Urteil des SozG Kassel vom 21.01.2010

SozG Kassel: aufschiebende wirkung, zumutbare arbeit, hauptsache, vollziehung, rechtsverletzung, existenzminimum, sanktion, gerichtsakte, anfechtungsklage, menschenwürde

Sozialgericht Kassel
Beschluss vom 21.01.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 6 AS 373/09 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 01.12.2009 gegen den Sanktionsbescheid der
Antragsgegnerin vom 16.11.2009 wegen des Abbruchs der Trainingsmaßnahme beim Ausbildungsverbund "XY." wird
angeordnet.
Die Aufhebung der Vollziehung des Sanktionsbescheids vom 16.11.2009 wird vorläufig angeordnet.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen einen Sanktionsbescheid.
Der 1983 geborene Antragsteller erhält seit Mai 2009 Leistungen nach dem SGB II.
Am 13.05.2009 wurde dem Antragsteller ein Vermittlungsvorschlag für eine Tätigkeit als Helfer im Lager übersandt.
Der Vermittlungsvorschlag war mit einer Rechtsfolgenbelehrung versehen, auf die hingewiesen wird (Bl. 24a
Verwaltungsakte).
Am 28.05.2009 übersandte die Antragsgegnerin dem Antragsteller einen Vermittlungsvorschlag für eine Tätigkeit als
Hausmeister. Auf Bl. 58b der Verwaltungsakte wird hingewiesen.
Da sich der Antragsteller auf den Vermittlungsvorschlag als Helfer im Lager nicht beworben habe, wurde er am
04.06.2009 nach § 24 SGB X zum Vorwurf angehört, einen Sanktionstatbestand verwirklicht zu haben (Bl. 27
Verwaltungsakte).
Mit Einladungsschreiben vom 23.06.2009 wurde der Antragsteller zur Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme
ab dem 06.07.2009 eingeladen. Das Einladungsschreiben enthielt auf der Rückseite eine Rechtsfolgenbelehrung, auf
welche verwiesen wird (Bl. 54d Verwaltungsakte).
Der Antragsteller ging zu dieser Maßnahme jedoch nicht hin und wurde mit Schriftsatz vom 06.07.2009 nach § 24
SGB X hierzu angehört (Bl. 56 Verwaltungsakte).
Mit Sanktionsbescheid vom 09.07.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen des Antragsteller für die Zeit vom
01.08.2009 bis 31.10.2009 um monatlich 30 von Hundert der maßgeblichen Regelleistung ab, da sich der Antragsteller
am 13.05.2009 geweigert habe, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Er habe sich auf den Vermittlungsvorschlag als
Lagerhelfer nicht beworben (Bl. 34 Gerichtsakte).
Da der Antragsteller sich nicht auf die Stelle als Hausmeister beworben habe, wurde der Antragsteller am 15.07.2009
zum Vorwurf der Verwirklichung eines Sanktionstatbestands angehört (Bl. 61 Verwaltungsakte). Hierauf antworte der
Antragsteller, dass er Probleme gehabt habe, um die er sich zunächst habe kümmern müssen (Bl. 62
Verwaltungsakte).
Ausweislich eines Vermerks der Antragsgegnerin vom 27.07.2009 soll der Antragsteller hinsichtlich seiner
Abwesenheit bei der Trainingsmaßnahme mitgeteilt haben, an dieser kein Interesse zu haben (Bl. 54
Verwaltungsakte).
Mit Sanktionsbescheid vom 11.08.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom
01.09.2009 bis 30.11.2009 um monatlich 30 von Hundert der maßgeblichen Regelleistung ab, da sich der Antragsteller
trotz Belehrung über die Rechtsfolgen ohne wichtigen Grund nicht auf die Stelle als Hausmeister beworben habe (Bl.
