Urteil des SozG Kassel vom 26.03.2008

SozG Kassel: gemeinsamer haushalt, berufliche tätigkeit, eheähnliche gemeinschaft, eheliche wohnung, elterliche sorge, lebensgemeinschaft, anerkennung, projekt, zeugenaussage, begriff

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 26.03.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 7 R 578/05
Hessisches Landessozialgericht L 5 R 143/08
Der Bescheid der Beklagten vom 31.03.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.11.2005 wird
aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, im Versicherungsverlauf der Klägerin weitere Berücksichtigungszeiten für
die Erziehung der Kinder CN. A. vom 01.05.1980 bis 03.10.1985 und ME. A. vom 01.05.1980 bis 10.10.1982
festzustellen.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und
Kinderberücksichtigungszeiten für die Erziehung der leiblichen Kinder ihres Ehemannes vor der Eheschließung.
Die Klägerin ist geboren 1952. Seit dem 04.10.1985 ist die Klägerin verheiratet mit dem Zeugen H. A ... Aus dessen
früherer Ehe mit Frau I. SX. sind die Kinder ME. (geboren 1972) und CN. (geboren 1996) hervorgegangen. Am
04.10.1985 schloss die Klägerin mit dem Zeugen H. A. die Ehe. Ein gemeinsamer Haushalt der Eheleute bestand
jedoch bereits seit dem 01.05.1980. Vom 1.5.1980 bis zum 03.10.1985 lebten die späteren Eheleute in nichtehelicher
Lebensgemeinschaft gemeinsam mit beiden Kindern aus der geschiedenen Ehe des Zeugen.
Mit ihrem Antrag vom 16.12.2003 begehrte die Klägerin die Überprüfung der Kindererziehungszeiten für die Kinder
ihres Ehemannes H. A., der im Antragsformular mit Unterschrift vom 07.10.2004 bestätigte, dass die Angaben der
Klägerin zur überwiegenden Erziehung seiner Kinder durch sie den tatsächlichen Verhältnissen entsprächen. Mit ihrem
Antrag begehrte die Klägerin die Berücksichtigung von Kindererziehungs- bzw. Kinderberücksichtigungszeiten für ME.
und CN ... Diese habe sie in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrem späteren Ehemann seit dem 01.05.1980 betreut
und erzogen.
Mit Bescheid vom 31.03.2005 stellte die Beklagte eine Kinderberücksichtigungszeit der Klägerin für das leibliche Kind
CN. ihres Ehemannes für die Zeit vom 04.10.1985 – 30.06.1986 fest. Im Übrigen könnten weder für CN. noch für ME.
Kindererziehungs- bzw. –berücksichtigungszeiten vor dem 04.10.1985 berücksichtigt werden, weil die Stiefkinder der
Klägerin (CN. und ME.) vor diesem Zeitpunkt noch nicht im Haushalt aufgenommen worden seien. Mit ihrem
hiergegen erhobenen Widerspruch vom 28.04.2005 machte die Klägerin geltend, sie habe die Kinder ihres Ehemannes
bereits seit dem 22.08.1979 bis zu ihrer Volljährigkeit betreut. Vor der Heirat am 04.10.1985 habe eine eheähnliche
Gemeinschaft mit ihrem Ehemann bestanden. Die Beklagte erteilte der Klägerin darauf hin den Hinweis, dass für die
Stiefkindeigenschaft lediglich die Zeit nach der Eheschließung von Bedeutung sei.
