Urteil des SozG Kassel vom 07.11.2007

SozG Kassel: insolvenz, eigenes verschulden, arbeitsentgelt, sorgfalt, abgabe, obliegenheit, nachfrist, arbeitslohn, beauftragter, fahrlässigkeit

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 07.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 7 AL 2474/04
1) Der Bescheid der Beklagten vom 10.11.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2004 wird
aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin antragsgemäß Insolvenzgeld nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
2) Die Beklagte hat der Klägerin ihre Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Insolvenzgeld bei verspätet bei der Beklagten eingegangenem Antrag.
Die Klägerin ist geboren 1953. Mit ihrem am 25.10.2004 bei der Beklagten eingegangenen Antrag auf Insolvenzgeld
begehrte sie die Gewährung von Insolvenzgeld für Ansprüche auf Arbeitsentgelt gegen ihren insolvent gewordenen
Arbeitgeber P. A., über dessen Unternehmen (Bekleidungsgeschäft) mit Beschluss des Amtsgerichts Korbach (Az. 10
In 28/04) vom 27.07.2004 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Die Klägerin war zuvor als kaufmännische
Angestellte sozialversicherungspflichtig tätig gewesen. Der Tag der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit
wurde mit dem 24.04.2004 angegeben. Die Klägerin machte geltend, das ihr zustehende Arbeitsentgelt für den
Zeitraum vom 01.01.2004 – 24.04.2004 in Höhe von jeweils 649,66 Euro brutto monatlich aufgrund der Insolvenz des
Arbeitgebers nicht mehr erhalten zu haben. Die Klägerin ist die Ehefrau des Betriebsinhabers. Die Insolvenz-
Verwalterin über das Vermögen des Arbeitgebers teilte der Beklagten mit Schreiben vom 22.10.2004 mit, die
ausgefüllten Insolvenzgeld-Antragsformulare sämtlicher Arbeitnehmerinnen des Insolvenzbetriebes seien im Büro der
Insolvenz-Verwalterin leider versehentlich falsch abgeheftet worden, so dass sie erst jetzt nach ihrem Auffinden
abgegeben würden. Die Insolvenz-Verwalterin bat die Beklagte mit ihrem Schreiben vom 22.10.2004 unter
Überreichung der Insolvenzgeld-Anträge sämtlicher Arbeitnehmerinnen, darunter den Antrag der Klägerin, mit
beigefügter Insolvenzbescheinigung um die Bearbeitung der Insolvenzgeld-Anträge. Zuvor hatte die Insolvenz-
Verwalterin mit Schreiben vom 17.05.2004 die Insolvenzgeld-Antragsformulare für die insgesamt 5 Angestellten des
Betriebes dem insolventen Arbeitgeber zugeleitet mit der Bitte, diese Anträge von den Angestellten ausfüllen zu
lassen und unterschrieben an die Insolvenz-Verwalterin zurückzusenden. Die von den Angestellten des insolventen
Arbeitgebers mit den persönlichen Daten versehenen und unterschriebenen Insolvenzgeld-Anträge wurden noch im
Mai bzw. Juni 2004 an den Arbeitgeber übergeben, der sie hiernach der Insolvenz-Verwalterin entsprechend ihrer
Aufforderung übergab. Eine Abgabe der Insolvenzgeld-Anträge durch die Insolvenz-Verwalterin unterblieb jedoch in der
Zeit von Mai bis Oktober 2004 aufgrund des Büroversehens. Mit Schreiben vom 04.11.2004 teilte die Beklagte der
Klägerin mit, dass die Ausschlussfrist von 2 Monaten von dem Tag der Insolvenzeröffnung bis zur Antragstellung
überschritten sei und hörte die Klägerin dazu an, welche Bemühungen sie zur Durchsetzung ihrer Ansprüche
unternommen habe. Mit Bescheid vom 10.11.2004 lehnte die Beklagte schließlich den Antrag der Klägerin auf
Gewährung von Insolvenzgeld mit der Begründung ab, der Insolvenzgeld-Antrag der Klägerin hätte binnen zweier
Monate nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 27.07.2004, somit spätestens bis zum 27.09.2004, bei der
Beklagten eingehen müssen. Der Antrag sei jedoch erst später eingegangen. Eine Nachfrist sei der Klägerin nicht
einzuräumen, da sie rechtzeitig Kenntnis vom Insolvenzereignis erlangt habe. Mit ihrem Widerspruch vom 08.11.2004
