Urteil des SozG Köln vom 24.01.2003

SozG Köln: berufskrankheit, irak, ärztliche untersuchung, ärztliches gutachten, umkehr der beweislast, einwirkung, fabrik, entstehung, report, internierung

Sozialgericht Köln, S 18 U 60/98
Datum:
24.01.2003
Gericht:
Sozialgericht Köln
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 18 U 60/98
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das bei dem Kläger festgestellte
Plattenepithel-Karzinom des linken Stimmbandes als Berufskrankheit zu entschädigen
hat.
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Der im Jahre 1944 geborene Kläger befand sich als Auslandsmonteur für seine
Arbeitgeberfirma L-I-E AG in Kuwait, als dort in den frühen Morgenstunden des
02.08.1990 irakisches Militär einfiel. In seiner Unterkunft, dem "Kuwait Sheraton Hotel",
wurde er gefangen genommen und im weiteren Verlauf zusammen mit zahlreichen
Menschen unterschiedlicher Nationalität, u. a. seinem damaligen Arbeitskollegen, dem
Zeugen Herrn C L1, als Geisel in den Irak verschleppt. In verdunkelten Autobussen und
unter Waffengewalt wurden verschiedene Aufenthaltsorte angefahren, an denen die
Geiseln über einen mehr oder weniger langen Zeitraum festgehalten wurden.
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Unter ständigem Wechsel der als Geiseln genommenen Personen gelangte die Gruppe,
in der sich der Kläger wie auch der Zeuge Herr L1 befanden, am 15.08.1990 auf ein
größeres Fabrikgelände in der knapp 100 km westlich von Bagdad gelegenen Ortschaft
Al Falluja. Dort wurden sie zunächst in einem einige hundert Meter von dem
Fabrikgebäude entfernten Lager ("Baucamp") untergebracht und schließlich am
26.09.1990 unmittelbar in die Nähe des Fabrikgebäudes verbracht. Am 27.10.1990
wurde der Kläger nach Bagdad überführt und konnte unter Einschaltung der Deutschen
Botschaft auf dem Luftwege den Irak verlassen.
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Über den Ablauf seiner Gefangenschaft hat der Kläger zwei zeitlich auseinander
liegende, zu den Akten genommene Manuskripte verfasst und namentlich auch die
Unterbringung der Geiseln sowie deren Bewacher in dem Fabrikgebäude
angegliederten Büro- und Laboreinrichtungen beschrieben. In einem an die Beklagte
gerichteten Schreiben vom 29.09.1996 führte der Kläger aus, das Baucamp sei am
26.09.1990 aufgelöst und die Gruppe der Deutschen auseinandergerissen worden. Er
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und der Zeuge Herr L1 seien direkt in die Giftgasfabrik, der Rest der Gruppe auf andere
strategisch wichtige Anlagen im Irak verlegt worden. In der streng gesicherten und
militärisch streng bewachten Anlage habe die Fabrik selbst aus einigen übererdigen
Hallen, in denen angeblich Chlor produziert worden sei, bestanden. Unterirdisch in
mehreren Etagen habe sich die eigentliche Fabrik befunden; zahllose, überall aus dem
Boden ragende Be- und Entlüftungshutzen seien hierfür Beweis gewesen. Sie - die
Geiseln - seien mitten im oberirdischen Gelände in einem eigens für ihre Unterbringung
geräumten Laborgebäude untergebracht worden. Die Wände der Schlafräume seien
von Säuren zerfressen gewesen. In der Zeit von der Verlegung in die Fabrik am 26.09.
bis zu seiner Freilassung hätten sie ca. 20 bis 25 Fabrikalarme mitbekommen, bei
denen alle dort beschäftigen Iraker sich für Stunden nur mit Schutzanzügen und
Gasschutzhauben/Masken im Gebäude bewegt hätten; die Geiseln seien schutzlos
geblieben.
Vom 8. bis zum 10.11.1993 sowie vom 22. bis zum 24.12.1993 befand sich der Kläger
stationär in der Klinik für HNO-Heilkunde des Städtischen Krankenhauses L2 und wurde
dort unter der Diagnose eines hochdifferenzierten, polypös-papillären Plattenepithel-
Karzinoms des linken Stimmbandes operativ behandelt (Arztbriefe vom 29.11.1993
sowie vom 30.01.1994).
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Diese Erkrankung, die der Kläger ursächlich auf die Einwirkung giftiger Chemikalien in
dem Fabrikgelände Al Falluja zurückführt, macht der Kläger als Berufskrankheit geltend.
7
Auf die im März 1994 erstattete ärztliche Formularanzeige über eine Berufskrankheit von
Dr. C1, Direktor Gesundheitswesen der L-I-E Personal-Dienste GmbH, leitete die
Beklagte das entsprechende Feststellungsverfahren ein. Dr. C1 hatte ausgeführt, dem
Kläger sei bereits Ende der Gefangenschaft im Irak eine deutliche zusätzliche
Verschleimung und eine Sekretion aufgefallen, die vorher nicht aufgefallen sei. Diese
sei zunächst mit schleimlösenden Mitteln behandelt worden. Im Oktober 1993 sei eine
zusätzliche Heiserkeit aufgetreten, woraufhin eine Untersuchung durch den HNO-Arzt
Dr. S sowie die anschließende Einweisung zur operativen Behandlung erfolgt sei. Der
Kläger führe die aufgetretene Erkrankung ursächlich auf die Gefangenschaft zurück, da
in der Chlorgasfabrik eine entsprechende Exposition bestanden habe. Abschließend
war der Hinweis auf einen Zigarettenkonsum des Klägers von 20 Stück pro Tag bis vor
10 Jahren ergangen; seit ca. 1983 sei er Nichtraucher.
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Aus dem beigezogenen Krankheitenverzeichnis der Betriebskrankenkasse ergaben
sich Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers wegen Alkoholabusus sowie wegen
Psychose bei Alkoholismus.