Nach den weiteren Ermittlungen der Beklagten war nach dem ihr vorliegenden Scheidungsurteil die Ehe zwischen Frau
I. A. (nunmehr: SX.) und Herrn H. A., dem Zeugen und Ehemann der Klägerin, am 03.03.1980 geschieden worden.
Das Amtsgericht Eschwege teilte der Beklagten auf ihre Anfrage mit Schreiben vom 20.07.2005 mit, die alleinige
elterliche Sorge für die Kinder ME. und CN. sei anlässlich der Scheidung auf H. A. übertragen worden. Die Beklagte
stellte ferner fest, dass im Versicherungskonto der Kindesmutter für die Kinder ME. und CN. Kindererziehungszeiten
und Kinderberücksichtigungszeiten voll angerechnet worden seien, obwohl nach Aktenlage die Kinder seit dem
01.08.1979 nicht mehr von der Mutter der Kinder erzogen worden seien. Auf eine entsprechende Anfrage der
Beklagten vom 14.07.2005 antwortete die Mutter der Kinder nicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.11.2005 wies
die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Kindererziehungszeiten seien Zeiten der
Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren (§ 56 Sozialgesetzbuch – SGB – VI); nach § 57 SGB VI
seien Kinderberücksichtigungszeiten möglich. Als erziehende Elternteile kämen auch Stiefmütter und Stiefväter im
Sinne des § 56 Abs. 3 Nr. 2 SGB I in Betracht. Nach allgemeinem Sprachgebrauch sei ein Stiefkind jedes in eine Ehe
eingebrachte Kind des anderen Ehegatten. Die Klägerin habe jedoch erst am 04.10.1985 die Ehe mit dem Kindesvater
geschlossen, sodass Kinderberücksichtigungszeiten erst ab dem Tag der Eheschließung anerkannt werden könnten.
Für den Zeitraum vor dem 04.10.1985 seien daher Kinderberücksichtigungs- bzw. –erziehungszeiten nicht
anzuerkennen.
Hiergegen richtet sich die am 16.12.2005 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage.
Die Klägerin trägt vor, sie habe am 01.05.1980 ihre berufliche Tätigkeit in vollem Umfange aufgegeben, um die Kinder
ihres späteren Ehemannes ME. und CN. zu erziehen. Die Erziehung sei ab diesem Zeitpunkt durch sie erfolgt. Seit
dieser Zeit habe ein gemeinsamer Haushalt mit den Kindern und ihrem späteren Ehemann bestanden. Vor dem
01.05.1980 und nach der Trennung der leiblichen Eltern habe die Mutter ihres Ehemannes die Kinder betreut. Die
Mutter der Kinder habe die eheliche Wohnung am 04.04.1978 verlassen.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 31.03.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 18.11.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, im Versicherungsverlauf der Klägerin weitere
Berücksichtigungszeiten für die Erziehung der Kinder CN. A. vom 01.05.1980 bis 03.10.1985 und ME. A. vom
01.05.1980 bis 10.10.1982 festzustellen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer Auffassung in den angefochtenen Bescheiden fest. Insbesondere sei erst nach der Eheschließung
der Klägerin mit dem leiblichen Vater der Kinder CN. und ME. der Status von Stiefkindern für die betreuten Kinder
erfüllt gewesen, sodass erst ab dem 04.10.1985 Kinderberücksichtigungszeiten festgestellt werden könnten. Dies sei
im Falle von CN. für die Zeit ab dem 04.10.1985 erfolgt. Der maßgebliche 10 Jahreszeitraum für die Anerkennung von
Kinderberücksichtigungszeiten bei ME. sei zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihres Alters bereits abgelaufen gewesen.
Allenfalls käme noch in Betracht, Kindererziehungs- bzw. –berücksichtigungszeiten für den Vater der Kinder bzw. die
Großmutter für die Zeit vom 04.04.1978 – 03.10.1985 anzuerkennen. Dass die Klägerin bereits vor der Eheschließung
am 04.10.1985 mit dem Vater der Kinder in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt habe, sei hierbei unerheblich.
Aufgrund einer fiktiven Berechnung einer möglichen Altersrente der Klägerin würde sich eine höhere Regelaltersrente
von 1,80 Euro monatlich bei Anerkennung der von der Klägerin begehrten Zeiten ergeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den
Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der
Entscheidung gewesen sind. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 26.03.2008 den Ehemann der
Klägerin, Herrn H. A., uneidlich als Zeugen vernommen. Wegen des Inhaltes der Zeugenaussage wird verwiesen auf
die Sitzungsniederschrift des Sozialgerichts Kassel zur mündlichen Verhandlung am 26.03.2008.
