Urteil des SozG Köln vom 25.10.2006

SozG Köln: aufschiebende wirkung, überwiegendes öffentliches interesse, anrechenbares einkommen, bestimmtheitsgrundsatz, verwaltungsakt, vollziehung, auflage, vollzug, interessenabwägung, hauptsache

Sozialgericht Köln, S 6 AS 218/06 ER
Datum:
25.10.2006
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 6 AS 218/06 ER
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 20 B 312/06 AS ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 18.04.2006 gegen
den Aufhebungs- und Erstattungs- bescheid vom 30.03.2006 wird
angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten
des Antragstellers.
Gründe:
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Der vom Antragsteller ausdrücklich gestellte Antrag, die Antragsgegnerin zu
verpflichten, die vom 02.10.2006 angekündigte Vollstreckung auszusetzen, ist als
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom
18.04.2006 gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom
30.03.2006 gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen.
Nach § 123 SGG, der auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gilt (vgl.
Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 123 Rn. 2),
ist das Gericht bei seiner Entscheidung nicht an die Fassung des Antrags gebunden.
Erforderlichenfalls ist das Rechtsschutzbegehren durch Auslegung des Antrags zu
ermitteln. Im Zweifel wird der Rechtsschutzsuchende den Antrag stellen wollen, der ihm
am Besten zum Ziel verhilft (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 123 Rn. 3). Der Antragsteller
möchte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erreichen, dass die
Antragsgegnerin Vollstreckungsmaßnahmen wegen der im Bescheid vom 30.03.2006
festgesetzten Erstattungsforderung von 446,00 Euro unterlässt. Mit dem Rechtsbehelf
nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, der gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGG
gegenüber dem Antrag auf einstweilige Anordnung vorrangig ist, kann der Antragsteller
dieses Rechtsschutzziel erreichen, denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
des Widerspruchs hätte zur Folge, dass die Antragsgegnerin aus dem Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 30.03.2006 keine für den Antragsteller nachteiligen
Folgerungen ziehen dürfte (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8.
Auflage 2005, § 86 a Rn. 5 m.w.N.) und Vollstreckungsmaßnahmen deshalb
unterlassen müsste.
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Der Antrag ist statthaft. Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch keine aufschiebende
Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung anordnen. Der Widerspruch vom 18.04.2006
hat nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 1 SGB II keine
aufschiebende Wirkung. Nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen gilt § 39 Nr. 1 SGB II auch für auf § 50 SGB X gestützte
Erstattungsbescheide, mit denen nach erfolgter rückwirkender Aufhebung der
Bewilligung ganz oder teilweise zu Unrecht gewährte Leistungen nach dem SGB II
zurückgefordert werden (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
19.07.2006, Az.: L 12 B 55/06 AS ER; Beschluss vom 31.03.2006, Az.: L 19 B 15/06 AS
ER; Beschluss vom 26.07.2006, Az.: L 20 B 144/06 AS ER). Dieser Auffassung schließt
sich die Kammer trotz erheblicher Bedenken und der von anderen
Landessozialgerichten mit beachtlichen Argumenten vertretenen Gegenauffassung an.
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Dem Antrag fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragsgegnerin
mittlerweile durch Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 über den Widerspruch des
Antragstellers entschieden hat. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung anzuordnen,
zielt grundsätzlich darauf ab, diese Entscheidung für die Dauer des gesamten
Verfahrens bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der angegriffenen
Verwaltungsentscheidung zu erreichen. Das entspricht dem Interesse an effektivem
Rechtsschutz. Dementsprechend war bereits in der Rechtsprechung zur Vorläufer-
Regelung in § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bis zur Schaffung von §
80 b VwGO durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 01.12.1996 (BGBl. I 1626)
anerkannt, dass die durch Beschluss angeordnete aufschiebende Wirkung bis zum
Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts andauert, wenn das Gericht sie nicht
befristet (vgl. BVerwGE 78, 192, 208). Dem stimmte die Literatur zu (vgl. z.B. Kopp,
VwGO, 10. Auflage, § 80 Rn. 34). An diese Rechtslage hat der Gesetzgeber mit der
Schaffung von § 86 b SGG angeknüpft, ohne die Regelung des § 80 b VwGO zu
übernehmen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs kann damit auch noch
nach Erlass des Widerspruchsbescheids angeordnet werden. Die Anordnung der
aufschiebenden Wirkung erfasst dann auch die später erhobene Anfechtungsklage (vgl.
zum ganzen Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.01.2005, Az.:
L 2 B 9/03 KR ER). Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird durch § 86 b Abs. 3 SGG,
wonach die Anträge nach § 86 b Abs. 1 und Abs. 2 schon vor Klageerhebung zulässig
sind, bestätigt.