machte die Klägerin geltend, den von ihr ausgefüllten Insolvenzgeld-Antrag bereits im Mai 2004 beim insolventen
Arbeitgeber abgegeben zu haben, der seinerseits das ausgefüllte Antragsformular an die Insolvenz-Verwalterin Anfang
Mai 2004 bzw. Anfang Juni 2004 weitergeleitet habe, damit diese die Anträge ihrerseits an die Beklagte senden
könne. Der Klägerin sei daher die Ablehnung ihres Insolvenzgeld-Antrages unverständlich, ebenso sei ihr
unverständlich, warum ihr Antrag erst am 25.10.2004 bei der Beklagten eingegangen sei. Sie habe darauf vertraut,
dass die Insolvenz-Verwalterin die Anträge - wie von ihr angekündigt - an die Beklagte weiterleiten werde. Mit
Widerspruchsbescheid vom 30.11.2004 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Der
Antrag auf Insolvenzgeld sei verspätet gestellt worden. Die Übergabe des Insolvenzgeld-Antragsformulars an den
Arbeitgeber in der Annahme, er oder seine Insolvenzverwalterin werde ihn bei der Beklagten fristgerecht einreichen,
genüge nicht. Das Verschulden des Arbeitgebers bzw. der Insolvenz-Verwalterin sei der Klägerin zuzurechnen, so
dass die Klägerin die Versäumung der Insolvenzgeld-Antragsfrist zu vertreten habe.
Hiergegen richtet sich die am 09.12.2004 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage.
Die Klägerin ist der Auffassung, sie habe sich mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung ihrer Insolvenzgeld-
Anträge bemüht. Sie habe im guten Glauben auf die Weiterleitung des Antrages durch den Arbeitgeber bzw. der
Insolvenz-Verwalterin vertraut. Sie habe auch keinen Grund gehabt, der Insolvenz-Verwalterin als in diesem Verfahren
tätige Rechtsanwältin nicht zu vertrauen. Im Übrigen habe sie keine Erfahrung in solchen Verfahren gehabt. Die
Klägerin steht daher auf dem Standpunkt, die Ausschlussfrist von 2 Monaten schuldlos versäumt zu haben. Darüber
hinaus habe sie von einer Insolvenzgeld-Antrags-Frist keine Kenntnis gehabt, diese sei ihr nicht mitgeteilt worden. Ein
Merkblatt der Beklagten habe sie nicht erhalten. Sie habe keine Zweifel an der rechtzeitigen Einreichung ihres
Insolvenzgeld-Antrages gehegt, auch nicht aus dem Grunde, dass in den Monaten nach Mai 2004 von Seiten der
Beklagten keine Reaktion erfolgt sei. Eine Veranlassung, bei der Beklagten nachzufragen, habe sie nicht gehabt, weil
sie in gutem Glauben gewesen sei, dass das Insolvenzgeld bewilligt werden würde. Ein Kontakt zur Beklagten habe
im Übrigen nicht bestanden, da sie nach der vollständigen Einstellung des Betriebes nicht arbeitslos geworden sei und
daher auch keinen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt habe.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 10.11.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 30.11.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr antragsgemäß Insolvenzgeld nach Maßgabe der
gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer Auffassung im angefochtenen Bescheid und Widerspruchsbescheid fest. Eine Nachfrist sei der
Klägerin nicht einzuräumen, da die Klägerin die Ausschlussfrist von 2 Monaten versäumt und dieses Versäumnis
auch zu vertreten habe. Die Fahrlässigkeit der Insolvenz-Verwalterin, die zur verspäteten Abgabe der Insolvenzgeld-
Anträge geführt habe, sei der Klägerin zuzurechnen. Die Klägerin sei zumindest verpflichtet gewesen, bei der
Beklagten nachzufragen, ob ihr Antrag eingegangen sei. Die Klägerin habe sich jedoch ausschließlich auf das
Insolvenzbüro verlassen. Eine unbillige Härte im Sinne von § 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III liege nicht vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den
Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der
Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 54 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage ist zulässig. Sie ist auch
begründet.