9
Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten gelangte in seinem Ermittlungsbericht
vom 13.09.1994 zu folgendem Ergebnis:
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Der seit 1966 bei der Firma L-I-E AG beschäftigte, seit 1970 vorwiegend als Monteur
von Großmotoren im Ausland eingesetzte Kläger habe bei seinen Montage- und
Demontagearbeiten in erster Linie Kontakt zu technischen Ölen und Fetten gehabt.
Darüber hinaus sei er mit Kaltreinigern sowie gelegentlich - beim Anstreichen von
Motoren und Rohrleitungen - mit Lacken und Grundierungen umgegangen. Kontakt zu
asbesthaltigem Material habe im Einsetzen bzw. Auswechseln von astbesthaltigen
Dichtungen sowie Entfernen bzw. Anbringen von Asbestisolierungen bestanden.
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Die Ursache seiner Krebserkrankung sehe der Kläger in der Gefangenschaft im Irak
während des Golfkrieges. Dort sei er zusammen mit einer Gruppe von anderen
Gefangenen als "lebende Schutzeinrichtung" mitten auf dem Gelände einer
Chlorgasfabrik ca. drei Monate gefangengehalten worden. Nach Meinung des Klägers
habe es sich bei der Chlorgasfabrik in Wirklichkeit um eine Giftgasfabrik gehandelt. Er
sei mit zwei anderen Personen in einem ca. 16 qm großen Raum festgehalten worden.
Hier habe ein starker beißend-stechender Geruch von Chemikalien geherrscht, der dem
Kläger Hustenreiz, Schleimbildung und Auswurf verursacht habe. Die im Raum
befindlichen zwei Fenster hätten nur über eine Stunde am Tag geöffnet bleiben dürfen.
Der Kläger habe beobachtet, dass die draußen an der Chemieanlage arbeitenden
Personen Schutzanzüge und Atemschutzmasken getragen hätten, woraus zu schließen
sei, dass dort tatsächlich toxische Gase bzw. Stäube aufgetreten seien. Welche
gesundheitsschädigenden Stoffe auf den Kläger während der Gefangenschaft
eingewirkt hätten, lasse sich leider nicht feststellen.
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Nachdem der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten in einer weiteren
Stellungnahme mitgeteilt hatte, dass der Kläger bei seinen betrieblichen Tätigkeiten
zwar Asbest, aber mit Sicherheit keiner Asbestexposition ausgesetzt gewesen sei, die
zu einer Asbestfaserdosis von 25 sog. Asbestfaserjahren führe, veranlasste die
Beklagte in arbeitsmedizinischer Hinsicht zunächst eine gutachtliche Untersuchung zur
Überprüfung einer Berufskrankheit der Nr. 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-
Verordnung - BKVO - (Asbeststaublungenerkrankung - Asbestose -) sowie der Nr. 4104
der Anlage 1 zur BKVO (Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs u. a. bei Nachweis der
Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens
25 Faserjahren).
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In seinem fachärztlichen Gutachten vom 06.02.1995 gelangte der Arzt für Lungen- und
Bronchialheilkunde Prof. Dr. P zu dem Ergebnis, es könne, da radiologisch eine
Asbestose nicht nachweisbar sei und auch die kumulative Asbestfaserdosis sicher unter
25 Asbestfaserjahren liege, nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass
das 1993 diagnostizierte und operierte Stimmbandkarzinom Folge der früheren
Asbeststaub-Belastung sei. Seiner - Prof. Dr. P - Meinung nach sei es auch
unwahrscheinlich, dass der dreimonatige zwangsweise Aufenthalt in einer Chlorgas-
oder Giftgasfabrik im Irak zur Entwicklung dieses Stimmbandkarzinoms geführt habe.
Zur kompetenten Beantwortung dieser Frage sollte aber ein zusätzliches hno-ärztliches
Gutachten erstellt werden.
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Nach Einholung einer Stellungnahme des Staatlichen Gewerbearztes - datiert vom
10.03.1995 - lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21.08.1995
Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, dass es sich bei dem festgestellten
Plattenepithel-Karzinom des linken Stimmbandes (Kehlkopfkrebs) weder um eine
Berufskrankheit nach § 551 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch um
eine solche nach § 551 Abs. 2 RVO handele. Eine beruflich bedingte Tumorentstehung
sei auch unter Berücksichtigung einer dreimonatigen Internierung in einer Chlorgas-
oder Giftgasfabrik im Irak nicht wahrscheinlich zu machen. Eine Kehlkopfkarzinom-
Erkrankung könne gegebenenfalls wie eine Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 2
RVO entschädigt werden, wenn zugleich sog. Brückensymptome wie bei der
Berufskrankheit Nr. 4104 vorlägen. Die computertomographische Untersuchung vom
20.01.1995 habe nicht den Nachweis asbestassoziierter Veränderungen der Pleura
oder des Lungenparenchyms erbracht.
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Auf den am 12.09.1995 eingelegten Widerspruch des Klägers, der seine
Krebserkrankung weiterhin auf die Einwirkungen "einer Gift- und Kampfgasfabrik des
Irak" zurückführte, holte die Beklagte ein weiteres fachärztliches Gutachten ein, das
Prof. Dr. E1 aus der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde sowie Kopf- und
Halschirurgie des Zentralklinikums B am 27.06.1996 nach Aktenlage erstattete. Unter
Zustimmung zu der Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwischen Asbestexposition
und Kehlkopfkrebs im Vorgutachten führte er aus, der Einschätzung von Prof. Dr. P,
dass die Entstehung eines Kehlkopfkrebses durch Giftgase unwahrscheinlich sei, könne
er sich jedoch nicht anschließen. So sei in der Berufskrankheit der Nr. 1311 der Anlage
1 zur BKVO (Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylarylsulfide)
niedergelegt, dass als wesentliche Gefahrenquelle Fundmunition oder Munition von
Giftgas, Giftkampfstoffen denkbar, hier vor allen Dingen auch Schwefellost erwähnt
seien. In dem amtlichen Merkblatt für die ärztliche Untersuchung werde auch die
kanzerogene Wirkung auf die Luftwege erwähnt. In der Literatur gehe aus
Untersuchungen hervor, dass bei Mitarbeitern einer Giftgasfabrik Kehlkopfkrebse
signifikant häufiger gewesen seien als in der Normalbevölkerung.