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Der Antrag ist auch begründet. Die nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zu treffende
Entscheidung steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt auf der Grundlage einer
Interessenabwägung. Abzuwägen ist zwischen dem privaten Interesse des
Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss
des Verfahrens verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interessen der Verwaltung
an der Vollziehung der Bescheide. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt den
Erfolgsaussichten in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu. Ergibt eine
summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der angefochtene
Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, ist die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs anzuordnen, da ein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht bestehen kann (vgl. Keller, a.a.O., § 86 b
Rn. 12 c). Erweist sich demgegenüber der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung
als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der
Vollziehung des Verwaltungsakts, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die
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die Aussetzung der Vollziehung ausnahmsweise geboten erscheinen lassen. Nach
diesen Grundsätzen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn der
Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 30.03.2006 ist
offensichtlich rechtswidrig.
Es kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen der für die im Bescheid vom 30.03.2006
erfolgte Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 06.05.2005 für die Zeit vom
01.04.2005 bis 30.09.2005 allein in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des
§ 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt sind. Die Entscheidung über die
Aufhebung der Bewilligung ist jedenfalls mangels hinreichender Bestimmtheit
rechtswidrig.
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Gemäß § 33 Abs. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich bestimmt sein. Für
Aufhebungsbescheide bedeutet dies, dass sich aus dem Bescheid für den Adressaten
klar und unzweideutig ergeben muss, welcher Verwaltungsakt, insbesondere welcher
Verfügungssatz, ab wann und in welchem Umfang aufgehoben werden soll (vgl.
Bundessozialgericht, Urteil vom 30.03.2004, Az.: B 4 RA 26/02 R). Diesen
Anforderungen genügt die im Bescheid vom 30.03.2006 erfolgte Aufhebung des
Bewilligungsbescheids vom 06.05.2005 nicht. Es kann dahinstehen, ob dies bereits
deshalb gilt, weil die Antragsgegnerin in den Verfügungssatz des Aufhebungsbescheids
vom 30.03.2006 aufgenommen hat, dass sie den Bewilligungsbescheid vom 06.05.2005
"für die Zeit vom 01.04.2005 bis 30.09.2005" teilweise aufhebe, obwohl die von der
Antragsgegnerin als Einkommen im Sinne von § 11 SGB II bewertete
Einkommensteuererstattung dem Antragsteller im Monat Juli 2005 zugeflossen ist und
die Antragsgegnerin dementsprechend nach ihren weiteren Ausführungen im
Verfügungssatz des Bescheids vom 30.03.2006 auch nur für den Monat Juli 2005 eine
Überzahlung von SGB II-Leistungen in Höhe von 446,00 Euro angenommen hat. Der
Aufhebungsbescheid vom 30.03.2006 verstößt jedenfalls deshalb gegen den
Bestimmtheitsgrundsatz, weil weder aus dem Ausgangsbescheid noch aus dem
Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 ersichtlich wird, in welchem Umfang der
ursprüngliche Bewilligungsbescheid für das jeweilige Mitglied der aus dem
Antragsteller, seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Sohn bestehenden
Bedarfsgemeinschaft aufgehoben wird.
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Nach ganz herrschender Meinung handelt es sich bei den Ansprüchen der zu einer
Bedarfsgemeinschaft gehörenden Hilfebedürftigen nach dem SGB II um
Individualansprüche. Einen irgendwie gearteten Gesamtanspruch der
Bedarfsgemeinschaft gibt es nicht, da die Bedarfsgemeinschaft als solche nicht
Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten und damit noch nicht einmal
teilrechtsfähig ist (vgl. dazu ausführlich Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil
vom 09.05.2006, L 10 AS 102/06; Brühl in LBK-SGB II § 7 Rn. 33; Spellbrink in:
Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 21). Die Bewilligungsbescheide nach den SGB II sind
dementsprechend gesetzeskonform dahingehend auszulegen, dass sie (jedenfalls)
jeweils gesonderte Regelungen im Sinne von § 31 SGB X (Verfügungssätze)
hinsichtlich der dem jeweiligen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zustehenden
individuellen Leistungsansprüche enthalten. Dass dies aus den
Bewilligungsbescheiden der Antragsgegnerin regelmäßig nicht eindeutig und klar
hervorgeht, ist auch unter Bestimmtheitsgesichtspunkten unschädlich, da es insoweit
um Regelungen zu Gunsten der Antragsteller geht und sich die Höhe des individuellen
Leistungsanspruchs aus den den Bescheiden beigefügten Berechnungsbögen ermitteln
lässt. Ob darüber hinaus die Bewilligungsbescheide der Antragsgegnerin eine
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Regelung im Sinne von § 31 SGB X im Hinblick auf die den Mitgliedern der
Bedarfsgemeinschaft monatlich zustehende Gesamtsumme der Leistungen enthält,
braucht hier nicht entschieden zu werden. Aus der Notwendigkeit der individuellen
Regelung der Leistungsansprüche der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft folgt
jedenfalls, dass auch die Aufhebung einer Leistungsbewilligung individualisiert zu
erfolgen hat, denn der Aufhebungsbescheid ist als actus contrarius zum
Bewilligungsbescheid "das Spiegelbild" des Leistungsverhältnisses (vgl.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30.04.1992, Az.: 5 C 29/88; Verwaltungsgericht
Karlsruhe, Urteil vom 12.07.1999, Az.: 8 K 2907/98). Lässt der Aufhebungsbescheid
nicht erkennen, welche individuelle Leistungsbewilligung in welchem Umfang
aufgehoben werden, verstößt er gegen den Bestimmtheitsgrundsatz (zum ganzen
ausführlich Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 13.06.2006, Az.: S 9 AS 834/05).
