 8 (6)
RA 295/97) und die Berufung vor dem LSG NW (L 3 RA 38/99) blieben erfolglos. Im
Revisionsverfahren (B 12 RA 7/01 R) wurden die Bescheide der BfA wegen der
alleinigen Zuständigkeit der Beklagten als Beitragseinzugsstelle aufgehoben, im
übrigen jedoch die Revison zurückgewiesen. Der Hilfsantrag auf Erstattung der
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Arbeitnehmeranteile zur gesetzlichen Rentenversicherung sei zu Recht von den
Instanzgerichten mangels Durchführung eines Verwaltungsverfahrens abgewiesen
worden.
Im Oktober 2003 beantragte der Kläger erneut und unter Hinweis auf sein Begehren
vom Mai 1997, ihn umgehend von der Beitragspflicht zur Rentenversicherung
freizustellen. Mit Bescheid vom 21.10.2003 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der
Kläger gegen Arbeitsentgelt beschäftigt und versicherungspflichtig in der
Rentenversicherung sei (§ 1 Nr. 1 SGB VI).
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Noch im Oktober 2003 legte der Kläger Widerspruch ein unter Hinweis auf seinen
ursprünglichen Antrag. Er verweigere die Beitragszahlung für die gesetzliche
Rentenversicherung und beantrage hilfsweise, ihn aus der gesetzlichen
Rentenversicherung zu entlassen oder von der Beitragspflicht zu befreien sowie die
bisher gezahlten Beiträge (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil zu erstatten). Als
unterhaltspflichtiger Vater von drei Kindern mache er die Beitragsäquivalenz seiner
Kindererziehungsleistungen geltend. Er stützte sich dabei auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 03.04.2001, welches sinngemäß auch auf die
gesetzliche Rentenversicherung anzuwenden sei. Den Widerspruch wies die Beklagte
mit Bescheid vom 26.11.2003 als unbegründet zurück. Am 29.12.2003 hat der Kläger
ausdrücklich Klage wegen Rentenversicherungsbeiträgen beim SG Köln erhoben und
zunächst die Befreiung von der Beitragszahlung zur Rentenversicherung unter
Aufhebung der Bescheide der Beklagten beantragt.
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Zur Begründung verweist der Kläger auf sein Vorbringen in den früheren Verfahren
gegen die BfA. Er meint, die Anrechnung von Erziehungszeiten sei zum Ausgleich der
Belastung Kindererziehender nicht geeignet. Die Stichtagsregelung zum 01.01.1992 sei
verfassungswidrig; eines seiner Kinder sei vor diesem Stichtag geboren. Aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom 03.04.2001 (1 BvR 1629/94) leitet er ab, dass die
Kindererziehung für umlagefinanzierte Systeme der Alterssicherung konstitutive
Bedeutung habe und den Geldbeiträgen gleichwertig sei. Zudem werde er durch
Steuerpflichten (Ökosteuer, Mehrwertsteuer) im Vergleich zu Kinderlosen
überproportional belastet. Die gesetzliche Rentenversicherung sei insgesamt
verfassungswidrig wegen steigender Beitragslasten und schwindender
Rentenanwartschaften. Ausserdem hält der Kläger Verstöße gegen europäisches Recht
für gegeben.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger beantragt,
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dass bei Weiterbestehen der Mitgliedschaft des Klägers in der gesetzlichen
Rentenversicherung und bei weiterem Aufbau von Rentenanwartschaften nach
Maßgabe des versicherten Arbeitsentgelts der seit August 1997 zu leistende
Gesamtsozialver- sicherungsbeitrag des Klägers wegen der Erziehung von drei Kindern
auf Null zu reduzieren ist, hilfsweise gemäß der Kinderzahl zu reduzieren ist.
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Nachträglich weist der Kläger daraufhin, dass er sich möglicherweise irrtümlich auf das
Jahr 1997 statt 1996 in seinem Antrag bezogen habe.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf die angefochtenen Bescheide und bindende gesetzliche Regelungen
über die Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist unzulässig soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals statt
der Rentenversicherungsbeiträge den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zur
Entscheidung stellt. In diese Klageänderung hat die Beklagte nicht eingewilligt; sie ist
auch nicht sachdienlich, denn die angefochtenen Bescheide betreffen ebenso wie das
Vorbringen der Beteiligten nur die Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung.
