Urteil des SozG Karlsruhe vom 27.09.2016

treu und glauben, befristete rente, nachzahlung, rücknahme

SG Karlsruhe Urteil vom 27.9.2016, S 13 R 926/16
Zeitliche Begrenzung der Erstattung zu Unrecht nicht erbrachter Sozialleistungen
Tenor
1. Der Bescheid vom 7. Januar 2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 21. Juli 2015 in der Gestalt
des Widerspruchbescheides vom 17. Februar 2016 wird abgeändert und die Beklagte verpflichtet, ab dem 1. Juli
2014 Kindererziehungszeiten vom 1. November 1972 bis zum 31. Oktober 1974 und vom 1. Mai 1976 bis zum
30. April 1978 anzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte auch für den Zeitraum 1. Juli 1996 bis 31. Dezember 2009 eine
Nachzahlung wegen der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten leisten muss.
2 Die am ... geborene Klägerin beantragte am 2. August 1996 durch ihren Betreuer eine
Erwerbsminderungsrente. Sie leidet an einem Zustand nach Reanimation bei Myocarditis, einem schweren
hirnorganischen Psychosyndrom mit Desorientiertheit, Auffassungs- und amnestischen Störungen, einer
Sprechstörung, einer Schluckstörung sowie einer Rumpf-Stand Attaxie.
3 Auf dem Antragsvordruck gab sie an, Kindererziehungszeiten geltend zu machen, und fügte den weiteren
Vordruck 6.4369 bei. Hieraus geht hervor, dass sie ihre beiden Söhne O. (geb. Oktober 1972) und M. (geb.
April 1976) jeweils während der gesamten 10 Jahre erzogen hat.
4 Mit Bescheid vom 7. November 1996 gewährte die Beklagte der Klägerin eine befristete Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit vom 1. Juli 1996 bis zum 31. März 1998. Kindererziehungszeiten berücksichtigte die
Beklagte dabei nicht. Mit weiterem Bescheid vom 3. April 1998 bewilligte die Beklagte die Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit auf Dauer.
5 Ab dem 1. Januar 2012 bezog die Klägerin eine Regelaltersrente. (Bescheid vom 9. November 2011). Auch
hier berücksichtigte die Beklagte keine Kindererziehungszeiten, obwohl die Klägerin in ihrem Antrag vom 4.
November 2011 angab, Kinder erzogen zu haben.
6 Der Ehemann der Klägerin erkundigte sich am 8. Dezember 2014 telefonisch bei der Beklagten, wann der
Bescheid über die Mütterrente erfolge. Dabei stellte die Beklagte fest, dass im Konto der Klägerin keine
Kinder gespeichert seien und übersandte ihr erneut die entsprechenden Vordrucke. Diese übermittelte die
Klägerin am 17. Dezember 2014 mit den Geburtsurkunden ihrer beiden Söhne.
7 Mit Rentenbescheid vom 6. Januar 2015 stellte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1.
Juli 1996 neu fest. Für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. 12. 2011 ergebe sich eine Nachzahlung in
Höhe von 1.636,62 EUR. Es sei eine Anrechnungszeit vom 11. September 1972 bis zum 18. Dezember 1972
sowie vom 22. Februar 1976 bis zum 30. Mai 1976, eine Berücksichtigungszeit vom 23. Oktober 1972 bis
zum 3. April 1986, sowie Kindererziehungszeiten vom 1. November 1972 bis zum 31. Oktober 1973 und
vom 1. Mai 1976 bis zum 30. April 1977 zu berücksichtigen. Ab dem 1. Juli 2014 erhöhte die Beklagte die
persönlichen Entgeltpunkte der Klägerin um zwei Entgeltpunkte. Höhere Leistungen seien dabei längstens
für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme des Bescheides zu erbringen.
8 Ebenso stellte die Beklagte mit Rentenbescheid vom 7. Januar 2015 die Regelaltersrente ab dem 1. Januar
2012 neu fest. Für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Januar 2015 ergebe sich eine Nachzahlung in
Höhe von 4.257,89 EUR.
