Urteil des SozG Karlsruhe vom 12.12.2016

vollrente, gerichtlicher vergleich, innere medizin, falsches zeugnis

SG Karlsruhe Entscheidung vom 12.12.2016, S 1 U 2521/16
Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Verletztenrente - gerichtlicher Vergleich im
Vorprozess - keine rückwirkende Erhöhung der Verletztenrente - Anfechtung - Widerruf
Leitsätze
Keine rückwirkende Gewährung höherer Verletztenrente nach Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs über die
Höhe der Rente für denselben Zeitraum in einem früheren Rechtsstreit
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Verletztenrente in Höhe der Vollrente (= Minderung der
Erwerbsfähigkeit 100 v.H.) wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls auch für die Zeit vom 11.04.2011
bis zum 31.12.2014.
2
Der 1980 geborene Kläger erlitt am 27.07.2008 einen Arbeitsunfall, als er in der Wohnung seiner Nachbarin
einen im Badezimmer in Brand geratenen Durchlauferhitzer mittels Feuerlöscher erstickte, weshalb das
Feuer nicht auf das Mobiliar oder das Gebäude übergreifen konnte. Dabei zog er sich u.a. eine schwere
Rauchgasvergiftung zu. Gestützt auf das Gutachten des Facharztes für Innere Medizin und für
Psychotherapeutischer Medizin und Psychotherapie Dr. K. vom 06.10.2011 und eine beratungsärztliche
Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. O. anerkannte die Beklagte das Unfallereignis als
Arbeitsunfall und als dessen Folgen:
3
„Nach Inhalation von Rauchgas und ABC-Feuerlöschpulver anlässlich einer Hilfeleistung bei einem
Wohnungsbrand und hierdurch bedingter Intoxikation mit Kohlenmonoxyd, die mittels hyperbarer
Sauerstofftherapie behandelt wurde sowie nachfolgender posttraumatischer Belastungsstörung:
Chronifizierte, schwere posttraumatische Belastungsstörung (ICD F43.1), organisch bedingte
Persönlichkeitsstörung vom pseudo-psychopatischen Typus (ICD F04.0).“
4
Deswegen gewährte sie dem Kläger ab dem 11.04.2011 (= Tag nach Ende des Anspruchs auf
Verletztengeld) Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 50 v.H. der Vollrente (Bescheid
vom 18.04.2012, Widerspruchsbescheid vom 23.10.2012).
5
Deswegen erhob der Kläger am 27.11.2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG; S 4 U .../12), mit der er
die Gewährung von Verletztenrente auf unbestimmte Zeit in Höhe der Vollrente ab dem 11.04.2011
begehrte. Die 4. Kammer des SG erhob Beweis durch Einholung schriftlicher Auskünfte der Psychologischen
Psychotherapeutinnen S.-M. und F., des Dr. K. sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. P.. Außerdem ließ
sie den Kläger durch den Neurologen und Psychiater Dr. H. untersuchen und begutachten (Gutachten vom
06.08.2013). Dieser diagnostizierte auf seinem Fachgebiet als Gesundheitsstörung eine als Folge einer
Kohlenmonoxydvergiftung bestehende schwere organisch begründbare Psychose mit Angstzuständen,
paranoiden Vorstellungen, Erregungszuständen und mutistischen Zügen. Eine posttraumatische
Belastungsstörung sah er demgegenüber als nicht gegeben an. Die unfallbedingte MdE schätzte Dr. H. für
die Zeit ab dem Unfallereignis bis einschließlich August 2009 auf 80 v.H. und seither auf 100 v.H.. Seinem
Gutachten fügte der Sachverständige ein für die Staatsanwaltschaft Karlsruhe erstelltes fachpsychiatrisches
Gutachten von Prof. Dr. E. und Dr. P. bei.
6
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.03.2014 schlossen die Beteiligten zur Erledigung des
Rechtsstreits S 4 U .../12 einen gerichtlichen Vergleich, demzufolge sich die Beklagte in Abänderung der
angefochtenen Bescheide bereit erklärte, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 27.07.2008
Verletztenrente nach einer MdE um 70 v.H. der Vollrente zu gewähren (Ziff. 1). Außerdem erklärte sich die
Beklagte bereit, den Kläger in einem halben Jahr erneut wegen der Höhe der MdE begutachten zulassen
(Ziff. 2). Der Kläger erklärte sein Einverständnis mit den Erklärungen der Beklagten zu Ziff. 1 und 2 und die
Klage im Übrigen für erledigt (Ziff. 3).