Der angefochtene Bescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten. Denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld für den Insolvenzgeld-Zeitraum
vor dem 24.04.2004.
Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) III haben Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn
sie im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers
(Insolvenzereignis) für die vorausgehenden 3 Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt
haben. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin unstreitig vor, da nach dem Beschluss des Amtsgerichts
Korbach vom 27.07.2004 (Az. 10 In 28/04) am 27.07.2004 das Insolvenz-Verfahren eröffnet worden ist, und der
Arbeitslohn der Klägerin bereits seit dem 1.1.2004 ausstand. Für die der Betriebseinstellung am 24.04.2004
vorangegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses hat die Klägerin somit Anspruch auf Insolvenzgeld für ihre
noch bestehenden Ansprüche auf Arbeitsentgelt gegenüber dem früheren Arbeitgeber.
Die Beklagte kann sich entgegen ihrer Auffassung nicht auf ein Verschulden der Klägerin für die verspätete
Antragstellung auf Gewährung von Insolvenzgeld berufen. Gemäß § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III werden Leistungen der
Arbeitsförderung, zu denen das Insolvenzgeld zählt (§ 3 Abs. 1 Nr. 10 SGB III), nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des
leistungsbegründenden Ereignisses beantragt worden sind. Zur Vermeidung unbilliger Härten kann die Agentur für
Arbeit eine verspätete Antragstellung zulassen (§ 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III). Abweichend vom Grundsatz des § 324
Abs. 1 Satz 1 SGB III ist gemäß § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III Insolvenzgeld innerhalb einer Ausschlussfrist von 2
Monaten nach dem Insolvenzereignis zu beantragen. Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er
nicht zu vertreten hat, wird Insolvenzgeld gemäß § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III geleistet, wenn der Antrag innerhalb
von 2 Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt wird. Nach § 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III hat der
Arbeitnehmer die Versäumung der Frist im Sinne des Satzes 2 zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen
Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat.
Die Klägerin hat die Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III versäumt. Maßgebendes Insolvenzereignis ist gemäß §
183 Abs. 1 Nr. 1 SGB III der Beschluss des Amtsgerichts Korbach vom 27.07.2004 über die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über den Arbeitgeber der Klägerin. Die Ausschlussfrist begann damit am 28.07.2004 und endete
mit Ablauf des 27.09.2004 (§ 26 SGB X i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Der Antrag auf Insolvenzgeld ist
jedoch erst am 25.10.2004 bei der Beklagten eingegangen.
Hierbei hält es die Kammer für erwiesen, dass die Insolvenzverwalterin des Arbeitgebers (ihrerseits durch ihren
beauftragten Angestellten) gegenüber dem insolventen Arbeitgeber erklärt hat, es übernehmen zu wollen, die
Insolvenzgeld-Anträge sämtlicher Arbeitnehmerinnen an die Arbeitsagentur weiterzuleiten. Der von der Insolvenz-
Verwalterin dem Arbeitgeber ausgehändigte Antragsvordruck ist von der Klägerin eigenhändig mit ihren persönlichen
Daten ausgefüllt und dem Arbeitgeber übergeben worden, der ihn seinerseits an die Insolvenz-Verwalterin
weitergeleitet hat. Dieser Vorgang ist im Mai 2004 erfolgt. Nach dem Beschluss des Amtsgerichts Korbach vom
27.07.2004 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über den Arbeitgeber ist jedoch die Weiterleitung der
ausgefüllten Insolvenzgeld-Anträge, die sich nunmehr im Büro der Insolvenz-Verwalterin befanden, unterblieben. Dies
ergibt sich aus dem Schreiben der Insolvenz-Verwalterin vom 22.10.2004 an die Beklagte, das von einer Beauftragten
der Insolvenz-Verwalterin unterschrieben ist. Hiernach waren die Anträge auf Insolvenzgeld, darunter der Antrag der
Klägerin, versehentlich im Büro der Insolvenz-Verwalterin falsch abgeheftet worden. Erst nach ihrem Wiederauffinden
im Oktober 2004 wurden sie gemeinsam mit dem Schreiben vom 22.04.2004 an die Beklagte gesandt mit der Bitte,
die Insolvenzgeld-Anträge noch zu bearbeiten.