9 Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 23. Januar 2015 Widerspruch und führte aus, es sei für beide Söhne
nur ein Jahr Kindererziehungszeit angerechnet worden, ihr stünden aber seit Inkrafttreten der Mütterrente
jeweils zwei Jahre zu. Zudem habe sie bereits im Jahr 1996 den Antrag auf Anerkennung von
Kindererziehungszeiten gestellt. Schließlich fehle eine Anrechnungszeit wegen Mutterschutz.
10 Mit Rentenbescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1.
Juli 1996 neu fest, für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2011 ergebe sich eine
Nachzahlung in Höhe von 177,30 EUR. Als Anrechnungszeiten seien zusätzlich die Zeiten vom 11.
September 1972 bis zum 18. Dezember 1972 und vom 22. Februar 1976 bis zum 30. Mai 1976
(Mutterschutz) zu berücksichtigen. Ebenso stellt die Beklagte mit Rentenbescheid vom 21. Juli 2015 die
Regelaltersrente ab dem 1. Januar 2012 neu fest. Für den Zeitraum 1. Januar 2012 bis zum 31. August 2015
ergebe sich eine Nachzahlung in Höhe von 521,48 EUR.
11 Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchbescheid vom 17. Februar 2016 als
unbegründet zurück. Gem. § 44 Abs. 4 SGB X könnten Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von
vier Jahren nach Rücknahme erbracht werden. Es handle sich um eine Ausschlussfrist, selbst wenn den
Rentenversicherungsträger ein Verschulden treffe. Diese Frist gelte entsprechend auch für den
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.
12 Deswegen hat die Klägerin am 17. März 2016 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Es liege kein Fall
des § 44 SGB X vor, da die Beklagte den Antrag auf Kindererziehungszeiten vom 7. November 1996 nicht
verbeschieden habe. Sie stütze ihre Klage auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Die
Pflichtverletzung der Beklagte sei unter anderem an der Nichtverbescheidung des Antrages zu sehen. § 44
Abs. 4 SGB X sei zudem dann nicht anzuwenden, wenn eine Erstfeststellung betroffen sei. Ab dem 1. Juli
2014 seien zudem zwei Jahre Kindererziehungszeit zu berücksichtigen.
13 Die Klägerin beantragt,
14 die Bescheide der Beklagten vom 6. Januar 2015 und 7. Januar 2015, ferner vom 20. Juli 2015 und 21. Juli
2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. Februar 2016 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, für die Zeit ab dem 1. Juli 1996 für die Kinder O. und M. St. Kindererziehungszeiten in
gesetzlichem Umfang zu gewähren und Rente in gesetzlicher Höhe zu zahlen und gem. § 44 SGB I zu
verzinsen, zunächst für die Zeit ab dem 1. Juli 1996 für jeweils ein Jahr und für die Zeit ab 1. Juli 2015 für
jeweils zwei Jahre.
15 Die Beklagte beantragt,
16 die Klage abzuweisen.
17 Es gebe im Rahmen eines Rentenverfahrens kein gesondertes Verfahren über die Anerkennung von
Kindererziehungszeiten. Die Entscheidung über die anzuerkennenden Zeiten werde im Rahmen der
Regelung über die Rentenhöhe getroffen. Mit dem Rentenbescheid sei daher über die mitgeteilten
Kindererziehungszeiten entschieden worden. Neben § 44 SGB X sei kein Raum für die Anwendung des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.
18 Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die
Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
19 Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist lediglich zu einem kleinen Teil
begründet. Der Bescheid vom 7. Januar 2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 21. Juli 2015 in
der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. Februar 2016 ist insoweit rechtswidrig, als die Beklagte ab
dem 1. Juli 2014 jeweils nur ein Jahr Kindererziehungszeiten und zwei zusätzliche Entgeltpunkte
berücksichtigt hat. Im Übrigen erweisen sich die angefochtenen Bescheide aber als rechtmäßig.
20 1. Soweit die Klägerin vorträgt, die Beklagte habe zu Unrecht ab dem 1. Juli 2014 jeweils nur ein Jahr
Kindererziehungszeiten für ihre beiden Söhne berücksichtigt, greift sie mit diesem Vorbringen durch.
21 Kindererziehungszeiten sind gem. § 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) Zeiten der
Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren.