67 Verwaltungsakte).
Mit Sanktionsbescheid ebenfalls vom 11.08.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II für die
Zeit vom 01.09.2009 bis 30.11.2009 um monatlich 30 von Hundert der maßgeblichen Regelleistung ab, da der
Antragsteller trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht an der Trainingsmaßnahme teilgenommen habe (Bl. 70
Verwaltungsakte).
Am 12.08.2009 schlossen der Antragsteller und die Antragsgegnerin eine Eingliederungsvereinbarung, in welcher sich
der Antragsteller verpflichtete vom 24.08.2009 bis 23.10.2009 beim Ausbildungsverbund X. eine Trainingsmaßnahme
zu absolvieren. Die Eingliederungsvereinbarung war mit einer Rechtsfolgenbelehrung versehen, auf welche verwiesen
wird (Bl. 105 Verwaltungsakte).
Am 14.09.2009 teilte eine Mitarbeiterin des Ausbildungsverbunds "XY." der Antragsgegnerin mit, dass der
Antragsteller seit dem 07.09.2009 nicht mehr an der Maßnahme teilnehme (Bl. 106a Verwaltungsakte).
Am 17.09.2009 beendete das Ausbildungsinstitut mit sofortiger Wirkung die Maßnahme (Bl. 108 Verwaltungsakte).
Da der Antragsteller zu Meldeterminen am 28.08.2009, 06.10.2009 und 16.10.2009 nicht erschien, wurde er am
22.10.2009 zum Vorwurf, erneut Sanktionstatbestände verwirklicht zu haben, angehört (Bl. 97 Verwaltungsakte).
Am 04.11.2009 teilte der Antragsteller mit, dass er zu den Terminen am 28.08.2009 und 06.10.2009 nicht erschienen
sei, da er kein Geld für den Bus gehabt habe (Bl. 98 Verwaltungsakte).
Mit Sanktionsbescheid vom 16.11.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom
01.12.2009 bis 28.02.2009 um 60 von Hundert der maßgebenden Regelleistung und damit um einen Betrag in Höhe
von 215,40 EUR ab, da der Antragsteller die Trainingsmaßnahme beim Ausbildungsverbund "XY." trotz Belehrung
über die Rechtsfolgen abgebrochen habe (Bl. 120 Verwaltungsakte). Dem Bescheid ist als Zusatz zu entnehmen:
"Ergänzende Sachleistungen: Auf Antrag können Ihnen in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder
geldwerte Leistungen – insbesondere in Form von Lebensmittelgutscheinen – gewährt werden."
Mit Sanktionsbescheid ebenfalls vom 16.11.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II für die
Zeit vom 01.12.2009 bis 28.02.2010 um monatlich 10 von Hundert der maßgeblichen Regeleistung und damit um
einen Betrag von weiteren 35,90 EUR ab, da der Antragsteller trotz Belehrung über die Rechtsfolgen zum Meldetermin
am 28.09.2009 ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei (Bl. 122 Verwaltungsakte). Auch dieser Bescheid enthielt
den Hinweis, dass auf Antrag ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt werden könnten.
Mit einem weiteren Sanktionsbescheid vom 16.11.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II
für die Zeit vom 01.12.2009 bis 28.02.2010 um monatlich 10 von Hundert der maßgeblichen Regeleistung und damit
um einen Betrag von weiteren 35,90 EUR ab, da der Antragsteller trotz Belehrung über die Rechtsfolgen zum
Meldetermin am 06.10.2009 nicht erschienen sei (Bl. 124 Verwaltungsakte).
Einem Leistungsbescheid vom 16.11.2009 ist zu entnehmen, dass sich hieraus für die Zeit vom 01.12.2009 bis
28.02.2009 ein Minderungsbetrag in Höhe von monatlich 287,20 EUR ergab (Bl. 126a Verwaltungsakte).