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Die versicherungsrechtliche Lage wäre seines - Prof. Dr. B - Erachtens demnach so,
dass bei Nachweis einer Giftgasexposition im Rahmen der kriegerischen Internierung
im Irak von einer haftungsausfüllenden Kausalität ausgegangen werden könnte. Die von
dem Kläger berichteten primären Reizerscheinungen der oberen Atemwege direkt nach
der Exposition würden in das Krankheitsbild der Berufskrankheit Nr. 1311 passen. Eine
Latenzzeit von drei Jahren zwischen Exposition und Tumorerkrankung wäre recht kurz,
erscheine jedoch angesichts einer zu vermutenden erheblichen Exposition nicht als ein
Ausschlusskriterium für die Zusammenhangsfrage.
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Nach seiner - Prof. Dr. B - persönlicher Meinung spreche etliches für eine Exposition
gegenüber Giftgasen während der Internierung im Irak. Er sehe sich jedoch für die
Beantwortung dieser Frage nicht als sachkundig an. Sollte es zu einer Anerkennung
des Leidens als Berufskrankheit kommen, so wäre die dadurch bedingte Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) mit mindestens 20 % einzuschätzen.
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Schließlich erstellte Prof. Dr. N, Leitender Arzt der Abteilung Hals- Nasen-Ohren
Heilkunde sowie Kopf- und Halschirurgie des Bundeswehrkrankenhauses V, unter dem
Datum vom 19.11.1997 ebenfalls nach Lage der Akten ein fachärztliches Gutachten, in
dem er folgendes ausführte:
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Bei einer Karzinogenese im Bereich des oberen Atmungs- und Verdauungstraktes
handele es sich um ein komplexes multifaktorielles Geschehen. Als Risikofaktoren
würden neben einer genetischen Prädisposition Ernährungsfaktoren, Virusinfektionen,
Umweltfaktoren und vor allem der chronische Alkohol- und Tabakkonsum diskutiert.
Darüber hinaus sei in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf die Bedeutung beruflicher
Schadstoffexpositionen als Risikofaktoren hingewiesen worden.
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Im Falle des Klägers lägen sichere Hinweise für eine genetische Prädisposition, eine
Mangelernährung sowie für Virusinfektionen nicht vor. Hinsichtlich des bei ihm
dokumentierten Tabakkonsums sei festzustellen, dass der Gesamttabakkonsum von 20
sog. Packungsjahren ein um mehr als das sechsfache Kehlkopfkrebsrisiko bedeute;
diese Risikoeinschätzung stehe im Einklang mit den Ergebnissen zahlreicher
internationaler Fallkontrollstudien. Ein weiterer Risikoanstieg ergebe sich aus dem
Trinkverhalten des Klägers. Zwar seien dem Aktenmaterial keine eindeutigen Angaben
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zur konsumierten Alkoholmenge zu entnehmen, es gehe aber aus den Unterlagen der
Betriebskrankenkasse eindeutig hervor, dass eine schwere Alkoholabhängigkeit bei
bestehendem Alkoholabusus im Zeitraum von mindestens 1978 bis 1992 bestanden
habe. Darüber hinaus müsse davon ausgegangen werden, dass ein kombinierter
Alkohol- und Tabakkonsum das Krebsrisiko im Bereich des oberen Atmungs- und
Verdauungstraktes, und somit auch im Bereich des Kehlkopfes, nicht nur additiv,
sondern multiplikativ in synergistischer Weise erhöhe. Da berufliche
Schadstoffexpositionen, namentlich durch Asbest, nach den Ermittlungen des
Technischen Aufsichtsdienstes nicht vorlägen, stelle sich die Frage, inwieweit eine
Schadstoffexposition während der dreimonatigen Internierung des Klägers in einer
Chlorgasfabrik im Irak ursächlich für die Entstehung des Stimmbandkarzinoms gewesen
sei. Aus den Angaben des Klägers könne zum einen geschlossen werden, dass er
gegenüber schleimhautreizenden Dämpfen oder Aerosolen während der drei Monate
ausgesetzt gewesen sei. Darüber hinaus sei aufgrund der Schutzmaßnahmen, die für
die dort tätigen Iraker getroffen worden seien, davon auszugehen, dass Personen, die
auf dem Fabrikgelände tätig gewesen seien, zumindest potentiell durch Einwirkung von
Schadstoffen gefährdet gewesen seien. Der Gutachter Prof. Dr. B ziehe die Möglichkeit
in Betracht, dass eine Exposition gegenüber Giftkampfstoffen, z. B. Senfgas,
stattgefunden habe. An der human-kanzerogenen Wirkung von Senfgas gebe es keinen
Zweifel. so existierten kasuistische Mitteilungen über die Entstehung von
Kehlkopfkarzinomen bei Patienten, die eine Senfgasvergiftung im Ersten Weltkrieg
erlitten hätten; ferner sei ein gehäuftes Auftreten von Karzinomen des oberen Atmungs-
und Verdauungstraktes bei Arbeitern in Senfgasfabriken beobachtet worden. Was die in
den Studien festgehaltenen Expositions- und Latenzzeiten angehe, so dürfe das
Argument der im Falle des Klägers kurzen Zeiten nicht überbewertet werden; so habe
bei ihm möglicherweise eine weitaus massivere Exposition vorgelegen, als dies bei den
Giftgasarbeitern in den Studien gewesen sei. Offen bleibe aber die Frage, ob eine
Exposition gegenüber Senfgas, dem einzigen bislang bekannten Kampfstoff, der als
Spätfolge Krebs im Bereich des Respirationstraktes verursachen könnte, stattgefunden
habe. Dies sei nach seiner - Prof. Dr. N - Ansicht nicht der Fall. So handele es sich bei
Senfgas um eine gelblich-ölige Flüssigkeit mit einem senf- bis knoblauchartigen
Geruch. Einen derartigen Geruch habe der Kläger nicht angegeben. Der Kampfstoff
könne aufgrund seiner physiko-chemischen Eigenschaften perkutan, inhalativ oder
peroral resorbiert werden. Bemerkenswert sei die lange Latenzzeit von zwei bis acht
Stunden bis zum Auftreten der ersten Vergiftungssymptome; im Augenblick des
Kontaktes mit dem Organismus rufe Schwefellost keinerlei Reizwirkungen hervor. Die
durch den Kontakt des Giftes mit der Haut und den Schleimhäuten bedingten
Schädigungen seien aber quälend und in ihrer Heilung langsam, so dass eine
erhebliche Belastung des Geschädigten eintrete. Insgesamt betrachtet wiesen die
Angaben des Klägers weniger auf eine Senfgasexposition hin.