22 Die Kindererziehungszeit für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind endet zwölf Kalendermonate nach
Ablauf des Monats der Geburt. (vgl. § 249 Abs. 1 SGB 6 in der Fassung vom 15.12.1995, in der Fassung vom
16.12.1997, in der Fassung vom 19.2.2002, in der Fassung vom 21.7.2004, in der Fassung vom 15.7.2009)
23 Seit dem 1. Juli 2014 endet die Kindererziehungszeit für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind 24
Kalendermonate nach Ablauf des Monats der Geburt. (vgl. § 249 SGB 6 in der Fassung vom 23.6.2014)
Bestand am 30. Juni 2014 Anspruch auf eine Rente, wird ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten für
Kindererziehung für ein vor dem 1. Januar 1992 geborenes Kind berücksichtigt, wenn in der Rente eine
Kindererziehungszeit für den zwölften Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt angerechnet
wurde, kein Anspruch nach den §§ 294 und 294a besteht. Der Zuschlag beträgt für jedes Kind einen
persönlichen Entgeltpunkt. (vgl. § 307d SGB 6 in der Fassung vom 23.6.2014) Diese Vorschrift dient der
Verwaltungsvereinfachung (vgl. amtliche Begründung, BT-Drs. 18/909, unter A.II.2.)
24 Orientiert an diesen gesetzlichen Vorgaben ist für den Zeitraum vom 1. Juli 1996 bis zum 30. Juni 2014 für
die beiden Söhne O. und M. jeweils gem. § 249 Abs. 1 SGB VI in der jeweiligen Fassung vom 15.12.1955,
16.12.1997, 19.2.2002, 21.7.2004 und 15.7.2009 ein Jahr Kindererziehungszeit zu berücksichtigen. Für
ihren Sohn O., der am … Oktober 1972 geboren ist, ist eine Kindererziehungszeit vom 1. November 1972
bis zum 31. Oktober 1973 und für ihren Sohn M., der am ... April 1976 geboren ist, vom 1. Mai 1976 bis zum
30. April 1977 zu berücksichtigen.
25 Allerdings sind für den Zeitraum ab dem 1. Juli 2014 für beide Söhne jeweils zwei Jahre
Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen. Die Klägerin unterfällt nicht dem Anwendungsbereich des § 307
d SGB VI. Zwar hatte sie bereits am 30. Juni 2014 einen Anspruch auf eine Rente, allerdings war in dieser
Rente entgegen. § 307 d Abs. 1 Nr. 1 SGB VI gerade keine Kindererziehungszeit für den zwölften
Kalendermonat nach Ablauf des Monats der Geburt angerechnet worden. Vielmehr waren für die Klägerin
am 30. Juni 2014 noch gar keine Kindererziehungszeiten berücksichtigt worden. Bereits nach dem Wortlaut
der Vorschrift des § 307 d Abs. 1 SGB VI ist in einem solchen Fall eine Anwendung ausgeschlossen. Dies
entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn sie soll der Verwaltungsvereinfachung für
Bestandsrenten dienen. Diesem Bedürfnis kann aber dann nicht mehr Rechnung getragen werden, wenn
ohnehin eine Neuberechnung durchgeführt werden muss, da bereits gar keine Kindererziehungszeiten
berücksichtigt worden sind. Wenn die Verwaltung daher sowieso „korrigierend“ tätig werden muss, besteht
bereits kein Raum für eine Verwaltungsvereinfachung. Es muss daher bei der Grundregel des § 249 Abs. 1
SGB VI (in der Fassung vom 23.6.2014) verbleiben. Daher ist für den Sohn O. eine Kindererziehungszeit
vom 1. November 1972 bis zum 31. Oktober 1974 und für den Sohn M. vom 1. Mai 1976 bis zum 30. April
1978 anzuerkennen.
26 Demgemäß ist der Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 2015 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheide vom
21. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. Februar 2016 insoweit rechtswidrig. Die
Beklagte ist daher zu verpflichten, ab dem 1. Juli 2014 Kindererziehungszeiten vom 1. November 1972 bis
zum 31. Oktober 1974 und vom 1. Mai 1976 bis zum 30. April 1978 anzuerkennen.
