Urteil des SozG Kassel vom 14.06.2010

SozG Kassel: umschulung, behinderung, form, ausbildung, erwerbsfähigkeit, konfrontation, rehabilitation, persönlichkeit, weiterbildung, auflage

Sozialgericht Kassel
Urteil vom 14.06.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kassel S 3 AL 41/09
Hessisches Landessozialgericht L 6 AL 121/10
Der Bescheid vom 11.12.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2009 sowie der Bescheid vom
31.3.2010 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in
Form einer Umschulung in den Beruf der Bibliothekarin in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten
zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Umschulung
zur Bibliothekarin.
Die Klägerin, die von 1996-1999 eine Ausbildung als Erzieherin erfolgreich durchführte, hiernach in verschiedenen
Kindergarten tätig war und von 2004-2006 ein Studium der Theologie ohne Abschluss absolvierte, hiernach behinderte
Menschen im häuslichen Bereich betreute, beantragte am 3. September 2008 Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben. Im Antrag gab sie an, wegen Depressionen und einem Erschöpfungszustand ihre bisherige Arbeit nicht
mehr ausüben zu können. Zur weiteren Begründung fügte sie ärztliche Bescheinigungen des CX-Krankenhauses bei.
Nach einer im Verwaltungsverfahren eingeholten sozialmedizinischen Stellungnahme, die Dr. D. unter dem 17.
November 2008 abgab und in welcher diese zu der Beurteilung kam, dass aktuelle Leistungsvermögen sei nicht sicher
einschätzbar, so dass zur weiteren Abklärung zunächst zu einer kombinierten medizinisch/beruflichen Maßnahme in
einem geeigneten RPK geraten werde, lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 11. Dezember 2008 mit
der Begründung ab, zwar sei man zuständiger Rehabilitationsträger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,
aufgrund von vorliegenden ärztlichen Gutachten seien vor Entscheidung und Realisierung berufsfördernder
Maßnahmen indessen medizinische Rehabilitationsmaßnahmen erforderlich. Somit könne dem Antrag nicht
entsprochen werden.
Hiergegen richtete sich der am 29. Dezember 2008 erhobenen Widerspruch zu dessen Begründung die Klägerin
ausführte, ihrer Einschätzung nach könne sie mehr als 3 Stunden täglich arbeiten und sei für eine Umschulung
gesundheitlich in der Lage. Eine Umschulung im Bibliotheksbereich würde sie gerne antreten. Im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte erneut eine sozialmedizinische Stellungnahme bei Dr. D. ein, die diese
unter dem 3. März 2009 abgab und in der diese ausführte, es werde nochmals festgestellt, dass vor einer
qualifizierenden berufliche Maßnahme bei noch verminderter seelischer Belastbarkeit eine kombinierte
medizinische/berufliche Maßnahme in einem RPK empfohlen werde.
Durch Widerspruchsbescheid vom 10. März 2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur
Begründung aus, das Leistungsvermögen sei momentan soweit vermindert, dass nur Tätigkeiten von weniger als 3
Stunden täglich verrichtet werden könnten und aus diesem Grunde eine weitere Abklärung in einer kombinierten
medizinisch/berufliche Maßnahme in einem geeigneten Rehabilitationszentrum für psychisch kranke Menschen
erforderlich sei.