Gemäß § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III wird Insolvenzgeld binnen einer Nachfrist von 2 Monaten nach Wegfall des
Hinderungsgrundes geleistet, wenn der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt hat, die er nicht zu vertreten
hat. Nach dem allgemeinen Grundsatz des § 276 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat der Schuldner
Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Im vorliegenden Falle hat die Klägerin die Antragstellung nicht eigenhändig
vorgenommen, sondern sie hat das von ihr teilweise ausgefüllte Antragsformular – entsprechend der Aufforderung
ihres Arbeitgebers bzw. der Insolvenz-Verwalterin – über ihren Arbeitgeber an die Insolvenz-Verwalterin weitergeleitet.
Die Insolvenz-Verwalterin bzw. die von ihr Beauftragten haben jedoch die Antragsfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB
III versäumt, weil der Antrag falsch abgeheftet worden war. Zur Überzeugung der Kammer ist erwiesen, dass das
Fristversäumnis aufgrund des Unterlassens der Insolvenz-Verwalterin eingetreten ist, da der von der Klägerin
ausgefüllte Insolvenzgeld-Antrag von ihr bzw. ihren beauftragten Personen falsch abgeheftet worden ist, wie es sich
aus dem Schreiben der Insolvenz-Verwalterin vom 22.10.2004 an die Beklagte ergibt. Der Klägerin ist daher kein
eigenes Verschulden bei der nicht rechtzeitigen Antragstellung vorzuwerfen, vielmehr stellt sich die Frage nach der
Zurechnung des Verschuldens der Insolvenz-Verwalterin. Nach § 278 Satz 1 BGB hat sich der Schuldner das
Verschulden derjenigen Person, der er sie sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient, in gleichem Umfang zu
vertreten wie eigenes Verschulden. Damit muß sich die Klägerin das Verschulden der Insolvenzverwalterin an der
verspäteten Antragstellung grundsätzlich wie ihr eigenes Verschulden zurechnen lassen. Hierbei vertritt die Kammer
die Auffassung, dass § 278 Satz 1 BGB auch bei der verspäteten Abgabe eines Insolvenzgeldantrages Anwendung
findet. Die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die rechtzeitige
Antragsabgabe lediglich eine Obliegenheit und keine Pflicht des Arbeitnehmers darstellt (anders: Sozialgericht
Aachen, Urteil vom 21.11.2003, Az. S 8 AL 64/03, zitiert nach juris, RdNr. 24, wonach bereits wegen des
Obliegenheitscharakters die Anwendung von § 278 BGB ausgeschlossen sei). Denn die Gewährung von
Insolvenzgeld hängt gemäß § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III – bei Vorliegen der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen –
davon ab, ob der Arbeitnehmer wegen der ihm noch zustehenden Arbeitsentgelt-Ansprüche tatsächlich einen Antrag
bei der Beklagten stellt oder nicht. Tut er dies aus ihm zuzurechnenden Gründen nicht, bedeutet dies nicht eine
vorwerfbare rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einer anderen – hier der Beklagten – gegenüber bestehenden
Pflicht, sondern stellt lediglich einen Tatbestand der Selbstgefährdung und Selbstschädigung dar, welcher dem
Arbeitnehmer somit als "Verschulden gegen sich selbst" als reine Obliegenheit zuzurechnen ist. Im Rahmen des §
324 Abs. 3 Satz 2 SGB III finden aufgrund seiner Funktion als spezialgesetzlicher Ausprägung des Rechtsinstitutes
der Wiedereinsetzung alle für die Wiedereinsetzung geltenden Regelungen Anwendung (vgl. BSG vom 29.10.1992,
Az. 10 R Ar 14/91, Sozialrecht 3 4100 § 141 e Nr. 2). Damit ist das Vertreterverschulden aller Personen, die der
Arbeitnehmer mit der Wahrnehmung seiner Rechte im Insolvenzgeld-Verfahren bevollmächtigt, dem Arbeitnehmer
grundsätzlich gemäß § 278 BGB analog zuzurechnen. Zwar besteht zwischen dem Arbeitnehmer und der Beklagten