7
In Ausführung dieses gerichtlichen Vergleiches erteilte die Beklagte den Bescheid vom 02.04.2014.
8
Im Oktober 2014 leitete sie von Amts wegen eine Nachprüfung der Höhe der unfallbedingten MdE ein.
Hierzu erstattete der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie Dr. Ka. zusammen mit
Dr. P. ein medizinisches Sachverständigengutachten. Diese diagnostizierten als Unfallfolgen eine organisch
bedingte wahnhafte (schizophrenieforme) Störung und eine schwere posttraumatische Belastungsstörung.
Gegenüber den Befunden im Gutachten des Dr. K. sei eine wesentliche Verschlechterung eingetreten.
Neben der unfallbedingten schweren posttraumatischen Belastungsstörung sowie den latenten
psychotischen Symptomen und fraglichen dissoziativen Zuständen sei es im Verlauf der letzten zwei bis drei
Jahre zu einer zunehmenden, inzwischen klinisch führenden anhaltend schweren floriden psychotischen
Symptomatik mit Wahnvorstellungen, optischen und akustischen Halluzinationen sowie Ich-Störungen
gekommen. Inzwischen lägen massive Einschränkungen der psychischen und körperlichen
Leistungsfähigkeit, der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie der regelrechten Teilhabe am sozialen und
gesellschaftlichen Leben vor. Aktuell sei es kaum möglich, mit dem Kläger ein adäquates Gespräch zu führen;
dies sei auch bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung und Begutachtung durch Dr. H. im August 2013 der
Fall gewesen. Darüber hinaus sei der Kläger kaum in der Lage, seine Wohnung zu verlassen. Eine adäquate
Kontaktaufnahme zu anderen Personen sei ebenfalls kaum noch möglich. Neue Situationen bereiteten ihm
massive Ängste. Er könne sich in keiner Weise unterstützend bei der Versorgung des Haushalts oder der
Versorgung seines kleinen Kindes beteiligten. Aufgrund der psychisch bedingten Inaktivität und mutmaßlich
als medikamentöse Nebenwirkung sei weiter eine massive Übergewichtigkeit aufgetreten, die
zwischenzeitlich ein zusätzliches somatisches Risiko bedeute. Die unfallbedingte MdE bewerteten die Dres.
Ka. und P. mit 100 v.H. . Dem schloss sich der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ha. in seiner
beratungsärztlichen Stellungnahme an. Gestützt auf das Ermittlungsergebnis gewährte die Beklagte dem
Kläger ab dem 01.01.2015 wegen der Unfallfolgen Verletztenrente in Höhe der Vollrente (Bescheid vom
03.02.2016).
9
Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch begehrte der Kläger die Gewährung von Verletztenrente nach
einer MdE um 100 v.H. bereits ab dem 11.04.2011. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück: In
Ausführung des gerichtlichen Vergleichs vom 18.03.2014 habe sie zunächst Verletztenrente ab dem
11.04.2011 in Höhe von 70 v.H. der Vollrente gewährt. Die Erhöhung auf 100 v.H. der Vollrente entspreche
dem Ergebnis des Gutachtens der Dres. Ka. und P. wie auch Ziffer 2 des gerichtlichen Vergleichs vom
18.03.2014. Der Kläger habe sich seinerzeit mit dieser Verfahrensweise ausdrücklich einverstanden erklärt
(Widerspruchsbescheid vom 28.06.2016).
10 Deswegen hat der Kläger am 27.07.2016 erneut Klage zum SG erhoben, mit der er sein Begehren
weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Widerspruchsvorbringen.
11 Er beantragt - teilweise sinngemäß -,
12 den Bescheid vom 03. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2016
abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 27. Juli 2008
Verletztenrente in Höhe der Vollrente auch für die Zeit vom 11. April 2011 bis zum 31. Dezember 2014
anstelle einer solchen nach einer MdE um 70 v.H. der Vollrente zu gewähren.
13 Die Beklagte beantragt,
14 die Klage abzuweisen.
15 Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend.
16 Mit Schreiben vom 02.11.2016 hat das erkennende Gericht den Beteiligten mitgeteilt, es erwäge eine
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter durch
Gerichtsbescheid, und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 02.12.2016 eingeräumt.