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Der geänderte Klageantrag ist bei verständiger Würdigung des gesamten
Klagevorbringens und Begehrens als Anfechtungs- und Feststellungsklage auszulegen.
Mit der Feststellungsklage begehrt der Kläger in erster Linie das Nichtbestehen der
Beitragspflicht gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Würde der Kläger nicht zusätzlich zu der
erstrebten Feststellung die Bescheide vom 21.10.2003 und 26.11.2003 anfechten,
stünde der erstrebten Feststellung ein den selben Gegenstand regelnder bindender
Verwaltungsakt bezüglich der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung
entgegen und die Klage wäre insoweit unzulässig (vergleiche BSG 15, 286; 70, 99). Für
die Zeit ab 01.01.2004 ist die Feststellungsklage allerdings als Popularklage nicht
zulässig. Nach § 170 Abs. 1 Nr. 2 b SGB VI trägt die Beiträge bei Beziehern von
Arbeitslosengeld (nur) der Leistungsträger. Ein eigenes berechtigtes
Feststellungsinteresse des Klägers besteht mangels eigener Pflicht zur (teilweisen)
Beitragstragung seitdem nicht mehr. Ob der Kläger als älterer Arbeitsloser noch einmal
eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen kann ist ungewiss; die
reine Möglichkeit reicht zur Begründung des Feststellungsinteresses nicht aus.
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Die Klage ist allein als Anfechtungs- und Feststellungsklage bezüglich der
Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum 31.12.2003 zulässig,
jedoch unbegründet. Für die Zeit bis 31.12.2003 war der Kläger auch nach seinen
eigenen Angaben versicherungspflichtig Beschäftigter gemäß § 1 Nr. 1 SGB VI. Seine
Beitragspflicht und diejenige des Arbeitgebers ergibt sich grundsätzlich aus § 168 Abs.
1 Nr. 1 SGB VI. Die grundsätzliche Beitragspflicht von Versicherten mit Kindern ist
ebenso wie in der sozialen Pflegeversicherung verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Im Urteil vom 03.04.2001 (1 BvR 1629/94) hatte das
Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers hervorgehoben, die es nicht zulasse, konkrete Folgerungen für die
einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu
verwirklichen ist, abzuleiten. Der Gesetzgeber bewegt sich innerhalb dieses
Spielraums, wenn er auch die Familien mit Beiträgen zur sozialen Pflegeversicherung
belastet. Nichts anderes gilt grundsätzlich für die Rentenversicherung.
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Auch wenn die Kindererziehung für die umlagefinanzierten Systeme der Alters-
sicherung konstitutive Bedeutung hat, führt dies nicht zur Gleichwertigkeit mit
Beitragszahlung in dem vom Kläger gewünschten Sinne des Wegfalls oder der
Minderung der Beitragspflicht. Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur
gesetzlichen Pflegeversicherung sind in Übereinstimmung mit der Entscheidung des
LSG NW vom 22.10.2001 (L 3 RA 38/99) und des LSG Baden-Württemberg vom
17.09.2002 (L 13 RA 890/02) nicht auf das Rentenversicherungsrecht übertragbar. Im
Gegensatz zur Pflegeversicherung als Risikoversicherung ist es im
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Rentenversicherungsrecht möglich, die Kindererziehung leistungsrechtlich durch
Anerkennung von Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten (§§ 56, 57
SGB VI) zu honorieren. Mit der Rechtsprechung der genannten Landessozialgerichte ist
davon auszugehen, dass der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag zur Beseitigung von
durch Kindererziehung bedingten Nachteilen bei der Altersversorgung in der
gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich erfüllt hat, indem er die
Kindererziehungszeiten für Kinder mit einem Geburtsdatum ab den 01.01.1992 auf drei
Jahre ausgedehnt hat und die Bewertung auf 100 Prozent des Durchschnittsverdienstes
angehoben hat (Bundesverfassungsgericht vom 29.03.1996 - 1 BvR 1238/95). Durch §
70 Abs. 3 a SGB VI ist der Familienlastenausgleich bei unterdurchschnittlichen
Verdiensten während der Kinderberücksichtigungszeiten und bei der nicht
erwerbsmäßigen Pflege eines pflegebedürftigen Kindes ausgebaut worden. Soweit der
Kläger die Stichtagsregelung zum 01.01.1992 für verfassungswidrig hält, ist diese Frage
allein im Zusammenhang mit der Bewertung der Kindererziehungszeiten in der
gesetzlichen Rentenversicherung zu klären und ändert nichts an der grundsätzlichen
Honorierung dieser Zeiten im Unterschied zur sozialen Pflegeversicherung.