Mit Sanktionsbescheid vom 01.12.2009 senkte die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom
01.01.2010 bis 31.03.2010 um weitere 10 von Hundert der maßgeblichen Regelleistung und damit um einen Betrag
von weiteren 35,90 EUR ab. Auch dieser Bescheid wies auf die Möglichkeit hin, ergänzende Sachleistungen zu
beantragen (Bl. 131 Verwaltungsakte).
Ausweislich eines Änderungsbescheids vom 01.12.2009 ergab sich hieraus ein Minderungsbetrag für die Zeit vom
01.01.2010 bis 28.02.2010 in Höhe von 323,10 EUR (Bl. 134 Verwaltungsakte).
Mit Schriftsätzen vom 01.12.2009 bat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers um Überprüfung der
bestandskräftigen Sanktionsbescheide vom 09.07.2009 und 11.08.2009 nach § 44 SGB X und legte gegen die
Sanktionsbescheide vom 16.11.2009 Widerspruch ein (Bl. 136 ff. Verwaltungsakte).
Am 09.12.2009 hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers wegen des Sanktionsbescheids anlässlich des
Abbruchs der Trainingsmaßnahme einen einstweiligen Rechtsschutzantrag beim hiesigen Sozialgericht Kassel
gestellt. Das Verfahren wird unter dem hiesigen Aktenzeichen geführt.
Wegen der anderen Sanktionsbescheide vom 16.11.2009 und des Sanktionsbescheids vom 01.12.2009 hat der
Antragsteller ein weiteres einstweiliges Rechtsschutzverfahren beim Sozialgericht Kassel angestrengt, welches unter
dem Az. S 6 AS 386/09 ER geführt wird.
Der Prozessbevollmächtigte hat den Antrag im Wesentlichen damit begründet, dass der Antragsteller kein Geld
gehabt habe, um mit dem öffentlichen Nahverkehr zur Trainingsmaßnahme zu fahren. Auch habe die Antragsgegnerin
gegen § 31 Abs. 3 S.6 SGB II verstoßen, da sie mit dem Sanktionsbescheid gleichzeitig über ergänzende
Sachleistungen hätte entscheiden müssen. Der Hinweis in dem Sanktionsbescheid, ergänzende Sachleistungen
beantragen zu können, sei nicht ausreichend.
Der Antragsteller beantragt, 1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 01.12.2009 gegen den
Absenkungsbescheid vom 16.11.2009 wegen des Abbruchs der Maßnahme beim Ausbildungsverbund "XY."
anzuordnen und
2. die Aufhebung der Vollziehung des Absenkungsbescheides vom 16.11.2009 durch die Auszahlung der
absenkungsbedingt einbehaltenen Leistungen anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt, die Anträge abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und
auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg. Der zulässige Antrag ist begründet.
Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache nämlich auf Antrag in den Fällen, in denen der
Widerspruch und die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder
teilweise anordnen. Widersprüche gegen Sanktionsbescheide haben gem. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 1
SGB II keine aufschiebende Wirkung, weil solche Verwaltungsakte Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitssuchende herabsetzen (Conradis in: Münder (Hrsg.), LPK-SGB II, 3. A. 2009, § 39 Rn. 5). Der Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Sanktionsbescheid war mithin statthaft.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, wenn nach einer Abwägung zwischen dem
privaten Interesse des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und dem Interesse der
Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung das private Interesse überwiegt (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche
Eilverfahren, 2. A. 2008, Rn. 189 ff., 227). Bei der Interessenabwägung sind vor allem die Erfolgsaussichten des
Rechtsbehelfs in der Hauptsache und die Schwere einer möglichen Rechtsverletzung im Interimszeitraum von
Bedeutung. Welche Wahrscheinlichkeitsanforderungen hinsichtlich des Erfolgs in der Hauptsache im Einzelfall zu
fordern sind, hängt von der Schwere einer möglichen Rechtsverletzung im Interimszeitraum ab (Krodel, a.a.O., Rn.
192 f.).