17 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
18 Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 des
Sozialgerichtsgesetzes ) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig
und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch
auf Gewährung von Verletztenrente in Höhe der Vollrente wegen der Folgen des erlittenen Arbeitsunfalls
vom 27.07.2008 auch für die Zeit vom 11.04.2011 bis zum 31.12.2014. Diesem Anspruch steht der
wirksame gerichtliche Vergleich vom 18.03.2014 entgegen, durch den das Verfahren S 4 U .../12 beendet
wurde. Hierüber konnte die Kammer gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch
Gerichtsbescheid entscheiden, weil sie der Auffassung ist, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten
tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, und der Sachverhalt geklärt ist.
19
1.
Materiell-rechtlicher Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist allein die Gewährung von
Verletztenrente in Höhe der Vollrente anstelle einer solchen nach einer MdE um 70 v.H. wegen der Folgen
des Arbeitsunfalls vom 27.07.2008 auch für die Zeit vom 11.04.2011, dem Tag nach Ende des Anspruchs auf
Verletztengeld (vgl. Bescheid vom 18.04.2012) bis zum 31.12.2014, dem Tag vor Beginn der Erhörung der
Verletztenrente auf 100 v.H.. Diesem Begehren steht indes der zwischen den vorliegenden Beteiligten im
Verfahren vor dem SG (S 4 U .../14) am 13.08.2014 geschlossene gerichtliche Vergleich entgegen. Denn
bereits in jenem Rechtsstreit stritten die Beteiligten um die Gewährung von Verletztenrente wegen der
Folgen des Arbeitsunfalls vom 27.07.2008 nach einer MdE in Höhe der Vollrente für die Zeit ab dem
11.04.2011.
20 Ob ein gerichtlicher Vergleich den im Klageverfahren verfolgten prozessualen Anspruch vollständig erledigt
hat (§ 101 Abs. 1 SGG) und die Rechtshängigkeit der Klage entfallen ist, ist eine in jeder Lage des Verfahrens
von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung. Ein Vergleich, den die Beteiligten zu Erledigung des
geltend gemachten Anspruches - wie hier - ordnungsgemäß zur Niederschrift des Gerichts schließen,
beendet den Rechtsstreit (§§ 101 Abs. 1, 185, 195 und 199 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Bei dem Vergleich vom
18.03.2014 handelt es sich um einen gerichtlichen Vergleich im Sinne des § 101 Abs. 1 SGG. Das SGG
enthält keine Definition des Vergleichs, sondern setzt diese als bekannt voraus. Eine Definition findet sich in
§ 779 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Danach ist ein Vergleich ein Vertrag, durch den der Streit
oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt
wird (vgl. auch § 54 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs -Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -
).
21 Die am 18.03.2014 zwischen den Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreits getroffene Vereinbarung erfüllt
diese Definition. Insbesondere handelt es sich bei der getroffenen Regelung um eine Vereinbarung im Sinne
eines gegenseitigen Nachgebens. So hat die Beklagte ab dem 11.04.2011 Verletztenrente nach einer MdE
um 70 v.H. der Vollrente anstelle der ursprünglich durch den Bescheid vom 18.04.2012 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 23.10.2012 bewilligten Rente nach einer MdE um 50 v.H. der Vollrente
gewährt, während der Kläger im Gegenzug auf die Zahlung von Verletztenrente nach einer höheren MdE -
konkret: In Höhe der Vollrente - verzichtet hat. Bei Abschluss des Vergleichs vom 18.03.2014 hat zwischen
den Beteiligten überdies Streit über die Höhe der Ansprüche des Klägers für die Zeit ab dem 11.04.2011 und
angesichts der unterschiedlichen ärztlichen Bewertungen hinsichtlich der Höhe und des Zeitpunkts der
unfallbedingten MdE auch eine rechtliche Ungewissheit bestanden.
22
2.
Dem gerichtlichen Vergleich vom 18.03.2014 kommt rechtlich eine Doppelnatur zu: Er ist sowohl
öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne eines Vergleichsvertrags (§ 54 Abs. 1 SGB X), durch welchen eine bei
verständiger Würdigung des Sachverhalts bestehende Ungewissheit - hier: über die Höhe der
unfallbedingten MdE - durch gegenseitiges Nachgeben beseitigt wird, als auch Prozesshandlung der
Beteiligten, die den Rechtsstreit unmittelbar beendet (vgl. BSG vom 24.01.1991 - 2 RU 51/90 -, Rdnr. 20
; BSG SozR 1500 § 101 Nr. 8; BVerwG, NJW 1994, 2306 und BGHZ 79, 71)und deren Wirksamkeit
sich nach den Grundsätzen des Prozessrechts richtet. In der Folge werden die streitgegenständlich
gewesenen Bescheide bestandskräftig und ist eine - wie hier - neue Klage mit - im Ergebnis - gleichem
Streitgegenstand daher unzulässig (vgl. Müller in Roos/Wahrenderf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 101, Rdnr. 27 und
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 101, Rdnr. 10, jeweils m.w.N.).