vor Antragstellung keine öffentlich-rechtliche, schuldrechtliche Beziehung; die von der Antragstellung abhängige
Gewährung von Insolvenzgeld beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen stellt jedoch eine rechtliche
Sonderverbindung zwischen der Arbeitsagentur und dem Arbeitnehmer bei noch ausstehendem Arbeitslohn gegenüber
dem insolventen Arbeitgeber dar, die den Anwendungsbereich des § 278 Satz 1 BGB in entsprechender Anwendung
der Norm eröffnet.
Hiernach steht zwar fest, dass sich die Klägerin ein mögliches Verschulden der Insolvenzverwalterin bei der
Antragstellung grundsätzlich zurechnen lassen muß. Zusätzlich sind jedoch die spezialgesetzlichen Anforderungen
des § 324 Abs. 2 Satz 3 SGB III zu berücksichtigen, die vorliegend dazu führen, ein Verschulden der Klägerin nicht
annehmen zu können.
Der Begriff des Vertretenmüssens wird - über die allgemeinen Grundsätze der §§ 276, 278 BGB hinausgehend - in §
324 Abs. 3 Satz 3 SGB III spezialgesetzlich definiert. Hiernach hat der Arbeitnehmer die Versäumung der Antragsfrist
zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat. §
324 Abs. 3 Satz 3 SGB III stellt damit eine besondere Ausgestaltung des Verschuldensmaßstabes des § 276 Abs. 1
Satz 1 BGB dar. Der Wortlaut des § 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III verleiht der rechtzeitigen Antragsabgabe als
rechtlicher Obliegenheit des Antragstellers gegenüber der Beklagten im Sinne eines Verschuldens des Antragstellers
gegen sich selbst Ausdruck. Aufgrund seines Wortlauts ist es geboten, die für die Zurechnung eines Verschuldens
von bestellten Prozessbevollmächtigten oder – wie hier – sonstiger Beauftragter geltenden Grundsätze nicht auf
jedwede Person, die der Arbeitnehmer in das Verfahren eingeschaltet hat, zu übertragen. Hierbei ist zu bedenken,
dass der Arbeitnehmer sich grundsätzlich auf die besondere Rechtskunde eines Insolvenz-Verwalters oder auch
seines Arbeitgebers, der zur Zustellung der Anträge auf Insolvenzgeld an die Beklagte bereit ist, verlassen darf. Dass
der Arbeitnehmer deren Handlungen nicht kontrolliert, kann ihm jedoch nicht ohne weiteres als eigenes Verschulden
vorgeworfen werden. Ein Verschulden kommt nach dem Wortlaut des § 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III nur dann in
Betracht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund sonstiger Umstände nicht (oder nicht mehr) davon ausgehen kann, dass
sein Beauftragter alle gebotenen Handlungen für die Wahrnehmung der von ihm übernommenen Insolvenzgeld-
Antragstellung rechtzeitig vornimmt. Der Arbeitnehmer hat sich erst dann nicht (oder nicht mehr) mit der vom Gesetz
geforderten Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht, wenn er Umstände kannte oder kennen musste,
nach denen die von ihm beauftragten Personen nicht mehr erwartungsgemäß sorgfältig handeln werden. Dies gilt
insbesondere für die Personen des Arbeitgebers oder Insolvenz-Verwalters, die bereits aufgrund ihrer Pflicht zur
Ausstellung der Insolvenzgeld-Bescheinigung (§ 314 SGB III) in das Verfahren um die Gewährung von Insolvenzgeld
eingebunden sind, so dass ihre Bevollmächtigung oder Beauftragung zur Insolvenzgeld-Antragstellung grundsätzlich
nahe liegt (Peters-Lange in Info also 2007, Der Einfluss der neueren EuGH-Rechtsprechung auf das Deutsche
Insolvenzgeldrecht, Seite 51, 59; im Grundsatz ebenso Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom
07.04.2006, Az. L 1 AL 56/05, zitiert nach juris, RdNrn. 33; ferner unter Rückgriff auf europarechtliche Besonderheiten
Sozialgericht Aachen, Urteil vom 21.11.2003, Az. S 8 AL 64/03, zitiert nach juris, RdNrn. 26 f.).