Erweist sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig, so ist die aufschiebende Wirkung von
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Bescheid anzuordnen. Ist der angefochtene Bescheid hingegen
offensichtlich rechtmäßig, so ist der Antrag im Regelfall abzulehnen.
Im Falle einer solchen Orientierung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache muss das Gericht in den Fällen, in
denen das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und
eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, die Sach- und Rechtslage nicht
nur summarisch, sondern abschließend prüfen (BVerfG, Kammerbeschluss v. 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Ist eine
vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, muss das Gericht eine umfassende
Folgenabwägung vornehmen (BVerfG, a.a.O; s. auch: Krodel, a.a.O., Rn. 204, 407).
Die Abwägung sämtlicher für und gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu berücksichtigender Belange
hat vorliegend ein Überwiegen des Suspensivinteresses des Antragstellers zur Folge.
Der Sanktionsbescheid vom 16.11.2009 ist nämlich nach Überzeugung des Gerichts rechtswidrig. Hierbei kann es
dahinstehen, ob der Antragsteller durch den Maßnahmenabbruch – wofür viel spricht – die tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 S.1 Nr. 1 lit. c) SGB II verwirklicht hat, da die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall
jedenfalls gegen § 31 Abs. 3 S. 6 SGB II verstoßen hat, weshalb der Sanktionsbescheid rechtswidrig ist.
Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 von Hundert der nach § 20 maßgeblichen Regelleistung
kann der zuständige Leistungsträger nach § 31 Abs. 3 S. 6 SGB II in angemessenem Umfang ergänzende
Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Die Entscheidung über die Sanktion einerseits und die
Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen andererseits sind eigenständige Verwaltungsakte
(LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 09.09.2009, L 7 B 211/09 AS ER, juris; SG Kassel, Beschluss v.
18.11.2009, S 3 AS 322/09 ER, juris). Das SGB II verknüpft die Sanktionsentscheidung und die Entscheidung über
die ergänzenden Leistungen in zeitlicher Hinsicht nicht, so dass die Entscheidung über die Gewährung von
Sachleistungen der Sanktion auch zeitlich nachfolgen kann (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 09.09.2009, L 7
B 211/09 AS ER, juris; SG Kassel, Beschluss v. 18.11.2009, S 3 AS 322/09 ER, juris). Die Entscheidung über die
ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen ist von Amts wegen zu treffen. Ein gesonderter Antrag ist
nicht Entscheidungs- und Leistungsvoraussetzung. Ein solches Antragserfordernis ergibt sich nicht aus dem Gesetz.
Auch wird das durch den Leistungsantrag begründete Sozialrechtsverhältnis durch die Sanktionsentscheidung weder
beendet noch unterbrochen (Berlit in: Münder (Hrsg.), LPK-SGB II, 3. A. 2009, § 31 Rn. 106). Ob der Leistungsträger
von Verfassungswegen stets verpflichtet ist, bei einer Sanktionshöhe von über 30 von Hundert der maßgeblichen
Regelleistung zugleich nach § 31 Abs. 3 S.6 SGB II zu entscheiden (in diese Richtung wohl: SG Kassel, Beschluss
v. 18.11.2009, S 3 AS 322/09 ER, juris, Rn. 24 f.), muss im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. Dem
Wortlaut des § 31 Abs.3 S.6 SGB II ist jedenfalls zu entnehmen, dass die Bewilligung dieser Leistungen bei Erfüllung
der tatbestandlichen Voraussetzungen im pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers steht. Der dem
Leistungsträger eingeräumte Ermessenspielraum verringert sich nämlich auf der Rechtsfolgenseite mit zunehmender
Sanktionshöhe (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 16.12.2008, L 10 B 2154/08 AS ER, juris, Rn. 10).