23
a)
Prozessrechtliche Gründe stehen der Wirksamkeit des gerichtlichen Vergleichs vom 18.03.2014 nicht
entgegen: der Vergleich wurde vor dem mit dem Rechtsstreit S 4 U .../12 befassten Gericht geschlossen. Die
Beteiligten waren bei Abschluss des gerichtlichen Vergleichs beteiligten- (§ 70 SGG) und prozessfähig (§ 71
SGG). Der Vergleich wurde nicht unter einer Bedingung abgeschlossen (vgl. zur Unzulässigkeit insoweit
BVerwG, DVBl. 1996, 105 und Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, Vorb § 40, Rdnr. 15 m.w.N. ). Der
gerichtliche Vergleich vom 18.03.2014 im Verfahren S 4 U .../12 ist weiter unter Beachtung der gesetzlichen
Protokollierungsvorschriften (§ 122 SGG i.V.m. § 159 ff. der Zivilprozessordnung ), insbesondere des
§ 162 ZPO, demzufolge das Protokoll, soweit es zu Protokoll erklärte Anträge der Verfahrensbeteiligten
enthält, diesen vorzulesen und von ihnen zu genehmigen ist (§ 162 Abs. 1 Sätze 1 und 3 ZPO), zustande
gekommen und hat damit den Rechtsstreit S 4 U .../12 beendet (§ 101 Abs. 1 S. 1 SGG). Sonstige
prozessrechtliche Gründe für eine Unwirksamkeit des Vergleichs vom 18.03.2014 hat der Kläger nicht
vorgetragen. Allein dem Umstand, dass er mit der vorliegenden Klage nicht denselben Bescheid wie im
Verfahren S 4 U .../12 anficht, sondern denjenigen vom 03.02.2016 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 28.06.2016, kommt keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu.
24
b)
Nachdem der Kläger durch den gerichtlichen Vergleich vom 18.03.2012 im Verfahren S 4 U .../12
jedenfalls konkludent für die Zeit ab dem 11.04.2011 materiell-rechtlich auf die Gewährung von
Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 27.07.2008 in Höhe der Vollrente anstelle einer
solchen nach einer MdE um (nur) 70 v.H. verzichtet hat, steht dies auch der Anwendung der
Rücknahmevorschrift von § 44 SGB X entgegen (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 17.07.2012 - L 13 AS
500/12 - und vom 09.06.2011 - L 10 R 3494/08 -, ferner Bayerisches LSG vom 20.07.2011 - L 16 SB 141/08
- ; so bereits SG Mannheim, Breithaupt 1989, 446 ff.).
25
c)
Als Prozesshandlung kann der Kläger den in dem gerichtlichen Vergleich vom 18.03.2014 im Verfahren S
4 U .../12 zum Ausdruck gekommenen Verzicht auf eine Verletztenrente nach einer höheren MdE als 70 v.H.
der Vollrente für die Zeit ab dem 11.04.2011 bis zum 31.12.2014 auch nicht frei anfechten oder widerrufen
(vgl. BSG vom 24.04.2003 - B 11 AL 33/03 B - m.w.N. und LSG Baden-Württemberg vom
11.07.2012 - L 2 SO 2207/12 - ). Zwar können auch Prozessverhandlungen
grundsätzlich im Verlauf des weiteren Verfahrens widerrufen, ergänzt, geändert oder berichtigt werden,
wobei als Anfechtungsgründe vor allem Irrtum oder Täuschung (§§ 119, 123 BGB) in Betracht kommen (vgl.
Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl. 2016, Kapitel VII, Rdnr. 187). Dies
gilt jedoch nur, solange der Rechtsstreit (noch) anhängig ist (vgl. Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl.
2015, Einl. III, Rdnr. 21). Dies ist vorliegend ersichtlich nicht der Fall. Unwiderruflich und nicht
abänderungsfähig sind darüber hinaus solche Prozesshandlungen, durch die der Prozessgegner eine
Rechtsstellung erlangt oder aufgrund der er seine Rechtsstellung eingerichtet hat (vgl. BFH/NV 1992, 49 und
Bay. LSG vom 16.10.2010 - L 15 V 37/01 - ). Dies ist bei Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs der
Fall.