Hinsichtlich einer Exposition des Klägers gegen sonstige Kampfstoffe seien
lungenschädigende Kampfstoffe, nach deren Einwirkung Krebserkrankungen aber nicht
bekannt seien, sowie Reizkampfstoffe zu diskutieren. Gehe man von einer
Giftgasherstellung in der Fabrik, in der der Kläger interniert gewesen sei, aus, so dürfte
es sich den Schilderungen entsprechend am ehesten um Reizkampfstoffe handeln.
Bislang gebe es keine Hinweise dafür, dass eine Exposition gegenüber derartigen
Reizkampfstoffen das Risiko, an Karzinomen des oberen Aerodigestivtraktes zu
erkranken, erhöhe.
22
Zusammenfassend komme er - Prof. Dr. N - zu dem Schluss, dass weder die
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Voraussetzungen einer Anerkennung als Berufskrankheit gemäß § 551 Abs. 1 RVO in
Verbindung mit der Nr. 4103 noch mit der Nr. 1311 der Anlage 1 zur BKVO gegeben
seien. Vielmehr dürften außerberufliche Risikofaktoren, wie der chronische
Tabakkonsum bzw. der Alkoholabusus, ursächlich für die Entstehung des
Kehlkopfkarzinoms im Vordergrund stehen.
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid
vom 12.12.1997 (abgesandt am 17.12.1997) zurück.
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Mit seiner am 13.01.1998 bei der Beklagten erhobenen und von dieser an das
erkennende Gericht weitergeleiteten Klage macht der Kläger nach wie vor die
Anerkennung seines Stimmbandkarzinoms als Berufskrankheit sowie entsprechende
Entschädigungsleistungen geltend.
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Dazu haben seine Bevollmächtigten vorgetragen, der Kläger sei drei Monate als
strategische Geisel zusammen mit anderen, im Rotationssystem ausgewechselten
Geiseln unmittelbar bei den Fertigungsanlagen in einer irakischen Giftgasfabrik
interniert gewesen. Während die Geiseln den Gaseinwirkungen völlig ungeschützt
gegenüber gestanden hätten, habe sich das irakische Bedienungspersonal nur in
raumfahrtähnlichen Schutzanzügen mit Masken bewegt. Das Gelände der Giftgasfabrik
sei hermetisch abgeriegelt gewesen. Während der gesamten Zeit seiner Internierung
habe der Kläger üble Gerüche, insbesondere Senf- und Knoblauchgerüche
wahrgenommen. Daraus müsse geschlossen werden, dass der Kläger während der
gesamten Zeit der haut- oder schleimhautschädigenden Einwirkung von Schwefellost
(Senfgas) ausgesetzt gewesen sei. Dieses habe sowohl nach Auffassung von Prof. Dr.
N als auch nach Auffassung von Prof. Dr. E1 kanzerogene Wirkung, so dass mit
Letzterem davon auszugehen sei, dass die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers auf
dessen Exposition gegenüber Giftgasen während seiner Internierung im Irak
zurückzuführen sei.
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In der Giftgasfabrik Al Falluja habe der Kläger eine Vielzahl von Gerüchen
wahrgenommen, darunter auch Senf- und Knoblauchgerüche. Er habe dieser
Geruchsentwicklung zunächst keine Bedeutung beigemessen, weil ihm nicht bekannt
gewesen sei, dass derartige Gerüche bei der Erstellung von Senfgas entstünden. In den
arabischen Staaten sei die Entwicklung von Knoblauchgeruch nicht ungewöhnlich, so
dass der Kläger die Erwähnung dieses Geruchs zunächst nicht für wichtig gehalten
habe. Erst nach Erhalt des Gutachtens von Prof. Dr. N sei ihm die Relevanz dieser
Geruchsbildung bewusst geworden.
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Im weiteren Verlauf haben die Bevollmächtigten des Klägers einen internen Bericht
("Staff-Report") an den U.S.-Senator Donald W. Riegle jr. mit dem (in die deutsche
Sprache übersetzten) Titel "Das Golfkkriegssyndrom: Die Vorgeschichte der
Erkrankungen im Zusammenhang mit der Kriegführung mit kombinierten
chemischen/biologischen Giftstoffen unterschiedlicher Herkunft" übersandt und
ergänzend vorgetragen: Viele Berichte aus dem Irak-Krieg wiesen darauf hin, dass im
Irak Giftgase produziert und angewendet worden seien. Aktuelle Ermittlungen hierzu
könnten nicht mehr durchgeführt werden, weil die Gasfabrik Al Falluja, in der der Kläger
interniert gewesen sei, nach dem Krieg zerstört worden sei. Aus dem "Staff-Report"
gehe hervor, dass es sich bei der irakischen Fabrik Al Falluja um eine Giftgasfabrik
gehandelt habe, in der neben dem Nervengas VX 1000 Tonnen Sarin monatlich
produziert worden seien. Darüber hinaus seien Experimente mit Zyaniden und
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Chloriden durchgeführt worden. Des weiteren ergebe sich aus dem Report, dass in den
irakischen Fabriken auch Senfgas produziert worden sei. Damit dürfte nachgewiesen
sein, dass in Al Falluja zumindest Sarin und VX und wahrscheinlich auch Senfgas
produziert worden sei.