Die sich glaubhaft in der mündlichen Verhandlung als rechtsunkundig darstellende Klägerin hat im Vertrauen auf das
Tätigwerden der Insolvenz-Verwalterin gehandelt, ohne dass Umstände erkennbar wären, die dieses Vertrauen der
Klägerin hätten erschüttern können, die sie zu einem eigenen Tätigwerden im Sinne einer Kontrolle der
Insolvenzverwalterin veranlassen mußten. Im vorliegenden Fall liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die
Klägerin auf ein Tätigwerden der Insolvenzverwalterin nicht hätte vertrauen dürfen. Der Klägerin ist nicht vorzuwerfen,
dass sie auf ein rechtmäßiges Tätigwerden der Insolvenz-Verwalterin vertraut hat, da sie nicht davon ausgehen
konnte oder mußte, dass die Insolvenz-Verwalterin nicht sorgfältig das von ihr ausgefüllte Antragsformular an die
Beklagte weiterleiten werde. Ihr ist daher nicht vorzuwerfen, sich nicht im Laufe der nach Mai 2004 eingetretenen Zeit
bei der Beklagten erkundigt zu haben, ob ein solcher Antrag tatsächlich eingereicht worden ist. Denn es lagen für sie
keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Insolvenz-Verwalterin nicht sorgfältig handeln werden würde. Vielmehr
erscheint für die Kammer die Einlassung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft, sie sei wegen ihrer
bestehenden Rechtsunkenntnis im Insolvenzverfahren davon ausgegangen, dass mit der Antragstellung alles in
Ordnung gehen werde, wenn sie bei der Abgabe ihres Antrags der rechtskundigen und erfahrenen Insolvenz-
Verwalterin vertraue. Die Kammer hält den Vorwurf der Beklagten für überzogen, wonach die Klägerin bei der
Beklagten hätte nachfragen müssen, warum in den Monaten nach Mai 2004 kein Geldeingang zu verzeichnen
gewesen ist. Denn die Klägerin musste nicht wissen, wie lange die Beklagte für die Bearbeitung eines Insolvenzgeld-
Antrages benötigte. Auch ist der Zeitablauf nicht derart gravierend, dass sich der Klägerin eine mögliche Untätigkeit
der Insolvenzverwalterin aufdrängen musste. Schließlich kannte die Klägerin nicht den Zeitpunkt der Eröffnung des
Insolvenzverfahrens am 27.7.2004, das erst drei Monate nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses am 23.4.2004
erfolgte. Zwar ist anzumerken, dass es sich bis zum Auffallen des falschen Abheftens bei der Insolvenz-Verwalterin
mittlerweile um einen Zeitraum von ca. sechs Monaten seit Einstellung der Betriebstätigkeit handelte; hierzu hat sich
die Klägerin jedoch dahingehend glaubhaft eingelassen, dass ihr nicht bekannt gewesen sei, welchen Zeitraum die
Bearbeitung eines Insolvenzgeld-Antrages bei der Beklagten umfassen werde. Letztlich wußte die Klägerin nicht, dass
es im Büro der Insolvenz-Verwalterin zu einer falschen Ablage ihres Insolvenzgeld-Antrags-Formulars gekommen war.