Im übrigen hat das Bundsverfassungsgericht im Beschluss vom 09.12.2003 (1 BvR
558/99) in vergleichbarer Weise hervorgehoben, dass im Unterschied zur sozialen
Pflegeversicherung Erziehungsleistungen bei der Alterssicherung (für Landwirte nach
dem ALG) nicht unberücksichtigt geblieben sind, sondern sich für die Wartezeit
rechtsbegründend auswirkten. Darüberhinaus wirken sich die anrechenbaren Zeiten der
Kindererziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht nur rechtsbegründend,
sondern auch leistungserhöhend aus (vergleiche §§ 70 Abs. 2, 66 und 64 SGB VI).
Daneben ist der Unterschied zur sozialen Pflegeversicherung zu berücksichtigen,
welcher über den Rentenzweck der Alterssicherung hinaus noch Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit und Renten wegen Todes des Versicherten vorsieht. Von
der Waisenrente profitieren zeitnah die Kinder, Stiefkinder und Pflegekinder sowie
Enkel und Geschwister, die dem Haushalt des Verstorbenen angehörten. Auch dieses
besondere versicherte Risiko, welches bei kinderlosen Versicherten nicht in Betracht
kommt, stellt im Unterschied zur Pflegeversicherung einen Ausgleich dar.
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Soweit der Kläger eine überproportionale Belastung durch Mehrwert- und Ökosteuer
geltend macht, ist dieses Vorbringen im Gesamtzusammenhang des
Familienlastenausgleichs unmittelbar relevant für die Frage der Steuerfreistellung des
Existenzminimums von Kindern, nicht jedoch für die Frage der Beitragspflicht
beziehungsweise Beitragshöhe in der gesetzlichen Rentenversicherung. Soweit die
Bundeszuschüsse als Einnahmen der Rentenversicherung auch aus diesen Steuern
erbracht werden, ergibt sich keine unmittelbare Belastung des Klägers, sondern eine
grundsätzlich sachgerechte Entlastung durch entsprechend niedrigerer Beitragssätze.
Im übrigen mag der Kläger die von ihm geforderte Eigenverantwortung im
Zusammenhang mit einem "kinderlosen Lebensentwurf" zum Anlass nehmen, über
Konsumverzicht im Hinblick auf Öko- und Mehrwertsteuer nachzudenken. Seine
Einstellung zur Kinderlosigkeit verschweigt oder übersieht die Probleme der ungewollt
Kinderlosen in anmaßender Weise.
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Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Prüffrist des Gesetzgebers aus dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03.04.2001 erst Ende 2004 abläuft. Für den
zulässigerweise umstrittenen Zeitraum bis 31.12.2003 fehlt es an der zeitlichen
Kongruenz. Soweit der Kläger befürchtet, dass bei steigenden Beitragslasten seine
Rentenanwartschaften gleichzeitig schwinden, kann die Verfassungswidrigkeit der
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Beitragserhebung daraus nicht abgeleitet werden. Im Hinblick auf das derzeit geltende
Umlageverfahren mit Einnahmen der Rentenversicherung aus Beiträgen und
Bundeszuschüssen sind bereits unterschiedliche Wege erkennbar, einer Minderung der
künftigen Leistungen entgegenzuwirken. Zum Beispiel kommt insoweit neben der
Erhöhung des Beitragssatzes die Ausdehnung der beitragspflichtigen Einnahmen und
die Erhöhung der Bundeszuschüsse in Betracht. Bei den vielfältigen Möglichkeiten des
Gesetzgebers und in Folge fehlender Kenntnis der maßgeblichen Umstände zum
Zeitpunkt des Versicherungsfalles des Klägers in der Rentenversicherung wäre eine
Entscheidung des Gerichts zum jetzigen Zeitpunkt lediglich spekulativ.
Im übrigen verstößt das Beitragsrecht der gesetzichen Rentenversicherung nicht gegen
europarechtliche Vorschriften, weil das Gemeinschaftsrecht nicht auf die Existenz
öffentlicher Monopole der sozialen Sicherheit anzuwenden ist, soweit diese keine
wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Die gesetzliche Rentenversicherung ist kein
Unternehmen im Sinne Artikel 81 und 86 EGV.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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