Urteil des SozG Kassel vom 27.04.2010

SozG Kassel: niedersachsen, arbeitsentgelt, verwaltungsakt, ausnahme, erlass, rentenanspruch, sozialversicherungsrecht, rechtssicherheit, vollrente, unverzüglich

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 27.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 6 R 60/07
Hessisches Landessozialgericht L 5 R 329/10
Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung und Rückforderung von gewährten Rentenleistungen.
Mit Bescheid vom 12.09.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller
Höhe und damit in Höhe von monatlich 641,31 EUR ab dem 01.10.2002 (nach Bl. 20 Verwaltungsakte). Der
Rentenbescheid enthielt auf Seite 4 Hinweise zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort heißt es:
"Liegt bei Aufnahme bzw. Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit weiterhin volle
Erwerbsminderung vor, wird die Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht oder in verminderter Höhe geleistet,
sofern durch das erzielte Einkommen (Bruttoverdienst aus Beschäftigung bzw. Gewinn aus selbständiger Tätigkeit)
die für diese Rente maßgebende Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Die Hinzuverdienstgrenze beträgt monatlich
325,00 EUR. Wird die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht während des gesamten Kalendermonats
ausgeübt, gilt eine entsprechend anteilige, also niedrigere Hinzuverdienstgrenze. ( ) Daher besteht die gesetzliche
Verpflichtung, uns die Aufnahme oder Ausübung einer über diesen Rahmen hinausgehenden Beschäftigung oder
selbständigen Tätigkeit ( ) unverzüglich mitzuteilen."
Die Anlage 19 zum Rentenbescheid vom 12.09.2002 erläutert die Einzelheiten zu den Hinzuverdienstgrenzen. Dort
wird u.a. ausgeführt:
"Die jeweils maßgebende Hinzuverdienstgrenze darf zweimal im Laufe eines Kalenderjahres bis zum Doppelten der für
einen Monat geltenden Hinzuverdienstgrenze überschritten werden, wenn die Überschreitungen wegen einmalig
gezahltem Arbeitsentgelt (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) eintreten."
Die Gewährung der befristeten Erwerbsminderungsrente wurde in der Folgezeit verlängert. In der Zeit vom 04.05.2005
bis zum 02.07.2005 ging die Klägerin einer Aushilfstätigkeit auf einer Obstplantage nach. Im Mai 2005 verdiente die
Klägerin dort 475,65 EUR brutto. Im Juni 2005 belief sich der Hinzuverdienst auf 412,65 EUR und im Juli 2005 auf
23,24 EUR brutto (Bl. 51 Verwaltungsakte).
Im Rahmen eines Datenabgleichs erlangte die Beklagte Kenntnis von diesem Hinzuverdienst (Bl. 47
Verwaltungsakte).
Die Beklagte ging davon aus, dass die Klägerin die im Jahr 2005 für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze in Höhe
von 345,00 EUR im Mai und Juni 2005 überschritten habe, so dass für diese beiden Monate nur ein Anspruch auf eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestehe und es damit zu einer Überzahlung in Höhe
von 319,78 EUR gekommen sei. Mit Schriftsatz vom 26.04.2006 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer möglichen
Überzahlung der Rentenleistungen an. Es werde beabsichtigt, einen Bescheid nach § 48 SGB X zu erlassen und
überzahlte Leistungen in Höhe von 319,78 EUR zurückzuverlangen. In dem Anhörungsschreiben heißt es (Bl. 57
Verwaltungsakte, Rückseite):
"Die Möglichkeit des zweimaligen Überschreitens bis zum Doppelten der maßgebenden Hinzuverdienstgrenze im
Laufe eines Kalenderjahres findet in Ihrem Fall keine Anwendung. Maßgebend kann eine Hinzuverdienstgrenze nur
dann sein, wenn im Vormonat tatsächlich ein Hinzuverdienst vorhanden war. Ist dies nicht der Fall, ist der
Hinzuverdienst grundsätzlich der einfachen Hinzuverdienstgrenze gegenüberzustellen."
Mit Schriftsatz vom 12.06.2006 antwortete die Klägerin auf das Anhörungsschreiben, dass sie keine Kenntnis davon
gehabt habe, dass die Möglichkeit, die Hinzuverdienstgrenze zweimal zu überschreiten, in ihrem Falle keine
Anwendung finde. Die vorliegende Konstellation sei ihr an keiner Stelle erläutert worden (Bl. 61 Verwaltungsakte).