Nach diesen Grundsätzen genügt die von der Antragsgegnerin im Bescheid vom
30.03.2006 getroffene Aufhebungsentscheidung dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht, da
nicht ersichtlich ist, in welcher Höhe zu Lasten welches Mitglieds der
Bedarfsgemeinschaft die Leistungsbewilligung aufgehoben wird. Dem
Bestimmtheitsgrundsatz ist auch nicht im Hinblick auf die mit Bescheid vom 06.05.2005
konkret dem Antragsteller bewilligten Leistungen genüge getan worden. Aus dem
Bescheid vom 30.03.2006 geht vielmehr noch nicht einmal hinreichend deutlich hervor,
ob die Antragsgegnerin überhaupt eine Aufhebung der individuellen
Leistungsbewilligungen vornehmen wollte. Die Tatsache, dass sie lediglich den
insgesamt angeblich zu Unrecht geleisteten Betrag im Bescheid vom 30.03.2006
ausgewiesen hat, spricht eher dagegen.
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Der Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ist auch nicht durch die Ausführungen
im Widerspruchsbescheid vom 17.10.2006 beseitigt worden. Unabhängig davon, ob
dies überhaupt möglich wäre (ablehnend Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht,
Beschluss vom 24.04.2003, Az.: 12 LA 85/03) wird auch aus den Ausführungen des
Widerspruchsbescheids nicht hinreichend deutlich, welche individuelle
Leistungsbewilligung in welchem Umfang aufgehoben werden sollte. Insoweit besteht
zudem Anlass darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen der Antragsgegnerin im
Widerspruchsbescheid zur Einkommensanrechnung unzutreffend sind. Die
Antragsgegnerin geht offensichtlich davon aus, dass die im Juli 2005 zugeflossene
Einkommensteuererstattung zu gleichen Teilen auf den Bedarf des Antragstellers und
seiner Ehefrau anzurechnen ist. Dies entspricht der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 3
SGB II jedoch nicht. Wenn die Einkommensteuererstattung anrechenbares Einkommen
im Sinne von § 11 SGB II wäre, hätte sie entsprechend der im Bescheid vom 06.05.2005
vorgenommenen Verteilung des Gesamtbedarfs auch bei dem Sohn des Antragstellers
anteilsmäßig bedarfsmindernd berücksichtigt werden müssen.
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Ist dementsprechend die im Bescheid vom 30.03.2006 erfolgte
Aufhebungsentscheidung offensichtlich rechtswidrig, liegen auch die Voraussetzungen
für eine Erstattung gemäß § 50 Abs. 1 SGB X nicht vor. Der im Bescheid vom
30.03.2006 enthaltene Erstattungsbescheid ist darüber hinaus ebenfalls wegen eines
Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz offensichtlich rechtswidrig, denn der
Individualisierungsgrundsatz gilt auch für Rückforderungen, die an eine
Bewilligungsaufhebung anknüpfen (vgl. Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 13.06.2006,
Az.: S 9 AS 834/05). Klarstellend sei insoweit darauf hingewiesen, dass, selbst wenn
die Aufhebung individuell und damit hinreichend bestimmt erfolgt wäre, der
Gesamtbetrag der Überzahlung nicht insgesamt von einer Person, d.h. hier dem
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Antragsteller, zurückgefordert werden könnte. Das Gesetz normiert keine
gesamtschuldnerische Haftung der einzelnen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft für
zu Unrecht gewährte Leistungen. Der Antragsteller kommt auch nicht deshalb als
alleiniger Schuldner des Erstattungsanspruchs in Betracht, weil die im Bescheid vom
06.05.2006 bewilligten Leistungen insgesamt auf sein Konto überwiesen wurden. Der
Antragsteller hat auch insoweit als Empfangsbevollmächtigter und damit als Vertreter für
die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gehandelt. Zahlungsempfänger im
materiellem Sinn war jedoch das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193
SGG.
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