Urteil des SozG Köln vom 01.06.2006

SozG Köln: freiwillige versicherung, krankenversicherung, vorläufiger rechtsschutz, erlass, krankheit, verwaltungsakt, leistungsbezug, hauptsache, versicherungspflicht, mitgliedschaft

Sozialgericht Köln, S 26 KR 59/06 ER
Datum:
01.06.2006
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 26 KR 59/06 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
den Antragsteller bei der Antragsgegnerin nach Maßgabe des § 264
SGB V anzumelden und der Antragsgegnerin Ersatz der vollen
Aufwendungen für den Einzelfall sowie eines angemessenen Teils ihrer
Verwaltungskosten zu gewährleisten. Die Beigeladene wird ferner
verpflichtet, dem Antragsteller ab 01.05.2006 vorläufig bis zur
Durchführung der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V
Krankenbehandlung nach Maßgabe des § 48 Satz 1 SGB XII zu
gewähren. Im Übrigen wird der Eilantrag zurückgewiesen. Kosten sind
unter den Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Antragsgegnerin oder die Beigeladene dem
Antragsteller Krankenversicherungsschutz gewähren muss. Der im Jahre 1962
geborene Antragsteller leidet unter HIV, steht laufend in ärztlicher Behandlung und wird
mit Medikamenten therapiert. Nach eigenen Angaben war er von 1998 bis Dezember
2003 über das Sozialamt krankenversichert, während in der Zeit vom 01.01.2005 bis
30.04.2006 wegen des Bezuges von Arbeitslosengeld II eine Pflichtmitgliedschaft bei
der Antragsgegnerin bestand. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.2006 lehnte die
Deutsche Rentenversicherung bestandskräftig den Antrag des Klägers auf
Erwerbsminderungsrente ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, nach den
medizinischen Ermittlungen sei der Antragsteller seit dem 18.04.2005 bis
voraussichtlich 30.11.2007 erwerbsgemindert. Dennoch bestehe kein Anspruch auf
Rente wegen Erwerbsminderung, weil der Antragsteller die sogenannten
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt habe. Mit einem am 26.04.2006
bei der Antragsgegnerin eingegangenem Antrag erklärte der Antragsteller, er wolle ab
01.05.2006 Mitglied der Antragsgegnerin werden. Mit einem weiteren Schreiben vom
26.04.2006 stellte der Antragsteller bei der Beigeladenen einen Antrag auf Übernahme
der Krankenhilfeleistungen ab 01.05.2006, weil zur Zeit ungeklärt sei, ob er sich bei der
Antragsgegnerin freiwillig krankenversichern könne. Nachdem die ARGE Köln die
Bewilligung von Arbeitslosengeld II mit Wirkung ab 01.05.2006 aufgehoben hatte,
bezieht der Antragsteller ab Mai 2006 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII
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von der Beigeladenen. Diese hat nach eigenen Angaben den Antragsteller seinerzeit
aufgefordert, bei der Antragsgegnerin eine freiwillige Weiterversicherung nach § 9 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 SGB V zu beantragen. Mit Bescheid vom 26.04.2006 hat die
Antragsgegnerin die Durchführung einer freiwilligen Weiterversicherung des
Antragstellers ab 01.05.2006 abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt,
Voraussetzung für den freiwilligen Beitritt zur Krankenversicherung sei, dass der Antrag
auf die freiwillige Versicherung innerhalb von drei Monaten nach dem Ende der letzten
Versicherung gestellt werde und dass der Antragsteller vor dem Ausscheiden aus der
Versicherung mindestens zwölf Monate ununterbrochen oder in den letzten fünf Jahren
mindestens 24 Monate versichert gewesen sei; Zeiten, in denen eine Versicherung
allein deshalb bestanden habe, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen worden
sei, würden nicht berücksichtigt. Der Antragsteller sei von der Agentur für Arbeit bei der
Antragsgegnerin zum 01.01.2005 als Bezieher von Arbeitslosengeld II als Mitglied
gemeldet worden. Nach Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom
09.03.2006 sei der Antragsteller seit 18.04.2005 erwerbsgemindert. Auf Grund der
Erwerbsminderung ab 18.04.2005 sei das Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen
worden und die notwendige ununterbrochene Vorversicherungszeit von mindestens
zwölf Monaten nicht erfüllt. Hiergegen legte der Antragsteller am 15.05.2006
Widerspruch ein und stellte am 18.05.2006 gegen die Antragsgegnerin einen Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Antragsteller beantragt schriftlich,
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die Antragsgegnerin im Eilverfahren zu verurteilen, ihm umgehend
Krankenversicherungsschutz zu gewähren, hilfsweise die Beigeladene zu verpflichten,
für die Kosten der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V aufzukommen, wobei die
Krankenbehandlung von der Antragsgegnerin übernommen werden solle,
beziehungsweise ihm Krankenversicherungsschutz zur Verfügung zu stellen.