Das Gericht hat die gesamten Akten einschließlich dem "Staff-Report" sowie dem
(ersten) von dem Kläger über seine Gefangenschaft verfassten Manuskript an Prof. Dr. N
gesandt und diesen um eine ergänzende Stellungnahme zu seinem im Auftrag der
Beklagten erstatteten fachärztlichen Gutachten vom 19.11.1997 gebeten. Dieser hat
nach eingehender Befragung und Untersuchung des Klägers unter dem Datum vom
30.01.2001 ein hno-ärztliches Gutachten mit folgendem Ergebnis erstattet:
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Im Rahmen der Untersuchung habe der Kläger angegeben, im Zentrum der
Chemiefabrik Al Falluja untergebracht gewesen zu sein. Dort seien nach dem "Staff-
Report" Sarin und das Nervengas VX hergestellt worden und ferner
Forschungsaktivitäten im Hinblick auf Giftgasentwicklungen mit Blausäure, Chlorzyan
und Lewisit erfolgt. Darüber hinaus lägen mittlerweile Erkenntnisse vor, dass in
irakischen Chemiefabriken auch in größeren Mengen Senfgas produziert worden sei;
als Hauptproduktionsstätten für Senfgas, Sarin und Tabun werde insbesondere die
Giftgasfabrik Muthanna, 65 Meilen nordwestlich von Bagdad genannt. Man müsse
jedoch davon ausgehen, dass auch in der Chemiefabrik Al Falluja Senfgas hergestellt
worden sei.
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Der Kläger habe im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung angegeben, dass in den
Räumen, in denen er interniert gewesen sei, immer wieder ätzende Flüssigkeiten an
den Wänden heruntergelaufen seien, die zu lilafarbigen Verfärbungen geführt hätten.
Die Raumluft habe eine sehr stark reizende Wirkung auf die Atemwege der in diesem
Raum gefangen gehaltenen Personen gehabt. Neben dieser irritierenden Wirkung habe
der Kläger eine ausgesprochen starke Geruchsbelästigung angegeben; dabei habe es
sich um Geruchsqualitäten wie Essig, Senf, Knoblauch und faule Eier gehandelt.
Gerade der von dem Kläger geschilderte Knoblauchgeruch sei als weiteres wichtiges
Indiz für eine mögliche Senfgasexposition während des Aufenthalts in Al Falluja zu
bewerten. Bei kritischer Bewertung des nunmehr vorliegenden Sachverhalts sei er -
Prof. Dr. N - nach wie vor der Meinung, dass der chronische Alkohol- und Tabakkonsum
eine wesentliche Teilursache für das bei dem Kläger aufgetretene Kehlkopfkarzinom
darstelle. Nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand habe bei ihm eine
Risikosteigerung der Größenordnung bis zum 15fachen im Vergleich zu einem
Nichtraucher und Nichttrinker resultiert. Allerdings müsse er nunmehr davon ausgehen,
dass auch eine Exposition gegenüber Senfgas vorgelegen habe. Senfgas vermöge
anerkanntermaßen Plattenepithel-Karzinome im Bereich des oberen Aerodigestivtrakts,
insbesondere im Bereich des Kehlkopfes zu verursachen; es stelle einen unabhängigen
Risikofaktor für dieses Krankheitsbild dar. Aus diesem Grunde komme er zu dem
Schluss, dass aufgrund der vorliegenden zusätzlichen Erkenntnisse die bei dem Kläger
im Rahmen der Gefangenschaft stattgefundene inhalative Schadstoffexposition, wobei
es sich vermutlich um Senfgas gehandelt habe, als wesentliche Teilursache für die
Entstehung des bei dem Kläger diagnostizierten Kehlkopfkarzinoms zu bewerten sei.
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Er empfehle daher, das Plattenepithel-Karzinom des Kehlkopfes als Berufskrankheit
nach der Nr. 1311 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen. Die dadurch bedingte MdE
wäre für den Zeitraum von 1993 bis 1996 mit 40 % sowie für den Zeitraum danach auf
Dauer mit 25 % einzuschätzen.
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An dieser Beurteilung hat Prof. Dr. N in seiner auf die Einwände der Beklagten
abgegebenen ergänzenden Stellungnahme vom 28.11.2001 festgehalten. Der
Beklagten sei es bis heute nicht gelungen, klare Fakten oder Nachweise vorzulegen,
dass die bei dem Kläger möglicherweise stattgefundene kombinierte Giftgaseinwirkung,
u. a. durch Sarin, VX oder Senfgas, darüber hinaus mit Blausäure, Chlorzyan und
Lewisit, definitiv nicht stattgefunden habe.
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Die Beklagte hatte den Ausführungen Prof. Dr. N entgegengehalten, diese seien nicht
geeignet, den sicheren Nachweis dafür zu erbringen, dass der Kläger
Senfgaseinwirkungen ausgesetzt gewesen sei. Was überdies die beschriebene
Reizwirkung auf die Atemwege betreffe, so sei darauf hinzuweisen, dass in den
amtlichen Merkblättern für die ärztliche Untersuchung zu der Berufskrankheit Nr. 1311
dargelegt sei, dass Senfgas selbst in toxischer Stoffmenge, von der hier keinesfalls die
Rede sein könne, zunächst ohne Reizerscheinungen durch Haut und Schleimhäute
resorbiert werde.
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Des weiteren hat das Gericht über die mit der Gefangenschaft des Klägers auf dem
Fabrikgelände in Al Falluja verbundenen Umstände Beweis erhoben durch
Vernehmung des damaligen Mitgefangenen und Arbeitskollegen des Klägers, Herrn C
L1, als Zeugen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Anlage
zur Sitzungsniederschrift vom 24.01.2003 verwiesen.