Gegen den zurückweisenden Widerspruch richtet sich die am 11. März 2009 zum Sozialgericht Kassel erhobene
Klage. Zur Begründung führt die Klägerin aus, eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sei nicht erforderlich und
wurde ihres Erachtens eher schaden als nützen, da hier ein weiteres Jahr verloren ginge.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 11. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März
2009 sowie den Bescheid vom 31. März 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben in Form einer Umschulung in den Beruf zur Bibliothekarin in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Zur Begründung trägt die Beklagte vor, es gehe im vorliegenden Rechtsstreit nicht um die Frage, inwieweit die
Klägerin in Zukunft überhaupt allgemein rehabilitationsfähig sei, sondern allein darum, dass vor Entscheidung und
Realisierung berufsfördernder Maßnahmen eine medizinische Maßnahme zur weiteren Stabilisierung vorgeschaltet
werden sollte. Selbst wenn diese keine unabdingbare Voraussetzung sei, scheine es, dass eine solche Maßnahme
durchaus sinnvoll wäre. Zwischenzeitlich habe die Klägerin eine Arbeit als Erzieherin in E-Stadt aufgenommen,
sodass bei einer ausreichenden psychischen Stabilisierung, verbunden mit einer weiterhin bestehende Notwendigkeit
beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen die Zuständigkeit der örtlichen Agentur für Arbeit gegeben wäre.
Bereits am 6. Februar 2009 stellte die Klägerin einen Rentenantrag auf Gewährung einer Versichertenrente bei der
Deutschen Rentenversicherung Bund. Die Deutsche Rentenversicherung Bund beauftragte Dr. F. mit der Erstellung
eines psychiatrischen Fachgutachtens welches dieser unter dem 13. März 2009 erstattete. Im Rahmen der
Sachermittlungen von Amts wegen hat das Gericht Befundberichte bei Dr. G. vom 9. April 2009 und dem CX-
Krankenhauses vom 15. April 2009 beigezogen. Durch Beschluss vom 4. Mai 2009 hat das Gericht die Deutsche
Rentenversicherung Bund nach § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen. Die Beigeladene ist unter Bezug
auf eine nervenärztliche Stellungnahme von Herrn H. der Auffassung, dass eine RPK-Maßnahme keine unabdingbare
Voraussetzung für den Erfolg einer Umschulung sei. Gegen den Willen der Klägerin scheine eine solche
Behandlungsmaßnahme von vornherein fraglich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei unter Beachtung des
negativen Leistungsvermögens von einem mindestens 6-stündigen Leistungsvermögen auszugehen, welches
überdurchschnittliche Anforderungen an das Konzentrationsvermögen, besondere Verantwortung für Personen,
überdurchschnittliche Anforderungen an das Anpassungs- und Umstellungsvermögen, Tätigkeiten, die überwiegend
Teamarbeit voraussetzen und überwiegenden Publikumsverkehr ausschlösse.
Nachdem das Gericht den Sachverhalt in einem Erörterungstermin mit den Beteiligten am 14. Dezember 2009 erörtert
hat, hat es durch Beweisanordnung vom 16. Dezember 2009 Dr. I. mit der Erstellung eines psychiatrischen
Fachgutachtens beauftragt. Dr. I. kommt in seinem Gutachten vom 10. März 2010 zu der Beurteilung, dass eine
rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert und eine depressive Persönlichkeit mit ausgeprägter
Selbstwertregulationsstörung vorläge. Den oben genannten Leiden komme kein erwerbsmindernder Dauereinfluss im
Zeitraum von mehr als 6 Monaten zu. Die Klägerin sei unter Berücksichtigung dieser Feststellungen in der Lage,
regelmäßig, zumindest 15 Stunden wöchentlich, Arbeiten als Erzieherin durchzuführen. Dieser Beruf sei aber sowohl
von den inneren als auch von den äußeren Gegebenheiten nicht konfliktfrei. Der Beruf der Erzieherin müsse als
psychosoziale Kompromissbildung verstanden werden, d.h. sie habe als Kind selbst keine ausreichende emotionale
Ermunterung erhalten und kompensiere die aufgetretenen Ausfälle, Mängel oder Defizite mit der altruistischen
Hilfsbereitschaft für hilfsbedürftige Menschen. Dies führe unter anderem zu den psychischen Dekompensationen, da
sie durch den Beruf der Erzieherin zu sehr an die eigenen Defizite erinnert werde. Unter "heimatnahen" Bedingungen