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Die Antragsgegnerin beantragt schriftlich,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Sie verweist im Wesentlichen auf § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V und vertritt im Ergebnis
die Auffassung, dass materiellrechtlich geprüft werden müsse, ob der Antragsteller das
Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 18.04.2005 bis zum 30.05.2006 zu Unrecht bezogen
habe. Dies sei der Fall, da der Antragsteller in diesem Zeitraum bereits voll
erwerbsgemindert gewesen sei (vgl. Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom
24.05.2006 an die Antragsgegnerin, Blatt 27 Verwaltungsakte der Antragsgegnerin). Auf
die formelle Betrachtung komme es hingegen nicht an. Unerheblich sei deshalb, dass
die ARGE Köln das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 18.04.2005 bis 30.04.2006
möglicherweise nicht vom Antragsteller zurückfordere, weil es sich bei dem
ursprünglich, diese Leistung bewilligenden Bescheid um einen begünstigenden
Verwaltungsakt handele, dessen Rücknahme für die Vergangenheit nicht möglich sei.
Zuständig für die Gewährung von Krankenversicherungsschutz sei hier die Stadt Köln
als offensichtlich zuerst angegangener Leistungsträger, welche den Antragsteller aber
an die Antragsgegnerin verwiesen habe.
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Die Beigeladene beantragt schriftlich,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den
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Antragsteller vorläufig bis zur Bestandskraft des Bescheides der Antragsgegnerin vom
26.04.2006 als freiwillig Versicherten in die gesetzliche Krankenversicherung
aufzunehmen.
Sie meint, die Antragsgegnerin sei der zuerst angegangene Leistungsträger und schon
deshalb zur Leistung verpflichtet. Im Übrigen dürfe § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2. Halbsatz
SGB V nicht rückwirkend, sondern erst ab 31.12.2005 angewendet werden. Die Zeiten
des Bezuges von Arbeitslosengeld II seien bei Berechnung der Vorversicherungszeiten
zu berücksichtigen, da der Leistungsbezug nicht zu Unrecht erfolgt sei. Denn
Rechtsgrund für den Leistungsbezug seien die Bescheide der ARGE Köln, die erst mit
Wirkung vom 01.05.2006 aufgehoben worden seien. Im Übrigen sei § 44 a Satz 1 SGB II
zu beachten. Danach stelle die Agentur für Arbeit (beziehungsweise ARGE) fest, ob der
Arbeitssuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig sei. Die Feststellung eines
unrechtmäßigen Bezuges von Arbeitslosengeld II wegen Erwerbsunfähigkeit obliege
mithin der ARGE. Auf Grund der eindeutigen Rechtslage sei der Verweis der
Antragsgegnerin auf die Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialhilfe für die
Beigeladene nicht zumutbar.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
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Der Eilantrag ist zulässig und im Sinne des Hilfsantrages auch begründet. Der
Hauptantrag hingegen war zurückzuweisen.
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Nach § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung
des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwehr
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt
das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den
vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
voraus; bei Abwägung aller betroffenen Interessen muss es dem Antragsteller
unzumutbar sein, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Nach herrschender
Meinung darf jedoch grundsätzlich eine einstweilige Anordnung die endgültige
Entscheidung nicht vorweg nehmen (wie hier vom Antragsteller mit dem Hauptantrag
beantragt). In der Regel ist es deshalb nicht zulässig, eine Behörde zum Erlass eines im
Hauptsacheverfahren beantragten Verwaltungsakt oder - wie hier - zur Aufnahme in die
freiwillige Krankenversicherung zu verpflichten. Nur ausnahmsweise kann es im
Interesse der Effektivität des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlich sein, der
Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht
erreichbar und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre (vgl. Meyer-Ladewig, 8.
Auflage, § 86 b SGG, RdNr. 31 m. w. N.). Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur
Aufnahme des Antragsteller als freiwilliges Mitglied kommt im Eilverfahren deshalb nur
dann in Betracht, wenn der Antragsteller mit einer entsprechenden Klage aller
Voraussicht nach obsiegen würde: Denn nur dann drohen ihm unzumutbare Nachteile.