35
Die Beteiligten sind bei ihrer jeweiligen Auffassung geblieben.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.08.1995 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 12.12.1997 zu verurteilen, sein Stimmbandkarzinom als
Folge einer Berufskrankheit der Nr. 1311 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen und
ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 % ab dem 01.10.1993 bis Ende 1996
sowie im Anschluss daran nach einer MdE von 25 % zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes im einzelnen wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die mit der rechtzeitig bei der Beklagten eingegangenen und von dieser an das
erkennende Gericht weitergegebenen Klageschrift (§ 91 des Sozialgerichtsgesetzes -
SGG -) form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
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Sie ist jedoch nicht begründet, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten vom
21.08.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.12.1997 tatsächlich
wie rechtlich nicht zu beanstanden ist und damit für den Kläger keine Beschwer im
Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG darstellt. Zu Recht hat es die Beklagte darin
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abgelehnt, das bei dem Kläger festgestellte Plattenepithel-Karzinom des linken
Stimmbandes als Berufskrankheit zu entschädigen, insbesondere die beantragte
Verletztenrente zu zahlen.
Der von dem Kläger geltend gemachte Entschädigungsanspruch richtet sich noch nach
den Vorschriften der RVO, da der streitige Versicherungsfall der Zeit vor dem
Inkrafttreten des nunmehr für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden
Siebenten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 01.01.1997 zuzuordnen ist (Art.
36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes - UVEG -, § 212 SGB VII).
Berufskrankheiten sind nach § 551 Abs. 1 RVO die Krankheiten, welche die
Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet (sog. Listenerkrankung),
hier also die im Feststellungsverfahren einer Überprüfung unterzogenen
Berufskrankheiten der Nr. 1311 und Nr. 4103 bzw. 4104 der Anlage 1 zur BKVO.
Darüber hinaus bestimmt § 551 Abs. 2 RVO, dass die Träger der Unfallversicherung im
Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist
oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit
entschädigen sollen, sofern nach neuen Erkenntnissen die Voraussetzungen des
Absatzes 1 erfüllt sind. Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit und
entsprechende Entschädigungsleistungen ist auf jeden Fall neben dem Erfordernis,
dass die Verrichtungen, bei denen der Versicherte schädigenden Einwirkungen
ausgesetzt war, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sind (sog. innerer
Zusammenhang), dass die schädigende Einwirkung ihre rechtlich wesentliche Ursache
in der versicherten Tätigkeit hat (sog. haftungsbegründende Kausalität) und dass die
festgestellten Gesundheitsstörungen rechtlich wesentlich durch die schädigende
Einwirkung verursacht worden sind (sog. haftungsausfüllende Kausalität).
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Gesundheitsschädigende Einwirkungen unmittelbar aus der betrieblichen Tätigkeit des
Klägers, die nach Art und Ausmaß geeignet wären, seine Krebserkrankung zu
verursachen, sind nicht nachgewiesen und werden dementsprechend von dem Kläger
auch nicht angeführt. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Ermittlungsbericht des
Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten und - was insbesondere die
ausgewiesene Belastung mit Asbest anbetrifft - aus dem zur Überprüfung einer
Berufskrankheit im Sinne der Nr. 4103/4104 der Anlage 1 zur BKVO eingeholten
fachärztlichen Gutachten des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Prof. Dr. P;
danach fehlte es bereits an dem radiologisch nachweisbaren Krankheitsbild einer
Asbestose.
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Wenn der Kläger somit für sein Stimmbandkarzinom allein die Giftgaseinwirkungen
durch die Fabrik in Al Falluja verantwortlich macht, so steht einer Entschädigung als
Berufskrankheit vom Grundsatz her nicht entgegen, dass die angeschuldigte Exposition
gegenüber Giftstoffen nicht aus der versicherten Tätigkeit des Klägers bei der Firma L-I-
E AG resultierte, sondern dass der Kläger eher zufällig in die Ereignisse des
beginnenden Golfkriegs geriet und von irakischem Militär verschleppt und zuletzt auf
dem Fabrikgelände in Al Falluja gefangen gehalten wurde. Als von seiner
Arbeitgeberfirma nach Kuwait entsandter Auslandsmonteur war er nämlich unter dem
Gesichtspunkt der sog. Ausstrahlung (§ 4 SGB IV) unfallversichert, und das im
vorliegenden Falle erhöhte, nicht auf die eigentlichen betrieblichen Tätigkeiten
beschränkte Risiko, einen Unfall bzw. eine Krankheit zu erleiden, ist jedenfalls dann
gerechtfertigt, wenn es - wie hier - mit dem betriebsbezogenen Aufenthalt im
Krisengebiet ursächlich verknüpft ist (vgl. Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 280, Seite
2 ff., mit weiteren Nachweisen).
47
Indessen vermag sich die Kammer nach eingehender Würdigung aller dafür und
dagegen sprechenden Faktoren nicht davon zu überzeugen, dass das bei dem Kläger
Ende 1993 festgestellte und operativ behandelte Plattenepithel-Karzinom des linken
Stimmbandes tatsächlich in einem Ursachenzusammenhang mit den Einwirkungen von
in der Fabrik Al Falluja produzierten Giftstoffen steht. Der dafür erforderliche Nachweis
lässt sich weder mit den ausführlichen mündlichen wie schriftlichen Schilderungen des
Klägers selbst und der Bekundung seines damals mit gefangen gehaltenen
Arbeitskollegen, des Zeugen Herrn C L1, noch mit den dokumentierten Unterlagen,
namentlich auch den fachärztlichen Gutachten und Stellungnahmen, erbringen.
48
Maßgebend für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs ist in der
gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung
bzw. der wesentlich mitwirkenden Bedingung. Danach sind als Ursachen im Rechtssinn
unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen (im
naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn) anzusehen, die wegen ihrer besonderen
Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben; haben mehrere
Bedingungen gemeinsam zu einem Erfolg geführt, sind sie rechtlich nur dann
wesentliche Bedingungen und damit Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und
Tragweite für den Eintritt des Erfolges in gleichem Maße wesentlich sind (vgl.
Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, vor § 7-13, Rdnr. 30, unter Hinweis auf die
ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).