mit Kontakt zu den Familien der Schwestern sei die Arbeitstätigkeit als Erzieherin möglich. Wenn die Psychodynamik
der Störung für den Beruf der Bibliothekarin zugrunde gelegt werde, so wäre dieser für den Entwicklungsprozess von
der Klägerin von Bedeutung, da sie sich von der Konfrontation mit dem eigenen Leid bei der Arbeit mit hilfsbedürftigen
Menschen distanzieren könnte. Die neutralere Berufswahl als Bibliothekarin könnte ihr helfen, auf Dauer eine
seelische Stabilität zu erlangen. Das kognitive Leistungs- und Bildungsniveau reiche für die Ausbildung. Da die
Klägerin noch über keine dauerhafte Partnerschaft verfüge, sollte die Ausbildung heimatnah erfolgen. Die Klägerin
besitze eine für die Ausbildung ausreichende körperliche, psychische und soziale Belastungsfähigkeit. Medizinische
Maßnahmen der Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien deshalb nicht notwendig. Eine
Umschulung im Beruf zur Bibliothekarin werde unter der Einschränkung, dass sie heimatnah durchgeführt werden
solle, befürwortet. Vom kognitiven Leistungs- und Trennungsvermögen gäbe es keine Einschränkungen hinsichtlich
der Ausbildung zur Bibliothekarin. Wie die Diagnostik erkennen lasse, liege ein ausreichendes Intelligenz- und
Bildungsniveau vor. Eine medizinische Maßnahme zur Rehabilitation sei vor der erforderlichen Umschulung als
Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erforderlich, bei durchschnittlicher Intelligenz, kognitiver
Leistungsfähigkeit und derzeit remittierter Depression bzw. stabiler Selbstwertigkeit. Eine RPK-Maßnahme sei nicht
geeignet, den Rehabilitationserfolg herzustellen, da sie nur wieder zu einer Verunsicherung führe. Das
Leistungsvermögen als Erzieherin müsse dauerhaft auf 3-6 Stunden reduziert betrachtet werden, um
Kompensationsmöglichkeiten der Persönlichkeit zu erhalten. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt habe immer ein 6-
stündiges Leistungsvermögen und mehr bestanden.
Durch Bescheid vom 31. März 2010 hat die Beklagte den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit der
Begründung abgelehnt, die festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen seien nicht so wesentlich, dass zur
Eingliederung Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich wären.
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug
genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte; weiterhin wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Reha-
Akte der Beklagten, der Reha-Akte sowie der Rentenakte der Beigeladenen, der Gegenstand der mündlichen
Fahndung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 11. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2009 sowie der
Bescheid vom 31. März 2010, der nach § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen
Rechtsstreites wurde, sind rechtswidrig. Die Klägerin wird hierdurch in ihren Rechten verletzt. Die Beklagte hat es zu
Unrecht abgelehnt, ihr Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Umschulung in den Beruf zur
Bibliothekarin in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Nach § 97 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB III) können behinderten Menschen Leistungen zur Förderung der
Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre
Erwerbsfähigkeit erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu
sichern.
Nach § 19 Abs. 1 SGB III sind Behinderte im Sinne dieses Buches Menschen, deren Aussichten, am Arbeitsleben
teilzuhaben oder weiter teilzuhaben, wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 des Neunten
Buches nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben
benötigen, einschließlich lernbehinderter Menschen. Nach Abs. 2 der Vorschrift stehenden behinderten Menschen
Menschen gleich, denen eine Behinderung mit den in Abs. 1 genannten Folgen droht.
Zur Überzeugung des Gerichts liegen bei der Klägerin zumindest die Voraussetzungen von § 19 Abs. 2 SGB III vor.
Voraussetzung für die Annahme einer drohenden Behinderung ist im Regelfall ein Abweichen der körperlichen
Funktionen, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand. Das
Vorliegen ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem schlüssigen und widerspruchsfreien Gutachten von Dr.
