Urteil des SozG Koblenz vom 08.03.2006

SozG Koblenz: private krankenversicherung, rechtsgrundlage, leistungsbezug, sozialhilfe, gesetzestext, gleichstellung, form, kreis, krankenkasse, eng

Sozialrecht
SG
Koblenz
08.03.2006
S 12 KR 90/05
Versicherungsberechtigung von Sozialhilfebeziehern
Tenor:
1. Unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 21.01.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 01.03.2005 wird die Beklagte verurteilt, die Klägerin ab 01.01.2005 als
freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten gemäß §
9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V geworden ist.
Die im Jahre 1927 geborene Klägerin besuchte bis 1941 eine Hilfsschule in T. Anschließend wurde sie im
April 1941 von ihren Eltern im Kloster der Schwestern vom G H in T untergebracht. Dort lebte sie bis 1968
als "Haustochter", weil sie wegen einer geistigen Behinderung ständiger Betreuung bedurfte. Im August
1968 übersiedelte die Klägerin in eine Einrichtung der Schwestern vom G H in A (Kreis T-S). Aufgrund
ihrer Minderbegabung war sie nie erwerbstätig. Sie half lediglich beim Kartoffelschälen oder
Wäschefalten. Seit dem 28.11.2000 befindet sich die Klägerin in dem ordenseigenen Altenheim Haus M,
W.
Seit dem 05.05.2004 steht die Klägerin unter Betreuung für die Aufgabenkreise Gesundheitssorge,
Aufenthaltsbestimmungsrecht, Vermögenssorge sowie Post- und Fernmeldeverkehr.
Die Klägerin war zu keinem Zeitpunkt privat oder gesetzlich krankenversichert. Sie bezog in der
Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Im
Jahre 2004 übernahm die Beklagte gemäß § 264 SGB V die Krankenbehandlung der Klägerin gegen
Kostenerstattung durch den zuständigen Sozialhilfeträger. Seit 01.01.2005 bezieht die Klägerin von der
Stadt T Leistungen nach dem SGB XII zur Deckung der offenen Heimkosten sowie in Form eines
Barbetrages zur persönlichen Verfügung.
Den am 30.12.2004 bei der Beklagten eingegangenen Antrag der Klägerin auf Durchführung einer
freiwilligen Krankenversicherung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V lehnte die Beklagte mit Bescheid
vom 21.01.2005 ab, weil ein Beitrittsrecht nicht bestehe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.03.2005 wurde der hiergegen eingelegte Widerspruch als
unbegründet zurückgewiesen. In Übereinstimmung mit der Auffassung der Spitzenverbände der
Krankenkassen gelte die Beitrittsmöglichkeit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nur für den bewusst eng
Krankenkassen gelte die Beitrittsmöglichkeit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nur für den bewusst eng
begrenzten Personenkreis ehemaliger Sozialhilfeempfänger, deren Leistungsbezug geendet habe. Im
Falle der Klägerin bestehe dieser jedoch auf einer anderen Rechtsgrundlage fort. Wenn sich lediglich die
Rechtsgrundlage des Leistungsbezuges geändert habe, sei ein Beitrittsrecht für die Klägerin nicht
eröffnet.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 07.03.2005 bei dem Sozialgericht Koblenz
eingegangenen Klage, mit der sie ihr Anliegen weiterverfolgt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 21.01.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2005
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin ab 01.01.2005 als freiwilliges Mitglied in der
gesetzlichen Krankenkasse aufzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen sowie wegen der weiteren Einzelheiten der
Sachdarstellung wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der
Beklagten. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig. In der Sache hat sie ebenfalls
Erfolg. Durch die Beitrittserklärung vom 30.12.2004 ist die Klägerin ab 01.01.2005 freiwilliges Mitglied der
Beklagten.
Rechtsgrundlage für den Beitritt ist § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V, der durch Artikel 5 des Vierten Gesetzes
für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I S 2954) mit Wirkung ab
01.01.2005 in das SGB V eingefügt wurde. Danach können der Versicherung innerhalb von 6 Monaten ab
dem 01.01.2005 Personen beitreten, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt
nach dem Bundessozialhilfegesetz bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat
krankenversichert waren. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung sind vorliegend erfüllt.