Entscheidungsgründe:
Die von der Klägerin erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist gemäß § 54 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und im Übrigen zulässig. Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat
Anspruch auf Feststellung von weiteren Berücksichtigungszeiten gemäß § 57 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI für
die Erziehung der Kinder CN. A. vom 01.05.1980 bis 30.10.1985 und ME. A. vom 01.05.1980 bis 10.10.1982, da die
Klägerin die Kinder ihres damaligen Lebensgefährten in Haushaltsgemeinschaft mit ihm und den Kindern erzogen hat.
Die Kinder ME. und CN. A. sind im Verhältnis zur Klägerin Stiefkinder im Sinne von § 56 Abs. 2 Nr. 1 SGB I.
Beitragszeiten wegen Kindererziehung im Sinne von § 56 Abs. 1 i.V.m. § 249 Abs. 1 SGB VI kommen bei der
Klägerin nicht in Betracht, da die Kinder ME. und CN. bereits am 11.10.1972 bzw. 01.07.1976 geboren sind und bei
Begründung des gemeinsamen Haushaltes der Klägerin mit den Kindern am 01.05.1980 wegen ihres Alters nicht mehr
für eine Kindererziehungszeit im Sinne von § 249 Abs. 1 SGB VI in Betracht kommen, da Kindererziehungszeiten für
ein vor dem 01.01.1992 geborenes Kind 12 Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt enden.
Festzustellen sind jedoch Kindererziehungszeiten im Sinne von § 57 Abs. 1 SGB VI. Hiernach ist die Zeit der
Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem 10. Lebensjahr bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit,
soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen.
Kindererziehungszeiten sind gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten 3
Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB I) wird eine
Kindererziehungszeit angerechnet, wenn
1. die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist, 2. die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
erfolgt oder einer solchen gleich steht und 3. der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.
Die Voraussetzungen bei der Klägerin für die Anrechnung einer Kinderberücksichtigungszeit sind – soweit die weiteren
Voraussetzungen des § 56 SGB betroffen sind – erfüllt, da der leibliche Vater der Kinder der Zuordnung der
Berücksichtigungszeit für die Klägerin zugestimmt hat, die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
erfolgte und die Klägerin auch nicht von der Anrechnung der Berücksichtigungszeit im Sinne von § 56 Abs. 4 SGB VI
ausgeschlossen ist.
Entscheidend für den Ausgang des Rechtsstreits ist somit die Frage, ob die auch für § 57 SGB VI geltende
Verweisung des § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI auf § 56 Abs. 3 Nr. 2 SGB I für die Klägerin Ansprüche eröffnet. Gemäß
§ 56 Abs. 3 Nr. 2 SGB I gelten als Eltern auch die Stiefeltern. Streitentscheidend ist somit, ob die Klägerin während
der Betreuung der leiblichen Kinder ihres späteren Ehemannes in dem Zeitraum ab dem 01.05.1980 bis zur
Eheschließung am 04.10.1985 als Stiefelternteil der leiblichen Kinder ihres späteren Ehegatten, des Zeugen H. A.,
anzusehen ist. Bei den der Entscheidung zugrundeliegenden Umständen geht die Kammer als erwiesenem
Sachverhalt davon aus, dass die Klägerin im Frühjahr 1980 in den bereits vom Zeugen H. A. im Hause seiner Eltern
unterhaltenen Haushalt mit seinen beiden leiblichen Kindern eingezogen ist. Ferner geht die Kammer davon aus, dass
die Klägerin ab dem 01.05.1980 ab Einzug in den gemeinsamen Haushalt die Kinder ME. und CN. tatsächlich erzogen
hat. Dies ergibt sich aus der Zeugenaussage ihres Ehemannes H. A., der die Angaben der Klägerin bestätigt hat.