27 2. Nach Überzeugung des Gerichts hat der Beklagte aber zu Recht in den angefochtenen Bescheiden die
rückwirkende Erbringung von Rentenleistung auf vier Jahre begrenzt.
28 Gem. § 64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag der Rente, wenn die unter Berücksichtigung des
Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Die persönlichen Entgeltpunkte für die
Ermittlung des Monatsbetrags der Rente errechnen sich, indem die Summe aller Entgeltpunkte für
Beitragszeiten, beitragsfreie Zeiten, Zuschläge für beitragsgeminderte Zeiten, Zuschläge oder Abschläge aus
einem durchgeführten Versorgungsausgleich oder Rentensplitting, Zuschläge aus Zahlung von Beiträgen bei
vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters oder bei Abfindungen von Anwartschaften auf
betriebliche Altersversorgung oder von Anrechten bei der Versorgungsausgleichskasse, Zuschläge an
Entgeltpunkten für Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung, Arbeitsentgelt aus nach § 23b Abs. 2
Satz 1 bis 4 des Vierten Buches aufgelösten Wertguthaben, Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen
nach Beginn einer Rente wegen Alters und Zuschläge an Entgeltpunkten für Zeiten einer besonderen
Auslandsverwendung mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt wird. (§ 66 SGB VI)
29 Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder
von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der
Verwaltungsakt gem. § 44 Abs. 1 SGB X, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die
Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der
Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Die Erbringung
von Sozialleistungen ist dabei auf vier Jahre vor der Rücknahme gem. § 44 Abs. 4 SGB X begrenzt. Dabei
wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt
zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den
rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
30 Orientiert an diesen gesetzlichen Vorgaben sind vorliegend die Rentenbescheide vom 7. November 1996,
vom 3. April 1998 und vom 9. November 2011 von Anfang an rechtswidrig gewesen, da die Beklagte die
Kindererziehungszeiten sowie Berücksichtigungszeiten und Anrechnungszeiten wegen Mutterschutz nicht
berücksichtigt hat. Gem. § 64 SGB VI hängt der monatliche Rentenzahlbetrag von den persönlichen
Entgeltpunkten ab, die sich wiederum aus den Beitragszeiten, den beitragsfreien Zeiten sowie den
Zuschlägen für beitragsgeminderte Zeiten ergeben. Durch Berücksichtigung der mit der Erziehung beider
Söhne verbundenen rentenrechtlichen Zeiten hätte die Klägerin eine höhere monatliche Rente erhalten.
Demgemäß sind dieses Rentenbescheide rechtswidrig und der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 SGB X ist
eröffnet.
31 Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nach Überzeugung des Gerichts nicht davon auszugehen, dass die
Beklagte bis zum Jahr 2014 nicht über die mit der Erziehung der Kinder verbundenen Rentenzeiten
entschieden hat. Vielmehr hat sie in den bis zu diesem Zeitpunkt ergangenen Bescheiden konkludent über
das Nichtvorliegen dieser Zeiten entschieden. Dies folgt für das Gericht aus den Regelungen des § 64, 65
SGB VI. Die Beklagte muss alle rentenrechtlichen Zeiten bei ihrer Bewilligungsentscheidung miteinstellen,
um rechtmäßig über die Rentenhöhe entscheiden zu können. Das bedeutet, im Rahmen des
Rentenbewilligungsbescheides setzt sie auch verbindlich fest, welche Zeiten zu berücksichtigen sind. Dabei
trifft sie keine ausdrückliche „Negativentscheidung“, welche Zeiten nicht berücksichtigt werden, sondern
setzt positiv fest. Zumindest konkludent beinhaltet daher eine Rentenbewilligung immer auch die
Nichtberücksichtigung der nicht festgestellten Rentenzeiten. Dieses Verständnis stützt auch das in § 149
SGB VI geregelte Vormerkungsverfahren. Auch im Rahmen dessen werden nur die festgestellten
Rentenzeiten vorgemerkt, also eine Positiventscheidung getroffen. Dafür spricht auch, dass es außerhalb der
Rentenbewilligung und des Vormerkungsverfahrens keine separates Verfahren zur Feststellung von
rentenrechtlichen Zeiten gibt.