Die Klägerin hat ihren Beitritt als freiwilliges Mitglied zur Beklagten zum 01.01.2005 erklärt. Sie bezog in
der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG und war zu keinem
Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Entgegen der Auffassung der Beklagten enthält das Gesetz keine weitere Voraussetzung für den Beitritt.
Insbesondere wird nicht verlangt, dass nach dem 31.12.2004 keine Leistungen nach dem zu diesem
Zeitpunkt in Kraft getretenen SGB XII bezogen werden. Beitrittberechtigt sind also auch solche Personen,
die ab dem 01.01.2005 Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beziehen (vgl. Gerlach, in:
Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch V, Kommentar, § 9 RdNr. 78; a. A. SG Berlin Gerichtsbescheid vom
07.07.2005 - S 81 KR 1003/05).
Eine Auslegung der streitentscheidenden Norm stützt die Ansicht der Beklagten nicht. Bereits der Wortlaut
der Vorschrift lässt die von der Beklagten angenommene Interpretation nicht zu. Der Wortlaut enthält
keinen Hinweis auf ein weitergehendes zusätzliches Tatbestandsmerkmal, welches das Beitrittsrecht
einschränkt. Selbst aus der Wendung "in der Vergangenheit" lässt sich dieses zusätzliche Tatbe-
standsmerkmal nicht herauslesen - wie das SG Berlin (a. a. O.) meint. Richtig ist zwar, dass das
Bundessozialhilfegesetz nach Art. 68 Abs. 1 Nr. 1, 70 Abs. 1 des Gesetzes zur Eingliederung des
Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch (BGBl I S 3022) zum 01.01.2005 aufgehoben worden ist, so
dass die Wendung "in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz bezogen haben" auf den ersten Blick tatsächlich etwas Selbstverständliches zum
Ausdruck bringt. Denn nach dem 01.01.2005 können auf der Rechtsgrundlage des ausgelaufenen
Gesetzes keine Leistungen mehr bezogen werden. Gleichwohl ergibt sich hieraus keineswegs zwingend,
dass der Leistungsbezug insgesamt geendet haben muss. Denn diese Wendung des Gesetzes lässt sich
auch so deuten, dass der Leistungsbezug nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht zum Stichtag
31.12.2004 geendet haben muss, sondern bereits vorher auch in der Vergangenheit geendet haben darf,
ohne dass hierdurch das Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V entfällt.
Bei der Ermittlung des Norminhalts durch Auslegung wird die Interpretation grundsätzlich allerdings nicht
durch den formalen Wortlaut beschränkt. Ausschlaggebend ist vielmehr der objektive Wille des
Gesetzgebers, soweit er wenigstens andeutungsweise im Gesetzestext einen Niederschlag gefunden hat.
Doch kann sich die Beklagte schon nicht auf den Willen des Gesetzgebers berufen. Denn schon die
Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 15/1749, S. 36) ist keineswegs eindeutig. Ausweislich dieser
Begründung soll das Beitrittsrecht nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V einem eng begrenzten Personen-
kreis ehemaliger Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz
ein einmaliges, befristetes Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung einräumen. Der
Gesetzgeber beabsichtigt durch die streitige Regelung eine Gleichstellung zwischen erwerbsfähigen
Sozialhilfeempfängern, die durch den Bezug von Arbeitslosengeld II Pflichtmitglied in der gesetzlichen
Krankenversicherung werden, und bisherigen Beziehern von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach
dem Bundessozialhilfegesetz, die vor dem Bezug von Sozialhilfe zu keinem Zeitpunkt eine
Zugangsmöglichkeit zur gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung hatten. Denn dieser
Personenkreis bezieht auch nach der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum
01.01.2005 keine die Versicherungspflicht auslösende neue Sozialleistung - im Gegensatz zu den Be-
ziehern von Arbeitslosengeld II. Auch die Gesetzesbegründung nennt an keiner Stelle das von der
Beklagten angeführte Kriterium, dass der Bezug von Leistungen nach dem SGB XII für den Beitritt zur
freiwilligen Krankenversicherung schädlich ist. Vielmehr ist danach die Gesetzesformulierung "in der
Vergangenheit" allgemein so zu verstehen, dass es sich um ehemalige Bezieher von Hilfe zum
Lebensunterhalt handelt, unabhängig davon, ob der Leistungsbezug irgendwann in der Vergangenheit
vor dem 31.12.2004 abgeschlossen war oder sich über den 31.12.2004 auf der neuen Rechtsgrundlage
des SGB XII fortsetzt. Denn auch in der Gesetzesbegründung wird an keiner Stelle verlangt, dass der
Bezug von Sozialhilfe zum damals noch vorgesehenen Stichtag 30.06.2004 (tatsächlich dann 31.12.2004)
geendet haben muss.