I., welches dieser am 3. März 2010 erstattete und an dessen Schlussfolgerungen zu zweifeln, für die Kammer kein
Anlass bestand. Dr. I. diagnostiziert bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert
sowie eine depressive Persönlichkeit mit ausgeprägter Selbstwertregulationsstörung. Somit liegt zweifelsfrei eine
Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand vor. Aus dieser Abweichung
muss sich, um zur Annahme einer drohenden Behinderung im Sinne von § 19 Abs. 2 SGB III zu kommen, mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für den Fall
ergeben, dass Leistungen zur Teilhabe unterbleiben würden. Hierbei reicht aus, wenn ohne die Leistungen zur
Teilhabe die Beeinträchtigung schlimmer ausfallen würde (vgl. Welti in HK-SGB IX, 3. Auflage, 2010, § 2 Rz. 35).
Dass dies gegeben ist, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer ebenfalls aus dem Gutachten von Dr. I., an dessen
Schlussfolgerungen auch insoweit nicht gezweifelt werden kann. Dr. I. führt zur Überzeugung des Gerichts insoweit
unter Auswertung der anamnestischen Angaben der Klägerin aus, dass der Beruf der Erzieherin als psychosoziale
Kompromissbildung verstanden werden müsse, d.h. die Klägerin habe als Kind selbst keine ausreichende emotionalen
Ermunterung erhalten und kompensiere die aufgetretenen Ausfälle, Mängel oder Defizite mit der altruistischen
Hilfsbereitschaft für hilfsbedürftige Menschen. Dies führe unter anderem zu den psychischen Dekompensationen, da
die Klägerin durch ihren Beruf als Erzieherin zu sehr an die eigenen Defizite erinnert werde. Wenn sie nicht unter
besonders beschützenden, tragenden Bedingungen lebe, komme es zu einer Selbstwertdestabilisierung und einer
narzisstisch-depressiven Krise. Seiner Ansicht nach ist eine Arbeitstätigkeit als Erzieherin nur unter der Bedingung
des Kontaktes zu den Familien der Schwestern möglich. Wenn hingegen die Psychodynamik der Störung für den
Beruf der Bibliothekarin zugrunde gelegt werde, so wäre dieser für den Entwicklungsprozess der Klägerin von
Bedeutung, da sie sich von der Konfrontation mit dem eigenen Leid bei der Arbeit mit hilfsbedürftigen Menschen
distanzieren könnte. Die neutralere Berufswahl als Bibliothekarin könnte er helfen, auf Dauer eine seelische Stabilität
erlangen. Die Ausführungen des Sachverständigen zeigen, dass die aktuelle Erwerbsfähigkeit der Klägerin an dem
"seidenen Faden" der familiären Bindung hängt. Sofern diese Bindung nicht mehr oder aber nicht in dieser Form
besteht, ist es nach Auffassung des Sachverständigen zwangsläufig, dass es zu psychischen Dekompensationen
kommen wird. Schlussfolgernd ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, nachvollziehbar im Gutachten begründet,
dass die Beeinträchtigung ohne Leistungen zur Teilhabe schlimmer ausfallen würde. Demgegenüber ohne Bedeutung
ist die Aussage des medizinischen Sachverständigen, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht notwendig
seien. Diese Aussage steht ersichtlicherweise im Kontext mit den derzeitigen beruflichen und familiären Bedingungen
und beinhaltet keine Aussage zu der ohnehin juristischen Schlussfolgerung, ob eine drohende Behinderung im Sinne
von § 19 Abs. 2 SGB III vorliegt.
Auch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen von § 97 Abs. 1 SGB III sind gegeben, da Leistungen zur
Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben wegen der Art und Schwere der Behinderung erforderlich sind, um die
Erwerbsfähigkeit zu bessern. Wie Dr. I. in seinem Gutachten ausführt, ist eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben,
dass die neutralere Berufswahl als Bibliothekarin der Klägerin helfen kann, auf Dauer eine seelische Stabilität zu
erlangen. Die Abhängigkeit der Leistungsfähigkeit im Beruf der Erzieherin von der familiären Situation der Klägerin
stellt indessen einen Wettbewerbsnachteil dar, der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich macht (vgl.
allgemein Karmanski in Niesel/Brandt, SGB III, Kommentar, 5. Auflage, 2010, § 97 Rz. 15).