49
Ein derart wesentlicher Kausalzusammenhang zwischen schädigenden Einwirkungen
bei der Arbeit bzw. - wie hier - in einer der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnenden
Situation muss wahrscheinlich sein. Dies bedeutet, dass beim vernünftigen Abwägen
aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark
überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann. Eine Möglichkeit
verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-
wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und
ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den
Kausalzusammenhang sprechenden Gründe müssen die gegenteiligen deutlich
überwiegen. Der medizinische Gutachter muss untergewichtige Möglichkeiten beiseite
lassen und ein erkennbares Übergewicht des Wahrscheinlichen aufzeigen. Nicht
ausreichend ist daher, wenn eine Schlussfolgerung lediglich durchaus möglich ist (vgl.
Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Seite
116, mit weiteren Nachweisen aus Schrifttum und Rechtsprechung).
50
Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür,
dass die Krebserkrankung des Klägers wesentlich ursächlich auf die Einwirkung von
Giftstoffen während seiner Gefangenschaft auf dem Fabrikgelände in Al Falluja
zurückzuführen ist, nicht zu begründen. Dies um so mehr, als es bei dem Kläger für die
Entstehung eines Stimmbandkarzinoms in medizinischer Hinsicht auch ohne Exposition
gegenüber den angeschuldigten Chemikalien eine plausible Erklärung gibt. So hat der
Sachverständige Prof. Dr. N in seinem ersten - im Auftrag der Beklagten erstatteten -
fachärztlichen Gutachten das Rauch- und Alkoholtrinkverhalten des Klägers einer
eingehenden Würdigung unterzogen mit dem Ergebnis, dass eher außerberufliche
Risikofaktoren, wie der chronische Tabakkonsum bzw. der Alkoholabusus, ursächlich
für die Erkrankung des Klägers im Vordergrund stehen. An dieser für das Gericht
nachvollziehbaren Beurteilung hat Prof. Dr. N in seinem gerichtlicherseits eingeholten
Gutachten vom 30.01.2001 einschließlich der ergänzenden Stellungnahme vom
51
28.11.2001 festgehalten und ausdrücklich hervorgehoben, dass der chronische Alkohol-
und Tabakkonsum eine wesentliche Teilursache für das bei dem Kläger aufgetretene
Kehlkopfkarzinom darstellt; resultierte nach dem derzeitigen wissenschaftlichen
Kenntnisstand bei ihm doch eine Risikosteigerung der Größenordnung bis zum 15-
fachen im Vergleich zu einem Nichtraucher und Nichttrinker. Wenn der Sachverständige
nunmehr zu dem Ergebnis gelangt ist, er komme aufgrund zusätzlicher Erkenntnisse,
namentlich der eingehenden Befragung des Klägers sowie der Berücksichtigung des
"Staff-Reports", zu dem Schluss, dass die im Rahmen der Gefangenschaft
stattgefundene inhalative Schadstoffexposition als weitere wesentliche Teilursache für
die Entstehung der Erkrankung sei, so steht seine Empfehlung, das Plattenepithel-
Karzinom des Kehlkopfes als Berufskrankheit nach der Nr. 1311 der Anlage 1 zur BKVO
anzuerkennen, durchaus im Einklang mit der oben dargelegten Kausalitätslehre von der
wesentlich mitwirkenden Bedingung. Indessen fehlt es für den seiner Gedankenführung
zugrunde gelegten Sachverhalt an dem erforderlichen Nachweis. Dabei sollen seine
Ausführungen über die Forschungsaktivitäten und die Herstellung von Giftgasen im Irak,
insbesondere die inzwischen gewonnene Erkenntnis, dass in irakischen
Chemiefabriken u. a. in größeren Mengen Senfgas produziert worden sei, keinesfalls in
Zweifel gezogen werden; ist doch mittlerweile abgesehen von dem umfassenden "Staff-
Report" durch zahlreiche Publikationen hinreichend bekannt, dass im Irak chemische
und biologische Massenvernichtungsmittel produziert und bei Kriegshandlungen auch
bereits eingesetzt wurden. Nicht zu folgen vermag die Kammer jedoch Prof. Dr. N darin,
dass bei dem Kläger während seiner Gefangenschaft in Al Falluja eine Exposition
gegenüber Senfgas vorgelegen hat, das - wie der Sachverständige in seinem ersten
Gutachten hervorgehoben hat - den einzigen bislang bekannten Kampfstoff, der als
Spätfolge Krebs im Bereich des Respirationstraktes verursachen kann, darstellt.
Hinsichtlich der Beweisanforderungen ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass sich die
oben beschriebene hinreichende Wahrscheinlichkeit auf die Beurteilung der
haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität beschränkt. Für die
Feststellung der übrigen anspruchsbegründenden Tatsachen hingegen, wie etwa das
Vorliegen der versicherten Tätigkeit oder - hier - Art und Ausmaß der schädigend
einwirkenden Giftstoffe, ist der volle Nachweis nötig (vgl. Krasney/Udsching, Handbuch
des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, Seite 111, mit weiteren Nachweisen aus
Schrifttum und Rechtsprechung). Im letzteren Sinne als "bewiesen" anzusehen ist eine
Tatsache dann, wenn es in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des
Falles - nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach
der allgemeinen Lebenserfahrung - geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung
hiervon zu begründen; erforderlich ist danach ein der Gewissheit nahekommender Grad
der Wahrscheinlichkeit (vgl. Krasney/Udsching, a. a. O.).