Aber selbst wenn man in Übereinstimmung mit der Auffassung der Beklagten und des SG Berlin (a. a. O.)
annehmen wollte, dass eine generelle Gleichstellung der Bezieher von Arbeitslosengeld II, die durch
diesen Bezug Pflichtmitglied einer gesetzlichen Krankenkasse werden, und Beziehern von Leistungen
nach dem SGB XII, nicht gewollt ist, sondern nur eine Gleichstellung im Hinblick auf die Möglichkeit, die
Vorversicherungszeit für die Fortsetzung einer Mitgliedschaft als freiwilliges Mitglied zu erwerben, kann
dies nicht ausschlaggebend sein. Denn der so verstandene Wille des Gesetzgebers hat an keiner Stelle
einen eindeutigen Niederschlag im Gesetzestext gefunden. Bietet die Gesetzesformulierung für den
gesetzgeberischen Willen keine Andeutung, ist dieser für die Auslegung des Gesetzes unmaßgeblich (vgl.
dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 163 ff., insb. S. 166).
Maßgebend für die Auslegung ist daher in diesem Fall nicht der wenig eindeutige Wille des Gesetzgebers,
sondern der dem Wortlaut nach eindeutige Gesetzestext: Ein weiteres einschränkendes
Tatbestandsmerkmal enthält der Normtext nicht. Die Wendung "in der Vergangenheit" läßt vom Wortsinn
her nicht den eindeutigen Schluss zu, dass der Leistungsbezug geendet haben muss.
Tatsächlich lässt sich auch die Gesetzesbegründung so verstehen, dass das entscheidende
Abgrenzungs- und Ausschlusskriterium zur Eingrenzung des beitrittsberechtigten Personenkreises nach §
9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nicht die Frage ist, ob der Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt vor
dem 01.01.2005 geendet hat, sondern die Frage, ob die beitrittswillige Person vor dem Sozialhilfebezug
bereits einmal privat oder gesetzlich krankenversichert war. Denn ein solcher Kranken-
versicherungsschutz kann während des Sozialhilfebezuges fortgesetzt werden. Für diesen Personenkreis
ist in Übereinstimmung mit der Gesetzesbegründung tatsächlich ein besonderes Beitrittsrecht nicht
erforderlich.
So ist von diesem Ausgangspunkt aus betrachtet auch unter dem Gesichtspunkt des Gesetzeszweckes die
von der Beklagten vorgenommene einschränkende Auslegung nicht erforderlich. Maßgebliches
Abgrenzungskriterium ist der Umstand, dass zu keinem Zeitpunkt im Leben des Antragstellers eine
gesetzliche oder private Krankenversicherung bestanden hat. Da bereits eine Familienversicherung nach
§ 10 SGB V bzw. ein früherer Anspruch auf Familienhilfe nach § 205 Reichsversicherungsordnung das
Beitrittsrecht zu Fall bringen würde (vgl. Gerlach, a. a. O., RdNr. 79), handelt es sich hierbei nach
Auffassung des Gerichts um das entscheidende Selektionskriterium zur Beschränkung des
beitrittsberechtigten Personenkreises.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht dem Ausgang des
Verfahrens.