Hier fehlt es in Bezug auf die Antragsgegnerin bereits an einem Anordnungsanspruch,
weil der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 26.04.2006 nach
kursorischer Prüfung rechtmäßig ist. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V sind Personen in
der Zeit, für die sie Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beziehen, grundsätzlich
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versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung; dies gilt auch, wenn die
Entscheidung, die zum Bezug der Leistung geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder
die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist. Abweichend hiervon regelt
§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2. Halbsatz SGB I, dass bei den erforderlichen
Vorversicherungszeiten für die freiwillige Versicherung Zeiten der Mitgliedschaft nicht
berücksichtigt werden, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil
Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde. Mit diesem durch Gesetz vom
22.12.2005 eingefügten Passus wollte der Gesetzgeber für die Zeit ab 31.12.2005
insbesondere verhindern, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger
Bezug von Arbeitslosengeld II dazu führt, dass im Anschluss daran eine dauerhafte
freiwillige Mitgliedschaft begründet werden kann (vgl. Bundestags-Drucksache 16/245,
Seite 9, 10). Hieraus leitet das Gericht ab, dass es im Rahmen der Vorversicherungszeit
nach § 9 SGB V (anders als in der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V hinsichtlich
der Versicherungspflicht) nicht auf die formelle, sondern auf die materielle
Rechtswidrigkeit des Leistungsbezuges ankommt, also auf Bedürftigkeit und
Erwerbsfähigkeit nach § 19 SGB II. Die Nichtberücksichtigung als Vorversicherungszeit
setzt daher nicht zusätzlich auch die rückwirkende Aufhebung des
Bewilligungsbescheides über Arbeitslosengeld II voraus. Die Krankenkassen, die die
Beitrittsberechtigung und damit die Frage der Nichtberücksichtigung dieser Zeit zu
prüfen und zu beachten haben, müssen daher von Amts wegen die Frage des
unrechtmäßigen Leistungsbezuges klären (vgl. Jahn, Sozialgesetzbuch für die Praxis, §
9 RdNrn. 20 a, 20 g und 20 h). Die entgegen stehende, von der Beigeladenen zitierte
Rechtsprechung ist entweder noch nicht bestandskräftig, oder zu einem anderen Thema
(Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V) ergangen. Da die Deutsche
Rentenversicherung dem Antragsteller nach medizinischen Ermittlungen ab 18.04.2005
bis November 2007 volle Erwerbsminderung attestiert hat, hat dieser das
Arbeitslosengeld II materiellrechtlich mindestens seit 18.04.2005 zu Unrecht bezogen.
Die verbleibende Pflichtversicherung des Antragstellers vom 01.01. bis 18.04.2005 bei
der Antragsgegnerin erfüllt aber weder die kleine noch die große Vorversicherungszeit
nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, welche die Antragsgegnerin richtig in ihrem
Bescheid vom 26.04.2006 dargestellt hat. Soweit die Beigeladene auf § 43 Abs. 1 SGB I
verweist, ist festzustellen, dass nach dem bisherigen Stand der Dinge nach Auffassung
des Gerichts keine Verpflichtung der Antragsgegnerin besteht, den Antragsteller als
freiwilliges Mitglied aufzunehmen. § 43 Abs. 1 SGB I regelt jedoch den Fall, dass die
Anspruchsvoraussetzungen gegen jeden Leistungsträger unstreitig gegeben sind, diese
sich jedoch lediglich nicht über die Zuständigkeit einigen können. Ein solcher Fall liegt
hier jedoch nicht vor. Da die Möglichkeit der freiwilligen Krankenversicherung nicht
offensichtlich ist, sondern nach Auffassung des Gerichts sogar ausgeschlossen
erscheint und die oben dargelegte Problematik der materiellen oder formellen
Rechtmäßigkeit noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ist eine Verpflichtung der
Antragsgegnerin nicht sachdienlich. Anders als die im Rahmen des vertragsärztlichen
Systems durchgeführte freiwillige Krankenversicherung ist die Durchführung der
Krankenbehandlung nach § 264 SGB V auf Grund der ohnehin stattfindenden Erstattung
der Aufwendungen im Einzelfall problemlos rückabzuwickeln, falls sich in einem
Hauptsacheverfahren ergibt, dass die freiwillige Krankenversicherung doch
durchzuführen wäre.
Die Beigeladene hat dem Antragsteller nach § 48 SGB XII Hilfe bei Krankheit zu
gewähren, wobei die Krankenbehandlung nach § 264 SGB V der Regelung nach § 48
Satz 1 SGB XII vorgeht. Eine rückwirkende Übernahme der Krankenbehandlung ist in §
264 SGB V nicht vorgesehen. Sollte der Antragsteller seit dem 01.05.2006
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Krankenbehandlung in Anspruch genommen haben, wäre die Beigeladene verpflichtet,
diese nach § 48 Satz 1 SGB XII zu übernehmen. Dasselbe gilt für den Fall, dass sich die
Durchführung der Krankenbehandlung nach § 264 SGB V verzögert. Dass im Falle des
chronisch kranken Antragstellers, der fortlaufend Krankenbehandlung benötigt, ein
Anordnungsgrund vorliegt, ist zwischen allen Beteiligten unstreitig. Nach der
ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin hat der Antragsteller derzeit keinen
Krankenversicherungsschutz. Die Beigeladene lehnt Hilfe bei Krankheit oder die
Gewährleistung einer Krankenbehandlung nach § 264 SGB V ab. Da der Antragsteller
mittellos ist, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten, um die
weitere Krankenbehandlung des chronisch kranken Antragstellers sicherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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