Da die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung dem Grunde nach gegeben waren, war die Beklagte auch zur
Gewährung einer Umschulung in den Beruf der Bibliothekarin zu verurteilen.
Nach § 98 Abs. 1 Nr. 1 SGB III i.V.m. § 100 Nr. 4 SGB III können für behinderte Menschen als allgemeine
Leistungen, Leistungen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung erbracht werden. Leistungen der beruflichen
Weiterbildung sind die in den §§ 77-87 SGB III genannten Leistungen. In Abweichung von der Regelung des § 77 SGB
III ermöglicht § 101 Abs. 5 S. 1 SGB III die Förderung der beruflichen Weiterbildung wenn behinderte Menschen 1.
nicht arbeitslos sind, 2. als Arbeitnehmer ohne Berufsabschlusses noch nicht 3 Jahre berufstätig gewesen sind oder
3. einer längeren Förderung als nichtbehinderte Menschen oder erneuten Förderung bedürfen, um Arbeitsleben
teilzuhaben oder weiter teilzuhaben.
Somit stand der Förderung einer Umschulung der Umstand nicht entgegen, dass die Klägerin zurzeit nicht arbeitslos
ist. Ebenso gilt die Restriktion von § 85 Abs. 2 SGB III nicht.
Zwar steht der Beklagten grundsätzlich ein Auswahlermessen bezüglich der allgemeinen Leistungen nach § 100 SGB
III zu; die Reihenfolge der genannten Leistungen hat insoweit ermessenslenkenden Charakter (vgl. Karmanski in
Niesel/Brandt, a.a.O, § 101 Rz. 2). Im Grundsatz besteht somit ein uneingeschränktes Auswahlermessen der
Beklagten, welche Leistung im Einzelfall konkret zu erbringen ist (vgl. Spellbrink/Eicher/Oppermann, KassHdb
ArbfördR, 2003, § 5 C Rz. 59). Aber nach § 33 Abs. 4 Sozialgesetzbuch 9. Buch (SGB IX) sind bei der Auswahl der
Leistungen, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes angemessen zu
berücksichtigen. Hierbei ist nach § 9 Abs. 1 SGB IX bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung
der Leistungen zur Teilhabe den berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen. Der freien
Berufswahl im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ist hierbei Rechnung zu tragen (vgl. Welti in HK-SGB IX,
a.a.O., § 9 Rz. 12). Bei der Auswahl ist insbesondere zu berücksichtigen, dass eine Förderung nur für solche Berufe
erfolgt, in denen sich die Behinderung voraussichtlich nicht mehr auswirken wird (BSG vom 26. August 1992, 9b RAr
3/91, SozR 3-2200 § 556 Nr 2).
