Urteil des SozG Köln vom 02.07.2009
SozG Köln: freie arztwahl, ärztliche behandlung, hauptsache, injektion, therapie, erlass, krankenversicherung, obsiegen, dienstleistung, nachbehandlung
Sozialgericht Köln, S 26 KN 24/09 KR ER
Datum:
02.07.2009
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 26 KN 24/09 KR ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird
zurückgewiesen. Kosten sind unter den Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Antragsgegnerin der Antragstellerin einstweilen
die Kosten eines Behandlungsintervalls (drei Injektionen) mit dem Fertigarzneimittel
Lucentis durch die St. Elisabeth-Krankenhaus-GmbH finanzieren muss.
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Dieses Krankenhaus, welches grundsätzlich für gesetzlich krankenversicherte Patienten
zugelassen ist, und die bei der Antragsgegnerin (AGG) versicherte, im Jahre 1939
geborene Antragstellerin (AST) beantragten Anfang Mai 2009 bei der AGG die
Kostenübernahme einer Lucentis-Injektionstherapie. Aus dem Antrag ergibt sich, dass
die AST bei angiographisch nachgewiesener Neovaskularisierung unter einer
altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) am rechten Auge leidet und die Therapie
mit Lucentis erforderlich ist. Da die Leistung nach dem EBM derzeit nicht abrechenbar
sei, werde um die Zusage der Kostenübernahme der Lucentis-Therapie für zunächst
drei Monate in Höhe von 5.028,66 Euro gebeten (Apothekenverkaufspreis von Lucentis:
1.296,22 Euro, für 3 Injektionen: 3.888,66 Euro/Ärztliches Honorar für die intravitreale
Injektion: 300,- Euro, für 3 Injektionen: 900,00 Euro/Ärztliches Honorar für die
Nachbehandlung: 80,- Euro, für 3 Injektionen: 240,- Euro). Mit Bescheid vom 11.05.2009
teilte die AGG der AST mit, die geplante Behandlung für drei
Medikamenteneinspritzungen ins rechte Auge werde grundsätzlich genehmigt. Die AGG
habe jedoch zwischenzeitlich einen Vertrag mit der Kassenärztlichen Vereinigung
Nordrhein (KVNO) und den augenärztlichen Berufsverbänden geschlossen, der eine
pauschalierte Kostenvergütung von 450,- Euro für alle mit den
Medikamenteneinspritzungen einhergehenden Aufwendungen (Arztkosten und
Arzneimittelkosten) je Injektion vorsehe. Welches Arzneimittel (Avastin, Lucentis oder
Macugen) im Einzelfall zum Einsatz komme, kläre der Arzt gemeinsam mit seinem
Patienten. Für die augenärztliche Nachbehandlung sei ein zusätzlicher Betrag von 50,-
Euro abrechenbar. Die Kostenabrechnung erfolge in diesen Fällen direkt über die
Krankenversichertenkarte mit der KVNO. Die Elisabeth-Krankenhaus GmbH habe sich
derzeit dem oben genannten Vertrag nicht angeschlossen. Deshalb sei eine direkte
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Abrechnung über die Krankenversichertenkarte nicht möglich. Sofern die AST die
Behandlung dennoch in dieser Einrichtung durchführen lassen wolle, seien die
entstehenden Mehrkosten selbst zu tragen. Über den hiergegen gerichteten
Widerspruch der AST hat die AGG noch nicht entschieden.
Am 12.06.2009 hat die AST den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim
Sozialgericht Köln eingereicht, um die AGG einstweilen zu verpflichten, die beantragte
Behandlung im St. Elisabeth-Krankenhaus von der AGG finanziert zu erhalten. Die AST
trägt vor, an ihrem rechten Auge bestehe noch eine 32prozentige Sehfähigkeit, am
linken Auge eine 20prozentige Sehfähigkeit. Wenn die streitgegenständliche
Behandlung nicht umgehend durchgeführt werde, drohe ihr wahrscheinlich sogar ein
vollständiger Sehverlust am rechten Auge. Die Prognose werde umso schlechter, je
länger die Behandlung hinausgezögert werde. Die ärztliche Dienstleistung (intravitreale
Injektion) sei derzeit noch nicht im EBM geregelt. Es bestehe deshalb die Verpflichtung
der AGG zur Vergütung der ärztlichen Leistung auf der Grundlage der GOÄ. Die
Begrenzung der Leistung auf dreimal 500,- Euro statt der beantragten 5.028,66 Euro
könne die AGG nicht unter Hinweis auf den abgeschlossenen Vertrag über die
Behandlung der feuchten AMD mittels intravitrealer Injektion (im folgenden: AMD-
Vertrag) stützen. Die AST habe ein Recht auf freie Arztwahl. Die Kostenkalkulation im
AMD-Vertrag lasse nur den Schluss zu, dass eine Durchstechflasche Lucentis für die
Behandlung mehrerer Patienten (entgegen der Fachinformation) oder Avastin im Off-
Label-Use Verwendung finde. Der AMD-Vertrag sei evident rechtswidrig. Da die AST
unter multiplen Allergien bei schwerer KHK- und Diabeteserkrankungen leide, wolle sie
sich entsprechend der Empfehlung ihres seit über 15 Jahren behandelnden
Augenarztes aufgrund möglicher Komplikationen im St. Elisabeth-Klinikum behandeln
lassen, was auch medizinisch geboten sei. Sie verfüge nur über eine monatliche Rente
von 922,07 Euro und müsse allein für die Miete ihrer Wohnung 427,53 Euro aufwenden.