Hiernach ist die Klägerin nach der Scheidung von seiner früheren Ehefrau im März 1980 in seinen Haushalt im Hause
seiner Eltern eingezogen. Zuvor sei die Betreuung der Kinder durch seine Mutter, die Großmutter der Kinder, erfolgt.
Sie habe jedoch bereits zu Beginn des Jahres 1980 ihre eigene Berufstätigkeit reduziert und später ganz aufgegeben,
sodass sie ab dem Zeitpunkt ihres Einzuges ins Haus seiner Eltern und damit in seinen Haushalt für die Erziehung
der Kinder gemeinsam mit ihm zuständig gewesen sei. Man habe in dieser Zeit bis zur Eheschließung am 04.10.1985
praktisch als "Ehe ohne Trauschein" gelebt. Die Klägerin sei wegen der Erziehung der Kinder uneigennützig
eingesprungen; er selbst sei weiterhin auswärts einer Berufstätigkeit nachgegangen, seine spätere Ehefrau, die
Klägerin, sei zu Hause gewesen, um die Kinder zu betreuen und den Haushalt zu führen. Nach den Ermittlungen der
Beklagten ist für die Kammer zudem erwiesen, dass mit der Scheidung von seiner früheren Ehefrau I. A. (nunmehr I.
SX.) am 03.03.1980 dem Ehemann der Klägerin das Sorgerecht für die Kinder ME. und CN. in vollem Umfang
übertragen worden ist (Auskunft des Amtsgerichts Eschwege an die Beklagte vom 20.07.2005). Zwar ergibt sich
aufgrund der vorgelegten Meldebestätigung von der Klägerin durch den Magistrat der Stadt QQ. vom 19.02.2003, dass
die Klägerin erst ab 01.07.1980 unter der Adresse ihres Ehemannes gemeldet war. Diese Meldebestätigung entkräftet
jedoch nicht die Aussage des Zeugen, wonach der Einzug der Klägerin in seinen Hausstand bereits zuvor im Frühjahr
1980 nach der rechtskräftigen Ehescheidung im März 1980 erfolgte. Denn die Meldung als Hauptwohnsitz zum
01.07.1980 bei der zuständigen Meldebehörde kann auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sein. Nach der Aussage
des Zeugen und der Einlassung der Klägerin selbst ist die Kammer damit davon überzeugt, dass ab dem 01.05.1980
die Kinderbetreuung durch sie erfolgte, und ihr späterer Ehemann, der Zeuge H. A., tagsüber einer Berufstätigkeit
nachging.
Ausgehend von diesem Sachverhalt und der tatsächlichen Erziehungsleistung der Klägerin ab dem 01.05.1980
zugunsten der leiblichen Kinder des Zeugen H. A., ihres späteren Ehemannes, ist streitentscheidend, ob die Klägerin
als Stiefelternteil im Sinne von § 56 Abs. 3 Nr. 2 SGB I angesehen werden kann. Die Beklagte hat sich darauf
berufen, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch sei ein Stiefkind jedes in die Ehe eingebrachte Kind des anderen
Ehegatten. An dieser Auffassung hat sie auch im Klageverfahren festgehalten. Erst mit der Eheschließung mit dem
Zeugen H. A. komme der Klägerin der Status eines Stiefelternteiles zu. Nach der einschlägigen Kommentarliteratur ist
Stiefelternteil, wer das leibliche oder angenommene Kind des Ehegatten, das nicht auch sein eigenes ist, in dem
gemeinsamen Haushalt mit aufgenommen hat (Kasseler Kommentar Versicherungsrecht, Görtner, § 56 RdNr. 13
zitiert nach BSG, Sozialrecht Nr. 9 zu § 1262 RVO = NJW 1963, 2341). Weitere Voraussetzung für die Annahme
eines Stiefkindschaftsverhältnisses ist die Aufnahme in den Haushalt der Erziehenden, was im vorliegenden Falle
allerdings ab dem 01.05.1980 zur Überzeugung der Kammer vorlag und im Übrigen unstreitig sein dürfte. Nach der
vom Bundessozialgericht in der zitierten Entscheidung im Jahre 1963 vorgenommenen Definition der
Stiefelterneigenschaft – und damit nach der Auffassung der Beklagten -, käme es im vorliegenden Fall somit darauf
an, wann die Eheschließung der Klägerin mit dem leiblichen Vater der erzogenen Kinder ME. und CN. A.
stattgefunden habe, da erst hiernach die Stiefelterneigenschaft der Klägerin anzunehmen wäre.