Zur Überzeugung des Gerichts liegt vorliegend aufgrund des Vorstehenden eine Ermessensreduktion auf Null vor, die
dazu führt, dass die Beklagte zu verurteilen war, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Umschulung
in den Beruf der Bibliothekarin in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Dies ergibt sich zunächst aus dem Gutachten
von Prof. Dr. I ... Hierzu wurde bereits ausgeführt, dass der Klägerin, sofern keine familiäre Einbindung mehr besteht,
der Gefahr ausgesetzt ist, psychisch wiederum zu Dekompensieren. Somit scheiden von vornherein sämtliche
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben aus, die eine Besserung der Erwerbsfähigkeit im Beruf der Erzieherin zum
Ziel hätten. Mithin ist im vorliegenden Fall lediglich eine Umschulung in einen anderen Beruf zielführend, der
sicherstellt, dass die Klägerin sich von der Konfrontation mit dem eigenen Leid bei der Arbeit mit hilfsbedürftigen
Menschen distanzieren kann. Dies mögen zwar auch andere Berufe, als der der Bibliothekarin sein. Aber auch
insoweit ging das Gericht von einer Ermessensreduktion auf Null aus, also davon, dass als Leistung ausschließlich
eine Umschulung in den Beruf der Bibliothekarin erfolgen kann. Ausweislich des Gutachtens von Dr. I. vom 10. März
2010 ist die Klägerin uneingeschränkt geeignet für eine Umschulung in diesen Beruf. Das Gericht hat auch insoweit
keine Zweifel, die es ausschließen würden, dem Gutachten zu folgen. Dem Wunsch der Klägerin einer Umschulung in
diesem Beruf kommt im Hinblick auf die Erreichung des Rehabilitationsziels unter Beachtung der aus Art. 12 Abs. 1
GG folgenden Berufsfreiheit ein besonderes Gewicht hinzu. Im vorliegenden Fall ein Gewicht, das andere
Entscheidungen im Rahmen des Auswahlermessens von vornherein ausschließt.
Ein weiterer Gesichtspunkt war für die Bindung der Entscheidung maßgebend. Nach § 10 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist der
nach § 14 leistende Rehabilitationsträger, soweit Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrere
Rehabilitationsträger erforderlich sind, dafür verantwortlich, dass die Beteiligten Rehabilitationsträger im Benehmen
miteinander und in Abstimmung mit den Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich
erforderlichen Leistungen funktionsbezogen feststellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos
ineinandergreifen. Die Beklagte hat diesen Grundsatz in eklatanter Weise verletzt und damit das Gebot effektiver
Leistungserbringung in Kooperation der Sozialleistungsträger (vgl. hierzu Welti in HK-SGB IX, a.a.O., § 10 Rz. 1)
missachtet. Die Beklagte kam nach Einholung einer Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes zu der Überzeugung,
dass vor Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine medizinische Maßnahme zur Rehabilitation
hätte vorgeschaltet werden müssen. Zu dieser Überzeugung kam sie nach Antragstellung am 3. September 2008 erst
am 11. Dezember 2008, so dass sie nach § 14 SGB IX ohnehin zuständiger Leistungsträger gewesen wäre. Selbst
wenn dies nicht der Fall wäre, hätte sie nicht ohne Weiteres, wie durch Bescheid vom 11. Dezember 2008 geschehen,
Leistungen unter Berufung darauf ablehnen können, dass vor berufsfördernden Maßnahmen medizinische
Rehabilitationsmaßnahmen erforderlich wären, sondern es wäre ihre gesetzliche Pflicht aus § 10 SGB IX gewesen,
sich mit dem für medizinische Maßnahmen zuständigen Rehabilitationsträger ins Benehmen zu setzen. Die Beklagte
war mithin aufgrund eklatanter Missachtung gesetzlicher Vorgaben entscheidend verantwortlich dafür, dass
Leistungen nicht im erforderlichen Umfang zügig abgestimmt und entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet
werden konnten. Auch dies war für die Kammer ein Gesichtspunkt, neben dem vorhergehend gesagten, eine
Ermessensreduktion auf Null anzunehmen und die Beklagte zur Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben in Form einer Umschulung zu verurteilen.
Da die übrigen Leistungsvoraussetzungen auf Seiten der Klägerin gegeben waren, konnte das Gericht eine
Verurteilung dem Grunde nach im Sinne von § 130 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vornehmen.
Bei der Auswahl der konkreten Umschulungsmaßnahme wird die Beklagte die Vorgaben aus dem Gutachten von Dr. I.
zu beachten haben, der es aufgrund der psychischen Situation der Klägerin für erforderlich hält, dass die Ausbildung
heimatnah mit täglichem Kontakt zur Familie der Klägerin erfolgen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Die Zulässigkeit der Berufung beruht auf § 143 SGG.