32 Da somit die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vorlagen, musste die Beklagte die rechtswidrigen
Rentenbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen. Dies hat sie vorliegend mit den
Rentenbescheiden vom 6. und 7. Januar 2015 in der Fassung der Teil-Abhilfebescheide vom 20. und 21. Juli
2015 getan.
33 Das Überprüfungsbegehren hat die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts erstmals während des
Telefongespräches mit der Beklagten am 8. Dezember 2014 zum Ausdruck gebracht. Entgegen der
Auffassung der Klägerin vermag das Gericht keinen Überprüfungsantrag im Sinne des § 44 SGB X in
Zusammenhang mit dem Antrag auf Umstellung der Erwerbsunfähigkeitsrente auf die Regelaltersrente im
November 2011 zu erkennen. Denn hieraus lässt sich auch bei Berücksichtigung des
Meistbegünstigungsgrundsatzes kein Begehren der Klägerin herauslesen, die bereits ergangenen
Rentenbescheide wegen Erwerbsunfähigkeit auf deren Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Es handelt sich
vielmehr um einen Antrag auf Umwandlung der bereits bewilligten Rente.
34 Die Erstattung der zu Unrecht nicht erbrachten Sozialleistungen ist aber gem. § 44 Abs. 4 SGB X auf einen
Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme begrenzt. Daher hat die Beklagte zu Recht eine Nachzahlung
für den Zeitraum ab 1. Januar 2010 festgesetzt.
35 § 44 SGB X dient zwei wesentlichen Aspekten des in Art. 19 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip,
nämlich der Einzelfallgerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Zum einen verhilft die Regelung der materiellen
Gerechtigkeit zur Geltung und stellt die Adressaten rechtswidriger Verwaltungsakte so, als hätte die
Behörde richtig gehandelt. Zum anderen wahrt die Regelung die Bestandskraft behördlicher und
gerichtlicher Entscheidungen. § 44 Abs. 1 SGB X postuliert dabei eine möglichst weitgehende Verwirklichung
sozialer Rechte sowie eine Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Demgegenüber stellt die materielle
Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X die Rechtssicherheit in den Vordergrund. Die Frist steht weder in der
Dispositionsbefugnis noch im Ermessen der Verwaltung oder der Gerichte noch kann gegen sie der Einwand
der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden. (vgl.
Merten in Hauck/Noftz, Rn. 91 zu § 44 SGB X) Selbst wenn den Leistungsträger ein erhebliches Verschulden
trifft, ist die Rücknahme aus einen Zeitraum von vier Jahren begrenzt.
36 Obwohl vorliegend selbst die Beklagte von ihrem eigenen Verschulden ausgeht, nachdem sie bei zwei
Antragsverfahren trotz entsprechender Angaben der Klägerin, die Kinder ihrem Rentenkonto nicht
hinzugefügt hat und daher entsprechend die rentenrechtlichen Zeiten in diesem Zusammenhang nicht
berücksichtigt hat, steht dies einer Anwendung der materiellen Ausschlussfrist damit nicht entgegen.
37 Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung, welcher sich die Kammer vollumfänglich anschließt, bestehen
keine verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X. (vgl. BSG, Urteil
vom 23. Juli 1986 – 1 RA 31/85 –, Rn. 17 nach juris; BSG, Beschluss vom 15. Dezember 1982 – GS 2/80 –,
BSGE 54, 223-232, SozR 1300 § 44 Nr 3) Auch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs.