Dieser Auffassung kann die Kammer nicht folgen. Die Entscheidung des Bundessozialgerichtes, in der die in Bezug
genommene Definition der Stiefelterneigenschaft aufgenommen ist, liegt mittlerweile über 40 Jahre zurück. Die
gesellschaftlichen Veränderungen seit diesem Zeitpunkt sind im Falle der Klägerin zu berücksichtigen. Hiernach
erachtet es die Kammer für geboten, die Stiefelterneigenschaft auch einer Person zuzuordnen, die nicht mit dem
leiblichen Elternteil der erzogenen Kinder verheiratet ist. Vielmehr reicht die Begründung einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft, die auf Dauer angelegt ist und einen gegenseitigen Einstehenswillen der Partner füreinander
begründet, für die Anerkennung einer Stiefelterneigenschaft im Sinne von § 56 Abs. 3 Nr. 2 SGB I und damit auch für
die Anerkennung einer Berücksichtigungszeit im Sinne von § 57 SGB VI aus, soweit die übrigen Voraussetzungen
(Aufnahme in den Haushalt und tatsächliche Erziehung der Kinder) bei der erziehenden Person erfüllt sind. Die
Berufung der Beklagten auf den allgemein Sprachgebrauch der Stiefelternschaft überzeugt nicht und trifft im Übrigen
zur Überzeugung der Kammer nicht zu. Vielmehr handelt es sich bei der Stieffamilie um eine Familie, in der ein Kind
lebt, das nur von einem Partner abstammt (vgl. Brockhaus ? zum Stichwort Stieffamilie). Hiernach ist der Begriff der
Stieffamilie nicht an bestimmte Rechtsformen (wie z.B. die Ehe) gebunden, sondern vielmehr mit der sozialen
Funktion der Familie verknüpft, in die das Kind aufgenommen ist. Mit dem Begriff der Stieffamilie wird eine Vielzahl
unterschiedlicher Familienformen bezeichnet, denen jedoch eines gemeinsam ist: Zu den beiden leiblichen Elternteilen
kommt mindestens ein sozialer Elternteil hinzu oder ein verstorbener Elternteil wird durch einen sozialen Elternteil
ersetzt. Im Anschluss an eine Trennung der Eltern spielt sich das Familienleben in verschiedenen Haushalten ab. Es
gibt den Haushalt, in dem das Kind mit einem leiblichen Elternteil wohnt, bei dem es die meiste Zeit lebt
(Alltagsfamilie). Daneben besteht oft der Haushalt des außerhalb lebenden Elternteils, den das Kind in den Ferien oder
an den Wochenenden besucht (Wochenendfamilie). In beiden Haushalten können neue Partner als soziale Elternteile
hinzutreten, wodurch eine Stiefkonstellation entsteht. Diese Sichtweise fokussiert nicht nur auf die eheliche
Stieffamilie, sondern schließt auch nichtehelich zusammenlebende und Paare mit getrennten Haushalten ein und
betont die haushaltsübergreifende Struktur heutiger Stieffamilien (Quelle: Deutsches Jugendinstitut e.V.,
Nockherstraße 2, 81541 München, "Projekt: Stieffamilien in Deutschland", weiteres Projekt "Wandel und Entwicklung
familialer Lebensformen" im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, vgl.
www.dji.de zum Thema "Projekte").