Mit Bescheid vom 26.06.2006 hob die Beklagte die Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom
01.05.2005 bis 30.06.2005 teilweise auf. Für diesen Zeitraum bestehe lediglich ein Anspruch auf eine Rente wegen
voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln der Vollrente. Es sei eine Überzahlung in Höhe von 319,78 EUR
entstanden, die zurückzuerstatten sei. Die Klägerin habe nämlich die Hinzuverdienstgrenze durch Gehälter im Mai
2005 in Höhe von 475,65 EUR und im Juni 2005 in Höhe von 412,65 EUR überschritten. Die Möglichkeit des
zweimaligen Überschreitens bis zum Doppelten der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines
Kalenderjahres finde im Falle der Klägerin keine Anwendung. Maßgebend könne eine Hinzuverdienstgrenze nur dann
sein, wenn im Vormonat tatsächlich Hinzuverdienst vorhanden ist. Wenn dies nicht der Fall sei, sei der
Hinzuverdienst grundsätzlich der einfachen Hinzuverdienstgrenze gegenüberzustellen. Die Leistungsgewährung sei
daher nach § 48 Abs. 1 S.2 Nr. 3 SGB X aufzuheben und die Leistungen in dem genannten Umfang zu erstatten (Bl.
62 Verwaltungsakte).
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 25.07.2006 Widerspruch ein. Die
einschränkende Auslegung des § 96a SGB VI sei mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu vereinbaren (Bl. 65
Verwaltungsakte).
Mit Widerspruchsbescheid vom 22.01.2007 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück (Bl. 92 ff.
Verwaltungsakte). Die Rentengewährung sei nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 SGB X aufzuheben und die Rentenleistungen im
Umfang von 319,78 EUR nach § 50 SGB X zu erstatten, weil die Klägerin im Mai und Juni 2005 die
Hinzuverdienstgrenzen für eine volle Rente wegen voller Erwerbsminderung überschritten habe, so dass in diesen
Monaten lediglich einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln bestehe. Zwar
bestehe nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI die Möglichkeit, die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines
Kalenderjahres zweimal um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenze zu
überschreiten. Diese Möglichkeit sei jedoch nur dann einzuräumen, wenn der Hinzuverdienst die maßgebende
Hinzuverdienstgrenze des Vormonats überschreite. Maßgebend könne die Hinzuverdienstgrenze nur dann sein, wenn
auch im Vormonat tatsächlich ein Hinzuverdienst vorhanden sei. Im Monat des erstmaligen Zusammentreffen von
Rente und Hinzuverdienst könne jedoch nicht auf eine maßgebliche Hinzuverdienstgrenze des Vormonats
zurückgegriffen werden. Es sei daher grundsätzlich eine Einstufung nach dem zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen
einfachen Hinzuverdienst vorzunehmen. Somit sei der Rentenbescheid vom 12.09.2002 insoweit rechtswidrig, als für
die Zeit vom 01.05.2005 bis 30.06.2005 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe gezahlt wurde,
obwohl nach § 96a SGB VI nur Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von drei Vierteln
bestanden habe. Darüber hinaus würden auch die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 S.2 Nr. 2 und Nr. 4 SGB X
vorliegen, weil die Klägerin der Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse
vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei und auch zumindest hätte wissen müssen, dass das aus
der Beschäftigung erzielte Arbeitsentgelt ihren Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vermindere. Ein
atypischer Fall, wonach von dem Grundsatz des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X abzuweichen wäre, dass der
Verwaltungsakt (rückwirkend) mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden solle, sei
vorliegend nicht ersichtlich. Die Beklagte übe das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend aus, dass die Leistungen
rückwirkend zurückgenommen würden. Ein besonderer Härtefall sei vorliegend nicht ersichtlich.
Am 07.02.2007 hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten gegen den Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und auf die
Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 ist rechtswidrig und verletzt die
Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben.
Die Beklagte hat den Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt. Formelle
Bedenken bestehen nicht. Die Beklagte hat die Klägerin vor Erlass des Aufhebungsbescheids insbesondere
ordnungsgemäß im Sinne des § 24 SGB X angehört.
Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage sind allerdings nicht erfüllt.
Nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse
aufgehoben werden, soweit
1. die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen
Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig
nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen
erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder 4. der Betroffene
wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich
aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhe gekommen oder ganz oder teilweise
weggefallen ist.
Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S.2 SGB X würden nach allen Tatbestandsvarianten nur dann vorliegen, wenn
die Klägerin nach der Rentenbewilligung Einkommen erzielt hätte, welches zu einem teilweisen Wegfall des
Rentenanspruchs führen würde. Dies ist jedoch nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall.
Die Klägerin hat zwar die für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze von 345,00 EUR durch ihre Tätigkeit auf der
Obstplantage im Mai und Juni 2005 überschritten; die Kammer ist jedoch davon überzeugt, dass sie in den Genuss
des privilegierten Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI gelangt.
Nach § 96a Abs. 1 S.1 SGB VI wird eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur geleistet, wenn die
Hinzuverdienstgrenze nicht überschritten wird. Die Hinzverdienstgrenze wird nach § 96 Abs. 1 S.2 SGB VI nicht
überschritten, wenn das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit
oder vergleichbares Einkommen im Monat die in § 96a Abs. 2 SGB VI genannten Beträge nicht übersteigt, wobei ein
zweimaliges Überschreiten um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 2 SGB VI
im Laufe eines jeden Kalenderjahres außer Betracht bleibt.
§ 96a Abs. 1a Nr. 2 SGB VI bestimmt, dass abhängig vom erzielten Hinzuverdienst eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung in voller Höhe, in Höhe von drei Vierteln, in Höhe der Hälfte oder in Höhe eines Viertels geleistet
wird. § 96a Abs. 2 SGB VI regelt die Hinzuverdienstgrenzen. Diese lag im Jahr 2005 für die Klägerin bei 345,00 EUR.
Konsequenz dieses Regelungssystems ist es, dass sich im Falle eines rentenschädlichen Überschreitens der
Hinzuverdienstgrenzen nach § 96a Abs. 2 SGB VI die Rente wegen voller Erwerbsminderung in voller Höhe auf eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung je nach Einkommenshöhe – in Höhe von drei Vierteln usw. verringert.
Da die Klägerin die für sie maßgebliche Hinzuverdienstgrenze von 345,00 EUR in zwei Monaten des Jahres 2005
unstreitig überschritten hat, hatte die Kammer zu beurteilen, ob sie in den Genuss der Privilegierung des § 96a Abs.1
S.2 SGB VI gelangt, also mit dem Argument gehört wird, dass sie – auf das Kalenderjahr gerechnet – die
Hinzuverdienstgrenze des § 96a Abs. 2 SGB VI nur zweimal überschritten habe.
Die Kammer ist überzeugt, dass die Voraussetzungen eines solchen privilegierten Überschreitens der
Hinzuverdienstgrenze nach § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI erfüllt sind.
Bei unbefangener Wortlautauslegung kommt man zunächst ohne Weiteres zu dem Schluss, dass ein zweimaliges
Überschreiten der einfachen Hinzuverdienstgrenzen rentenunschädlich ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hat zudem
bereits im Jahr 2007 entschieden, dass der Privilegierungstatbestand des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI nicht auf die Fälle
der Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze wegen Urlaubs- und Weihnachtsgeldes beschränkt ist (BSG, Urteil v.
06.02.2007, B 8 KN 3/06 R, juris, Rn. 23).
§ 96a Abs.1 S.2 SGB VI wird allerdings durch die Rechtsprechung des BSG überformt (vgl. BSG, Urteil v.
06.02.2007, B 8 KN 3/06 R; ausführlich dazu: Cirsovius, ZFSH/SGB 2007, 648 ff.; Gürtner in: Kasseler Kommentar
zum Sozialversicherungsrecht, SGB VI, 64. A. 2010, beck-online, § 96a Rn. 6 ff.). Diese Rechtsprechung wird u.a.
durch das Vormonatsprinzip geprägt, welches die Beklagte im vorliegenden Fall herangezogen hat. Das BSG hat in
seiner Entscheidung vom 26.08.2008 entschieden, dass sich die Prüfung, ob ein sog. privilegiertes Überschreiten
vorliegt, grundsätzlich nach der im Vormonat eingehaltenen Hinzuverdienstgrenze bestimmt (BSG, Urteil v.