1 GG liegt nicht vor. § 44 SGB X durchbricht das allgemein gültige Prinzip der Bestandskraft. Die Vorschrift
dient damit der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit des Einzelnen zulasten der Rechtssicherheit,
obwohl aus dem Grundgesetz gerade keine Verpflichtung erwächst, rechtswidrige belastende
Verwaltungsakte nach Eintritt der Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag aufzuheben. (vgl. BVerfG
vom 27.02.2007, AZ. 1 BvR 1982/01) Der Gesetzgeber hat mit der in § 44 Abs. 4 SGB X getroffenen
Regelung den Konflikt zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung ihm zu
Unrecht vorenthaltener Sozialleistung einerseits und der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer
Erhaltung der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers und damit
einhergehend an einer möglichst geringen Belastung mit Leistungen für zurückliegende Zeiträume
andererseits gelöst. Das schließt es aus, einseitig das Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner
Ansprüche auch für weiter zurückliegende Zeiträume als ausschlaggebend zu bewerten und darüber die
Interessen der Versichertengemeinschaft daran zu vernachlässigen. Die Vorschrift stellt eine in sich
ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung darstellt, die geeignet ist, ggf.
bestehende Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen ( vgl. BSG vom 23.07.1986, a.a.O.).
38 Neben der Vorschrift des § 44 SGB X besteht nach Überzeugung des Gerichts kein Raum für eine
Nachzahlung nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Denn § 44 SGB X geht als
gesetzliche Sonderregelung vor und verdrängt den Anwendungsbereich des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch. Für die Anwendbarkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verbleibt nur bei
Bestehen einer Regelungslücke Raum.
39 Nach Überzeugung des Gerichts wäre zudem, selbst wenn der sozialrechtliche Herstellungsanspruch
anwendbar wäre, § 44 Abs. 4 SGB analog anzuwenden. (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007 -B 13 R 34/06 R-
Rn. 18 nach juris; BSG, Urteil vom 24.04.2014 -B 13 R 23/13 R, Rn. 17 nach juris) Das BSG führt dabei in
seiner Entscheidung vom 24. April 2014 (B 13 R 23/13) überzeugend aus: „Bereits in seiner Entscheidung
vom 27. März 2007 hat der Senat unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des BSG auf die
vergleichbare Interessenlage bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsaktes (§44 SGB
X) und beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch verwiesen. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger
das Recht unrichtig angewandt, und in beiden Fällen hat dies zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht
die ihm zustehende Leistung erlangt. Einen ins Gewicht fallenden Unterschied hat das BSG in seiner
bisherigen Rechtsprechung nicht darin gesehen, dass der Berechtigte einmal einen ablehnenden
Verwaltungsakt erhalten, ein andermal dagegen schon im Vorfeld von der Anspruchsverfolgung abgesehen
hat. Denn so oder so ist der Leistungsträger gleichermaßen zur Korrektur verpflichtet. Auf ein Verschulden
des Leistungsträgers kommt es hier wie dort nicht an; auch der Umfang seiner Verpflichtung ist
grundsätzlich der gleiche. Aus diesen Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden
Leistung nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht
versagt oder er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss
kommen lässt; der Berechtigte ist im letzteren Fall keinesfalls schutzwürdiger als im ersten. Die
Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung. Der Herstellungsanspruch, der die
Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB Beratung) sanktioniert, kann nicht weiter reichen
als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung der Hauptpflicht. Für die
Gleichbehandlung der Fälle einer nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X)
mit denen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs spricht auch, dass hiermit im Grenzbereich beider
Rechtsinstitute unterschiedliche Rechtsfolgen vermieden werden.“ (BSG, Urteil vom 24. April 2014 – B 13 R
23/13 R –, Rn. 17, juris)
40 Die gegenteilige Auffassung des 4. Senats (vgl. BSG vom 6.3.2003, AZ. B 4 RA 38/02 R) ist vorliegend
bereits daher unerheblich, da es sich hier nicht um ein sogenanntes Erstfeststellungsverfahren handelt.
Damit wäre selbst bei Anwendbarkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches auf den vorliegenden
Sachverhalt eine Nachzahlung auf vier Jahre beschränkt.
41 Demgemäß erweisen sich die angefochtenen Bescheide im Hinblick auf die festgesetzte Nachzahlungshöhe
als rechtmäßig.
42 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Vorliegend ist es nach Überzeugung des Gerichts nicht
gerechtfertigt, der Beklagte einen Teil der außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzuerlegen. Denn die
falsche Umsetzung der Kindererziehungszeiten über den Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten führt in
finanzieller Hinsicht zum gleichen Ergebnis wie die Berücksichtigung von zwei Jahren
Kindererziehungszeiten.