Ergibt sich somit bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch entgegen der Auffassung der Beklagten kein
Anhaltspunkt dafür, dass ein Stiefelternteil erst dann ein Stiefelternteil ist, wenn er mit dem leiblichen Elternteil
verheiratet ist, so vermag die Kammer auch andere sachliche Differenzierungskriterien nicht zu erkennen, die
denjenigen Partner in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die auf Dauer angelegt ist, von einem Lebenspartner
in einer ehelichen Lebensgemeinschaft, der die nicht leiblichen Kinder des Partners erzieht, unterscheidet. Die §§ 56
f. SGB VI regeln die Anerkennung von Zeiten der Erziehung eines Kindes zur sozialen Absicherung der Erziehenden
in einer Phase, in der die Betreuung des Kindes anderweitig nicht in Betracht kommt. Der Gesetzgeber geht hierbei
davon aus, dass die Kindererziehung eine Leistung im Interesse der Gesellschaft ist und dem Staat eine besondere
Verpflichtung obliegt, Familien mit Kindern materiell zu unterstützen. Mit ihnen soll dem Umstand Rechnung getragen
werden, dass in Familien mit kleinen Kindern vielfach ein Ehegatte – häufig die Frau – während der Kindererziehung
gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, eigene Rentenansprüche aufzubauen (Kasseler Kommentar, Günther,
§ 56 RdNr. 4). Erziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung sind
somit als entscheidender Beitrag zu einer Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau gedacht.
Kinderberücksichtigungszeiten stehen somit demjenigen Elternteil zu, der das Kind tatsächlich erzogen hat, dem die
Zeiten der Erziehung zuzuordnen sind oder zugeordnet werden. Hierbei ist die Berechtigung zur Personensorge im
Sinne von § 1626 BGB für die Begründung der Elterneigenschaft im Sinne des § 56 SGB I unerheblich. Entscheidend
ist neben der familienrechtlichen Stellung allein die tatsächliche Erziehung, die auch von einem
nichtsorgeberechtigten Elternteil ausgeübt werden kann (Kasseler Kommentar, Gürtner, RdNr. 10 zu § 56 SGB VI).
Diese Voraussetzungen der tatsächlichen Erziehung durch die Klägerin der Kinder für die Zeit ab dem 01.05.1980
liegen zur Überzeugung der Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor. Die Klägerin hat auch – wie es
sich ebenfalls aus der Beweisaufnahme ergibt – ihre ursprüngliche berufliche Tätigkeit als Köchin in vollem Umfange
aufgegeben, um sich der Haushaltsführung und damit der Erziehung der Kinder ihres späteren Ehemannes, des
Zeugen H. A., in der damaligen nichtehelichen Lebensgemeinschaft ab dem 01.05.1980 zu widmen. Damit sind die
tatsächlichen Erziehungszeiten der Klägerin ab dem 01.05.1980 im Sinne von § 249 Abs. 5 i.V.m. § 57 SGB VI
glaubhaft gemacht. Dass die Lebensgemeinschaft der Klägerin mit dem Zeugen H. A. auf Dauer angelegt war und ihr
ein gegenseitiger Einstandwille zugrundelag, ergibt sich vorliegend aus der rückschauend festzustellenden
Eheschließung wenige Jahre nach Begründung des gemeinsamen Haushaltes. Der Anerkennung von
Kinderberücksichtigungszeiten bei der Klägerin ab dem 01.05.1980 im geltend gemachten Umfang steht nicht
entgegen, dass die Beklagte offenbar im Versicherungsverlauf der leiblichen Mutter der Kinder ebenfalls
Kinderberücksichtigungszeiten festgestellt hat. Eine Beiladung der leiblichen Mutter der Kinder nach § 75 Abs. 2 SGG
war nicht erforderlich, da die Berücksichtigung von Kinderberücksichtigungszeiten bei der Klägerin und der leiblichen
Mutter nicht in einem Alternativverhältnis stehen, sondern allein von den tatsächlichen Gegebenheiten der Erziehung
der Kinder, wie sie bei der Klägerin vorliegen, abhängen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.