Ersparnisse habe sie nicht.
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Die AST hat auf zahlreiche Parallelverfahren verwiesen, welche ihre Bevollmächtigten
bei der Sozialgerichtsbarkeit im krankenversicherungs- und vertragsärztlichen Bereich
geführt haben. Ferner wird auf die zahlreichen weiteren von der AST vorgelegten
Unterlagen Bezug genommen.
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Die AST beantragt schriftlich,
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die Antragsgegnerin einstweilen bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der
Hauptsache zu verpflichten, der Antragstellerin die Behandlung ihrer feuchten
altersabhängigen Makuladegeneration am rechten Auge mittels intravitrealer Injektion
des Fertigarzneimittels Lucentis durch Übernahme der Kosten eines
Behandlungsintervalls (drei Injektionen) in Höhe von EUR 5.028,66 zu gewähren.
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Die AGG beantragt schriftlich,
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den Antrag abzuweisen.
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Sie hat zunächst vorgetragen, die medizinische Notwendigkeit der beantragten
Arzneimitteltherapie werde nicht bestritten. Die von der AST ausgewählte Augenklinik
am St. Elisabeth-Krankenhaus sei nicht bereit oder mangels Zulassung zur Teilnahme
an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung nicht berechtigt, für das seit Ende
Februar 2007 in Deutschland zugelassene Medikament Lucentis eine
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Arzneimittelverordnung nach Muster 16 (Kassenrezept) auszustellen, obwohl dies
arzneimittelrechtlich zulässig sei. Diese Augenklinik wolle die erforderlichen Leistungen
vollständig außervertraglich erbringen. Kostenerstattungsansprüche bestünden nach §
13 Absatz 3 SGB V in entstandener Höhe aber nur dann, wenn die Kasse eine
unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen könne oder diese zu Unrecht
abgelehnt habe. Die AGG lehne die streitgegenständliche Behandlung jedoch nicht ab,
sondern verweise auf mittlerweile über 90 niedergelassene und hochqualifizierte
Augenärzte, welche im Rahmen des AMD-Vertrages auch Lucentis verabreichen
könnten.
Das Gericht hat von Amts wegen einen Befundbericht bei dem Augenarzt der AST, Dr.
Meyer-Stoll, eingeholt; dieser hat ergänzend telefonisch erklärt, seit einer Abklärung im
Krankenhaus stehe fest, dass die AST an einer feuchten AMD am rechten Auge leide.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
umfangreichen, zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen
verwiesen.
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Der Antrag ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass
einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann
das Gericht, sofern ein Fall nach Absatz 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass
durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des
Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der
Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen
Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile zwingend erforderlich erscheint. Die
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen
materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich
einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.
Anordnungsanspruch und- grund sind glaubheft zu machen. Dabei stehen
Anordnungsanspruch und-grund nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr eine
Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit
zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern
sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und- grund bilden nämlich aufgrund ihres
funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System: Ist die Klage in der Hauptsache
offensichtlich unzulässig und /oder unbegründet, so ist der Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund abzulehnen, weil
ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache
dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den
Anordnungsgrund. In der Regel ist dann die begehrte einstweilige Anordnung zu
erlassen, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund
verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa
eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist,
ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.
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Hier ist bereits ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Die begehrte Anordnung
ist zur Abwendung wesentlicher Nachteile der AST (hier: drohende Erblindung am
rechten Auge) nicht erforderlich. Nach dem Befundbericht des Augenarztes Dr. Meyer-
Stoll ist zwar eine schnelle Behandlung des rechten Auges der AST durch Injektionen
mit einem Anti-VEGF-Präparat erforderlich. Dass hier nur Lucentis in Betracht kommt,
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hat dieser Arzt trotz ausdrücklicher
Nachfrage des Gerichts jedoch nicht bestätigt. Wie das Sozialgericht Düsseldorf in
seinem überzeugenden Urteil vom 02.07.2008 ausgeführt hat (S 2 KA 181/07), gehört
auch Avastin zu den VEGF-Antagonisten und hemmt Gefäßneubildungen. Avastin ist
seit 2006 mehrere 100.000mal weltweit erfolgreich eingesetzt worden. Begründete
Zweifel an der Arzneimittelsicherheit von Avastin bei der Therapie der feuchten AMD
bestehen nicht. Das Bundesversicherungsamt als zuständige Aufsichtsbehörde hat
bislang keine Veranlassung zur Beanstandung gesehen, dass die Krankenkassen die
Kosten für die Behandlung mit Avastin übernehmen. Es bestehen deshalb gefahrlose
Behandlungsmöglichkeiten durch Vertragsbehandler der AGG, welche dem Grunde
nach die streitgegenständliche Behandlung in Höhe der mit den Vertragsbehandlern
vereinbarten Vergütung im Fall der AST bewilligt hat. Im übrigen kommt nach dem Inhalt
des Vertrages die Anwendung von verschiedenen VEGF-Hemmern in Betracht, u.a.