52
Von derartig bewiesenen Tatsachen kann im Hinblick auf die von dem Kläger
angeschuldigte Exposition gegenüber dem für seine Krebserkrankung aus
medizinischer Sicht allein in Frage kommenden Senfgas indessen nicht ausgegangen
werden. Dies auch dann nicht, wenn man - wie das Gericht, das sich mit seiner
Entscheidung schwer getan hat - geneigt ist, angesichts der damaligen
bedauernswerten Lage des Klägers und vor allem des Umstandes, dass ihm jegliche
realistische Möglichkeit verschlossen ist, durch weitere Beweiserhebungen zu einem für
ihn günstigen Ergebnis zu gelangen, weniger strenge Ansprüche an die
Beweisanforderungen zu stellen. Es lassen sich aber keine konkreten Anhaltspunkte
dafür finden, dass der Kläger während seiner Gefangenschaft auf dem Fabrikgelände in
Al Falluja tatsächlich gravierenden Einwirkungen von Senfgas ausgesetzt war. Insoweit
53
besteht nach den eigenen Angaben des Klägers - verständlicherweise - nicht mehr als
eine Vermutung, und auch der Sachverständige Prof. Dr. N hat dies eindeutig, wenn
auch mit anderer Schlussfolgerung, zum Ausdruck gebracht, indem er ausgeführt hat, es
habe sich bei der inhalativen Schadstoffexposition des Klägers "vermutlich um Senfgas"
gehandelt, bzw. - so in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28.11.2001 - von einer
"möglicherweise stattgefundenen kombinierten Giftgaseinwirkung" u. a. durch Senfgas
gesprochen hat.
Selbst wenn man unterstellt, dass seinerzeit auch in Al Falluja Senfgas produziert
wurde und der Kläger dementsprechend exponiert war, fehlt es an jeder Erkenntnis, ob
das Ausmaß in zeitlicher und quantitativer Hinsicht geeignet war, innerhalb einer von
Prof. Dr. E1 als "recht kurz" bezeichneten Latenzzeit von drei Jahren eine
Kehlkopfkrebserkrankung zu entwickeln. Dies um so mehr, als es dazu - so Prof. Dr. E1
- einer "zu vermutenden erheblichen Exposition" bedurfte und sowohl Prof. Dr. E1 als
auch Prof. Dr. N offenbar davon ausgegangen sind, dass bei dem Kläger eine
dreimonatige Schadstoffexposition stattgefunden hat, wogegen seine Überführung in die
unmittelbare Nähe des Fabrikgebäudes in Al Falluja erst am 26.09.1990 erfolgte.
54
Schließlich lassen sich auch aus den Angaben des Klägers selbst sowie den
Bekundungen des Zeugen Herrn L1 weder Art noch Ausmaß einer Schadstoffexposition
verifizieren. Wenn Prof. Dr. N die nach den Angaben des Klägers "ausgesprochen
starke Geruchsbelästigung" mit "Geruchsqualitäten wie Essig, Senf, Knoblauch und
faule Eier" als "weiteres wichtiges Indiz für eine mögliche Senfgasexposition"
hervorhebt, so lässt sich dies jedenfalls hinsichtlich ihrer Intensität anhand der
wiederholten Schilderung des Klägers nicht nachvollziehen. In seinem ersten, offenbar
noch vor Ausbruch seiner Krebserkrankung gefertigten Manuskript ist insoweit von
einem "beißenden Gestank" die Rede, und die Erklärung für seine erstmals im
Klageverfahren geschilderten Senf- und Knoblauchgerüche, nämlich, er habe dieser
Geruchsentwicklung u. a. deswegen keine Bedeutung beigemessen, weil der Geruch
von Knoblauch in den arabischen Ländern nicht ungewöhnlich ist, erscheint allenfalls
insoweit plausibel, als es sich auch in Al Falluja eben um die gewöhnlichen Gerüche
gehandelt hat, nicht hingegen um solche, wie sie Prof. Dr. N nach Art und Intensität
beschrieben hat.
55
Für Letztere liefert auch die Aussage des Zeugen Herrn L1 keine Anhaltspunkte, der
zwar von einem "stärkeren Knoblauchgeruch" gesprochen, aber auch bekundet hat,
dass dieser nicht ständig vorhanden war und überdies keine Veranlassung gegeben
hat, sich über die Geruchseinwirkungen intensive Gedanken zu machen.
56
Auch das Vorbringen des Klägers, es hätten sich bisweilen alle dort beschäftigten Iraker
für Stunden nur mit Schutzanzügen und Gasschutzhauben/Masken im Gebäude bewegt
und nur die Geiseln seien schutzlos geblieben, ist jedenfalls in dieser Form nicht von
dem Zeugen bestätigt worden. So hat dieser geschildert, dass lediglich die in dem den
Geiseln verschlossenen Fabrikgebäude selbst arbeitenden Personen mit den gesamten
Körper bedeckenden Schutzanzügen ausgerüstet waren. Dies lässt, abgesehen davon,
dass sich damit noch nicht klären lässt, gegen welche Einwirkungen derartige
Schutzmaßnahmen getroffen wurden, eher die Vermutung zu, dass sie außerhalb des
Fabrikgebäudes nicht für nötig befunden wurden, und zwar nicht nur für die Geiseln,
sondern auch für deren Bewacher.
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Wenn nach alledem nicht der Nachweis zu erbringen ist, dass das bei dem Kläger
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festgestellte Stimmbandkarzinom wesentlich ursächlich auf die Einwirkung von
Giftstoffen auf dem Fabrikgelände in Al Falluja zurückzuführen ist, so lässt sich eine
Entscheidung zu Gunsten des Klägers auch nicht über die Beweislastverteilung
begründen. An die geltenden materiellen und verfahrensrechtlichen Beweisregeln sieht
sich das Gericht auch in einer derart extremen Fallgestaltung wie der vorliegenden und
einer damit für den Kläger einhergehenden ausweglosen Beweissituation gebunden. So
besteht auch im Sozialrecht kein Grundsatz etwa in dem Sinne, dass im Zweifel für den
verletzten oder erkrankten Versicherten zu entscheiden ist. Auch eine Umkehr der
Beweislast, wie sie offenbar dem Sachverständigen Prof. Dr. N vorschwebt, wenn er der
Beklagten vorhält, es sei ihr bis heute nicht gelungen, Fakten und Nachweise
vorzulegen, dass die bei dem Kläger möglicherweise stattgefundene kombinierte
Giftgaseinwirkung definitiv nicht stattgefunden habe, lässt sicht nicht rechtfertigen.
Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz der sog. objektiven Beweis- und Feststellungslast,
wonach die Folgen des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen zu tragen
sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will.
Die Klage konnte daher keinen Erfolg haben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
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