Jedenfalls in Fällen, in denen eine oder mehrere Sanktionen zur Folge haben, dass ein ganz überwiegender Teil der
Regelleistung für den Leistungszeitraum entfällt, reduziert sich das dem Leistungsträger eingeräumte Ermessen
derart, dass dieser nur dann rechtmäßig handelt, wenn er die anstelle der Geldleistungen vorgesehenen Leistungen
bewilligt und diese Entscheidung zeitgleich mit der Sanktionsentscheidung trifft (in diese Richtung auch: LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss v. 16.12.2008, L 10 B 2154/08 AS ER).
Dieses Erfordernis einer solchen verfassungskonformen Ermessensausübung bei der Anwendung von § 31 Abs. 3 S.6
SGB II ergibt sich (vgl. hierzu auch: SG Kassel, Beschluss v. 18.11.2009, S 3 AS 322/09 ER, Rn. 26, sowie: LSG
Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 09.09.2009, L 7 B 211/09 AS ER, Rn. 12 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss
v. 16.12.2008, L 10 B 2154/08 AS ER) aus der Bedeutung der Rechtspositionen, in die die Sanktionsentscheidungen
eingreifen und hierbei insbesondere aus der verfassungsrechtlich gewährten Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1
Grundgesetz (GG) und der Verpflichtung des Staates zum Schutz der körperlichen Integrität "seiner" Bürger (Art. 2
Abs. 2 GG). Mit der Gewährung der Regelleistung löst der Gesetzgeber den Anspruch ein, den Bedürftigen ein
soziokulturelles Existenzminimum zu garantieren und eröffnet ihnen durch die Gewährung als Geldleistung die
Möglichkeit, im bescheidenen Umfang Auswahlentscheidungen zu treffen. Diesen Anspruch situationsabhängig, d.h.
im Falle der Verwirklichung von Sanktionstatbeständen, zu beschränken, ist dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht
untersagt. Dem Bedürftigen muss jedoch in jedem Falle ein Leistungsniveau im Umfang des zur physischen Existenz
Unerlässlichen verbleiben (sog. physisches Existenzminimum, vgl. BSG, Urteil v. 22.04.2008, B 1 KR 10/07; LSG
Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.12.2009, L 7 B 409/09 AS ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v.
16.12.2008, L 10 B 2154/08 AS ER; SG Kassel, Beschluss v. 18.11.2009, S 3 AS 322/09 ER; s. zur Kritik dieser
Figur und für eine unantastbare Garantie des soziokulturellen Existenzminimums: Hessisches LSG, Vorlagebeschluss
v. 29.10.2008, L 6 AS 336/07, Rn.96 ff.). Daraus folgt – wie bereits ausgeführt wurde –, dass die
Ermessensspielräume nach § 31 Abs. 3 S.6 SGB II mit der Sanktionshöhe umso kleiner werden.
Da die Antragsgegnerin die Leistungen nach dem SGB II am 16.11.2009 mit den drei Sanktionsbescheiden insgesamt
um 80 von Hundert der maßgeblichen Regelleistung abgesenkt hat, bestand die erhebliche Gefahr, dass sich der
Antragsteller keine Lebensmittel kaufen konnte. Es war im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben daher
ermessensfehlerhaft, den Antragsteller in dem Sanktionsbescheid auf einen Antrag auf ergänzende Leistungen zu
verweisen. Die Antragsgegnerin hätte angesichts dieser Sanktionshöhe über die ergänzenden Leistungen nach
Überzeugung des Gerichts zwingend zeitgleich mit dem Sanktionsbescheid entscheiden müssen. Weiterhin ist der
rechtliche Hinweis in dem Bescheid, dass die ergänzenden Leistungen nur auf Antrag gewährt werden, rechtlich
unzutreffend.
Der Sanktionsbescheid ist wegen dieser Gründe als rechtswidrig anzusehen, weshalb das Suspensivinteresse des
Antragstellers überwog.
Weiterhin waren die einbehaltenen Leistungen vorläufig nach § 86b Abs. 2 S.2 SGG zurückzugewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr.1 SGG in Verbindung mit § 144 Abs. 1 SGG).