26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn. 27 ff.):
"Wird die Hinzuverdienstgrenze des Vormonats eingehalten, ist die Rente vom Rentenversicherungsträger ohne
weiteres in der dieser Hinzuverdienstgrenze zugeordneten Höhe zu leisten. Der Rentenanspruch bleibt so lange
unverändert, bis sich der Hinzuverdienst ändert. Wird hierdurch die bislang maßgebende ( ) Hinzuverdienstgrenze
überschritten, ist weiter zu prüfen, ob ein sog. privilegiertes Überschreiten vorliegt. ( ) Das Vormonatsprinzip kann
darauf zurückgeführt werden, dass in jedem Kalendermonat feststehen muss, welche Hinzuverdienstgrenze – die für
die Prüfung einer Privilegierung – maßgebende ist. Es entspricht dem Anliegen des Gesetzgebers, die
Hinzuverdienstgrenze bei Rentenbezug möglichst handhabbar und transparent – "den Bedürfnissen der Praxis"
Rechnung tragend – zu gestalten und die Rechtslage bei einem Überschreiten auch für den Versicherten möglichst
rasch zu klären ( ). Die Rentenversicherungsträger und die Versicherten müssen schon im Hinblick auf die
möglicherweise erheblichen Rechtsfolgen die Möglichkeit haben, stets sofort überprüfen zu können, ob bei einer
Änderung des Hinzuverdienstes die bislang maßgebliche Hinzuverdienstgrenze überschritten wird. Dies setzt
denknotwendig voraus, dass bereits im jeweiligen Kalendermonat feststeht, welche Hinzuverdienstgrenze (als
Vergleichsmaßstab) heranzuziehen ist. ( ) Die chronologische Überprüfung eines privilegierten Überschreitens ist für
alle Beteiligten einfach nachvollziehbar und bietet daher ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit."
In eben dieser Entscheidung führt das BSG (Urteil v. 26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn.25) aus: "Das
Vormonatsprinzip ist bei einem Beschäftigungsverhältnis mit regelmäßigem Hinzuverdienst ein geeigneter,
(verwaltungs-)praktikabler und dem Gesetzeszweck entsprechender Prüfungsmaßstab zur Feststellung eines
(privilegierten) Überschreitens" im Sinne der Parallelvorschrift des § 34 Abs. 2 S.2 SGB VI.
Das BSG hat in der Entscheidung (Urteil v. 26.06.2008, B 13 R 119/07 R, Rn. 34) aber ausdrücklich offen gelassen,
wie mit der – § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI entsprechenden – Überschreitensregelung des § 34 Abs. 2 S.2 SGB VI im
Monat des Rentenbeginns beziehungsweise bei erstmaligem oder erneutem Zusammentreffen von Rente mit
(rentenschädlichem) Hinzuverdienst zu verfahren ist – "also in jenen Fällen, in denen nach dem Vormonatsprinzip
nicht auf eine maßgebliche Hinzuverdienstgrenze zurückgegriffen werden kann."
Mit dieser Fragestellung haben sich in jüngerer Zeit das Landesozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen mit Urteil
vom 12.08.2009 (Az. L 2 R 271/09, juris) und das LSG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 21.01.2010 (L 3 R 1350/06,
juris) auseinandergesetzt. Das LSG Niedersachsen-Bremen geht in seiner Entscheidung zur Parallelvorschrift des §
34 Abs. 2 S.2 SGB VI davon aus, dass der Privilegierung des Hinzuverdienstes nicht entgegenstehe, dass der
Rentenbezieher im Vormonat noch keinen Hinzuverdienst erzielt hat. Dem hat sich LSG Berlin-Brandenburg in seiner
§ 96a SGB VI betreffenden Entscheidung angeschlossen. Beide Landessozialgerichte weisen nach Überzeugung der
Kammer zu Recht darauf hin, dass das Vormonatsprinzip im Gesetz keinen Niederschlag gefunden hat. Das LSG
Berlin-Brandenburg führt in seinem Urteil vom 21.01.2010 (L 3 R 1350/06, juris, Rn. 39) zutreffend aus:
"Die hierzu existierende Kasuistik in der Praxis der Rentenversicherungsträger mit ihrem komplexen Regel-
Ausnahme-Geflecht findet kaum einen Hinweis im Gesetzeswortlaut ( ). Erst recht ist nicht ersichtlich, dass das von
der Beklagten befürwortete Regel-Ausnahme-Geflecht den gesetzgeberischen Zielvorstellungen Rechnung trägt.