Hiervon musste die Klägerin auch nicht ausgehen. Die Beauftragung der Insolvenz-Verwalterin - gleichgültig ob als
Bevollmächtigte oder Botin - entbindet die Klägerin lediglich dann nicht von ihrer Verpflichtung, sich um eine
rechtzeitige Antragstellung zu bemühen, wenn ernsthafte Zweifel bestehen, dass die Insolvenz-Verwalterin bzw. ihr
Personal hierzu bereit oder in der Lage sind. Hierzu bestanden jedoch für die Klägerin zur Überzeugung der Kammer
keine Anhaltspunkte.
Da es sich – wie bereits ausgeführt – bei der Vorschrift des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III um eine spezialgesetzliche
Ausprägung der allgemein geltenden Wiederseinsetzungsgrundsätze (vgl. § 27 Abs. 1 SGB X, § 67 Abs. 1 SGG)
handelt, ist im vorliegenden Falle zusätzlich zu berücksichtigen, dass nach den allgemeinen
Wiedereinsetzungsgrundsätzen eine Wiedereinsetzung in eine abgelaufene Frist grundsätzlich dann zu gewähren ist,
wenn einem bevollmächtigen Rechtsanwalt bzw. Prozessbevollmächtigten ein Organisationsverschulden an der
Versäumung der Antragsfrist gerade nicht vorwerfbar ist. Denn nicht jedes Verschulden seiner Büroangestellten hat
ein Rechtsanwalt – wie im vorliegenden Fall die Insolvenz-Verwalterin – zu vertreten. Ergibt sich vielmehr, dass eine
Hilfsperson des Rechtsanwaltes bzw. des Prozessbevollmächtigten eine Handlung, die zu einer Fristversäumnis führt,
aufgrund eigenen Verschuldens nicht vorgenommen hat, und liegt hierbei kein Überwachungs- bzw.
Organisationsverschulden vor, so kann sich der Bevollmächtigte wegen der schuldhaft versäumten Handlung seiner
Angestellten exkulpieren. Vorliegend ist zur hinreichenden Überzeugung der Kammer erwiesen, dass im Büro der
Insolvenz-Verwalterin ein Ablagefehler bzw. Abheftungsfehler durch eine der Angestellten bzw. Hilfspersonen der
Insolvenz-Verwalterin eingetreten ist. In diesen Fällen ist grundsätzlich Wiedereinsetzung in eine versäumte Frist zu
gewähren, sofern ein Organisationsverschulden nicht vorliegt. Gerade im Falle eines wie hier vorgenommenen
falschen Abheftens eines Antragsformulares geht die Kammer davon aus, dass dieses auch bei ordentlicher
Überwachung der Hilfspersonen von Seiten der Insolvenz-Verwalterin nicht abzuwenden gewesen wäre, so dass nach
allgemeinen Grundsätzen Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zu gewähren ist. Denn wenn diese Grundsätze bei
einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingreifen, kann erst recht nichts anderes gelten, wenn wie im vorliegenden
Falle nicht einmal eine Vollmacht ausgestellt worden ist, sondern es sich lediglich um schlichtes Auftragsverhältnis
(Botengang) handelt; die Einschätzung der zwischen der Klägerin und der Insolvenzverwalterin eingetretenen
rechtlichen Beziehungen kann hierbei im Einzelnen dahinstehen, da sie am Ergebnis der Beurteilung nichts zu ändern
vermag.
Der nachträglich gestellte Antrag der Klägerin ist rechtzeitig im Sinne des § 324 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz SGB III
gestellt worden, da der Antrag nach Beseitigung des Hindernisses (Auffindung der falsch abgehefteten Anträge im
Oktober 2004) unverzüglich mit Schreiben vom 22.10.2004 an die Beklagte weitergeleitet worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung durch das Sozialgericht,
da der Wert des Beschwerdegegenstandes 500 Euro übersteigt (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).