auch von Lucentis. Im übrigen wird von namhaften Experten( z.B. dem Pharmakologen
Prof. Dr. Mühlbauer) befürchtet, dass Lucentis nicht nur das wesentlich teurere, sondern
sogar das schlechtere Mittel ist. Es besteht die Vermutung, dass Avastin länger im Auge
verbleibt und deshalb seltener gespritzt werden muss als Lucentis. Diesbezüglich laufen
derzeit noch Studien. Soweit die AST zuletzt geltend gemacht hat, wegen ihrer
anderweitigen Erkrankungen müsse die begehrte Therapie bei ihr im Krankenhaus
stattfinden, ist dies zum einen nicht glaubhaft gemacht; aber auch die Tatsache, dass
die AST ein grundsätzlich für gesetzlich Krankenversicherte zugelassenes
Krankenhaus für ihre Behandlung gewählt hat, welches Lucentis nur im Wege einer
privatärztlichen Behandlung verabreichen will, kann einen Anordnungsgrund nicht
begründen. Falls bei der AST die Verabreichung eines VEGF-Hemmers nur im Rahmen
einer Krankenhausbehandlung in Betracht kommt, wäre es ihr zuzumuten, ein anderes
zugelassenes Krankenhaus im Sinne der §§ 108, 115 ff SGB V aufzusuchen, welches
die AST gegen Vorlage der Krankenversichertenkarte - und nicht etwa auf
privatärztlicher Basis - versorgt. Nur am Rande ist zu erwähnen, dass die vom St.
Elisabeth- Krankenhaus geforderten Arzthonorare eben nicht auf der GOÄ , sondern auf
Pauschalen beruhen, deren Bemessung nicht plausibel dargelegt wurde. Unter
Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der AST würde eine Verpflichtung
der AGG zur Übernahme von Kosten in Höhe von 5.028,66 Euro hier im Ergebnis die
Hauptsache vorwegnehmen, da sie im Falle des Unterliegens im (derzeit noch gar nicht
anhängigen) Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, diese
Kosten zurückzuzahlen. Eine echte Vorwegnahme der Hauptsache im Wege der
einstweiligen Anordnung kommt jedoch in der Regel nur dann in Betracht, wenn das
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Obsiegen des AST/der AST in der Hauptsache ganz überwiegend wahrscheinlich ist.
Dies ist hier jedoch zu verneinen. Entgegen der Auffassung der AST ist der sog. AMD-
Vertrag nicht offensichtlich rechtswidrig, wie sich bereits aus dem Beschluss des SG
Düsseldorf vom 23.08.2007 (S 2 KA 104/07), bestätigt durch Beschluss des LSG NRW
vom 11.02.2008 - L 11 (10) B 17/07 KA, dem Beschluss des SG Düsseldorf vom
16.10.2008 - S 14 KA 121/08 ER - und dem Urteil des SG Düsseldorf vom 02.07.2008 -
S 2 KA 181/07 - ergibt. Grundsätzlich erhalten Versicherte die Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung nach § 2 Absatz 2 Satz 1 SGB V als Sach- und
Dienstleistung. Dabei ist das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. § 13 Absatz 3 SGB V
(Kostenerstattung) stellt demgegenüber eine Ausnahme vom Grundsatz des
Sachleistungsprinzips dar. Die Behandlung der AST mit einem VEGF-Hemmer ist von
der AGG jedoch dem Grunde nach bewilligt worden. Mit dem AMD-Vertrag haben die
Vertragspartner eine Möglichkeit geschaffen, den Versicherten diese ärztliche
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Behandlung als Sachleistung anzubieten. In diesem Zusammenhang ist auch zu
berücksichtigen, dass die Erhaltung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen
Krankenversicherung ein Gemeinwohlbelang von hohem Rang ist. Ob die AST vor
diesem Hintergrund berechtigt ist, von der AGG die Behandlung mit Lucentis von einem
besonders teuren Anbieter finanziert zu erhalten, welcher das ärztliche Honorar zudem
nach frei bestimmten Pauschalen abrechnen will, ist mehr als fraglich. Im übrigen ist
auch dem Sitzungsprotokoll des LSG NRW vom 17.06.2009 nicht zu entnehmen, dass
die AST im hier zu entscheidenden Fall in der Hauptsache voraussichtlich obsiegen
wird. Das diesem Beschwerdeverfahren zugrunde liegende erstinstanzliche
Eilverfahren hat die dortige AST, die von den Prozessbevollmächtigten der hiesigen
AST ebenfalls vertreten worden ist, in vollem Umfang verloren. Ausweislich der
Kostenentscheidung des LSG NRW entsprach das Obsiegen der AST im
Beschwerdeverfahren nur einem Fünftel. Schlüsse auf das hier zu beurteilende
individuelle Eilverfahren können aus dem Protokoll des LSG NRW jedenfalls nicht
gezogen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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