Vielmehr sprechen diese für eine Privilegierung auch solcher Monate mit Überschreitungen, denen Monate ohne
Hinzuverdienst vorausgegangen sind."
Der Sinn und Zweck des zweimaligen Überschreitensrechts ist nach der Überzeugung des LSG Niedersachsen-
Bremen darin zu sehen, bei zweimal jährlichen, kurzfristigen Änderungen des Arbeitsentgelts die eigentlich
erforderliche Rentenminderung zu vermeiden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 12.08.2009, L 2 R 271/09,
juris, Rn. 48 mit Hinweis auf BSG, Urteil v. 06.02.2007, B 8 KN 3/06 R). Die Gesetzesbegründung führe relativ knapp
aus, dass die Privilegierung "den Bedürfnissen der Praxis" Rechnung tragen solle. Diese Bedürfnisse der Praxis seien
zum einen die Verwaltungsvereinfachung und zum anderen die quantitativ geringfügige Bedeutung des zweimaligen
Überschreitens. Ein sachlicher Grund, warum diese Erwägungen und damit die Privilegierung nicht durchgreifen sollte,
wenn bei einem zweimaligen Überschreiten im Vormonat kein Hinzuverdienst erzielt wurde, sei nicht ersichtlich. Dem
schließt sich die Kammer an: Die strikte Anwendung des Vormonatsprinzips in Konstellationen wie dem vorliegenden
Fall führt vielmehr zu ungerechten Ergebnissen, die sich mit keinem sachlichen Grund rechtfertigen lassen und wäre
mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren (vgl. auch LSG Niedersachsen-
Bremen, Urteil v. 12.08.2009, L 2 R 271/09, juris, Rn. 52; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 21.01.2010, L 3 R
1350/06, juris, Rn. 44). Dies hätte nämlich zur Folge, dass diejenigen Versicherten die im gesamten Kalenderjahr über
Einkommen verfügen und die Hinzuverdienstgrenze lediglich zweimal überschreiten gegenüber Versicherten, die nur in
zwei Monaten des Jahres Einkommen erzielen und in diesen Monaten die Hinzuverdienstgrenze ebenfalls
überschreiten, privilegiert würden, obwohl sie – auf das Kalenderjahr gerechnet – einen wesentlich höheren Verdienst
erzielen konnten (s. dazu das Rechenbeispiel beim LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 21.01.2010, L 3 R 1350/06,
juris, Rn. 44). Dies kann nach Überzeugung der Kammer nicht richtig sein. Letztendlich handelt es sich beim
Vormonatsprinzip lediglich um ein Denkmodell zur Bestimmung der maßgeblichen Hinzuverdienstgrenzen. Da aus
dem Gesetz aber nicht zwingend folgt, dass das Vormonatsprinzip anzuwenden ist und eine Hinzuverdienstgrenze im
Falle des sofortigen Überschreitens bei vorhergehenden Einkommenslosigkeit ohne Weiteres bestimmt werden kann,
ist die Kammer davon überzeugt, dass das Vormonatsprinzip in Fällen, in denen während eines Kalenderjahres
lediglich in zwei aufeinanderfolgenden Monaten Einkommen erzielt wird, nicht anzuwenden ist und damit einer
Anwendung des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI nicht entgegensteht.
Da die Klägerin die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze im Jahr 2005 lediglich zweimal überschritten hat und der
Hinzuverdienst in beiden Monaten auch nicht die doppelte Hinzuverdienstgrenze des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI
überstiegen hatte, lag nach Überzeugung der Kammer ein privilegiertes Überschreiten im Sinne des § 96a Abs. 1 S.2
SGB VI vor, welches nicht eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB
X zur Folge hatte. Die Voraussetzungen für eine teilweise Aufhebung der Rentengewährung nach § 48 Abs. 1 SGB X
waren daher nicht erfüllt. Der Bescheid vom 26.06.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.01.2007 war
rechtswidrig und damit aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Kammer hat die Berufung nach § 144 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne
des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG hat. Es ist nämlich aus Sicht der Kammer durch die obergerichtliche Rechtsprechung
noch nicht hinreichend geklärt, ob das Vormonatsprinzip in Konstellationen wie dem vorliegenden Fall einer
Anwendung des § 96a Abs. 1 S.2 SGB VI entgegensteht.