26
d)
Der gerichtliche Vergleich vom 18.03.2014 ist auch aus materiell-rechtlichen Gründen nicht unwirksam.
Das materielle Recht führt zur Unwirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs, wenn ein Beteiligter diesem
nicht wirksam zugestimmt hat (vgl. BSG SozR Nr. 8 zu § 102 SGG). Auch diese Voraussetzung liegt hier
ersichtlich nicht vor. Denn bereits im Verfahren S 4 U .../12 war der Kläger von seinem jetzigen
Prozessbevollmächtigten vertreten und hat den von dem dortigen Kammervorsitzenden vorgespielten
Vergleich nach dem Inhalt der Sitzungsniederschrift ausdrücklich genehmigt. Für eine Nichtigkeit des
gerichtlichen Vergleichs vom 18.03.2014, etwa im Sinne der §§ 116 bis 118 oder §§ 134 bis 138 BGB, hat
der Kläger nichts vorgetragen noch ist eine solche aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens sonst
ersichtlich.
27
e)
Der materiell-rechtliche Vergleich kann überdies grundsätzlich entsprechend den bürgerlich-rechtlichen
Vorschriften z.B. über die Anfechtung einer Willenserklärung mit Auswirkungen auf den gesamten
Prozessvergleich beseitigt werden (vgl. BSGE 7, 280; 19, 114, 115f.; BSG vom 01.04.1981 - 9 RV 43/80 -
sowie LSG Baden-Württemberg vom 20.11.2001 - L 13 AL 2307/01 -, jeweils zitiert nach juris). Für eine
Anfechtung wegen Irrtums über den Inhalt der vom Kläger am 18.03.2014, vertreten durch seinen
Prozessbevollmächtigten, abgegebenen Erklärungen liegt kein Anhalt vor. Gleiches gilt für eine Anfechtung
wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB).
28
f)
Auch ein Widerruf oder eine Anfechtung des gerichtlichen Vergleichs entsprechend den Regeln über die
Wiederaufnahmeklage (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., vor § 60, Rdnr. 12a m.w.N.)
kommt vorliegend nicht in Betracht, weil ein gesetzlicher Restitutionsgrund im Sinne von § 179 Abs. 1 SGG
in Verbindung mit § 580 ZPO (insbesondere: Falsche eidliche Aussage des gegnerischen Prozessbeteiligten,
Urkundenfälschung, strafbares falsches Zeugnis oder Gutachten, Urteilserschleichung, strafbare
Amtspflichtverletzung eines Richters, Auffinden einer bisher unbekannten Urkunde) weder vorgetragen
noch ersichtlich ist. Überdies lägen auch die Voraussetzungen des § 581 Abs. 1 ZPO (rechtskräftige
Verurteilung wegen einer Straftat oder fehlende Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus
anderen Gründen als wegen Mangels an Beweisen) nicht vor. Ob gegebenenfalls ein Nichtigkeitsgrund im
Sinne des § 579 ZPO (unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, Mitwirkung eines kraft Gesetzes
ausgeschlossenen oder wegen Befangenheit abgelehnten Richters, den gesetzlichen Vorschriften nicht
entsprechende Vertretung eines Beteiligten) ebenfalls einen Widerruf oder eine Anfechtung des
gerichtlichen Vergleichs vom 18.04.2012 im Verfahren S 4 U .../12 rechtfertigen könnte, kann vorliegend
offen bleiben. Denn die in § 579 Abs. 1 ZPO aufgeführten Nichtigkeitsgründe liegen hier ersichtlich ebenfalls
nicht vor.
29
3.
Aus Ziffer 2 des gerichtlichen Vergleichs vom 18.03.2014 ergibt sich überdies hinreichend deutlich, dass
die Beklagte eine erneute Begutachtung (und Entscheidung) wegen der Höhe der unfallbedingten MdE nicht
(auch) mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern allein mit Wirkung für die Zukunft zu treffen hatte. Dem
ist die Beklagte durch die hier streitgegenständlichen Bescheide voll umfänglich nachgekommen und hat
dem Kläger auf der Grundlage des Gutachtes der Dres. Ka. und P. und der beratungsärztlichen
Stellungnahme von Dr. Ha. Verletztenrente in Höhe der Vollrente für die Zeit ab dem 01.01.2015 gewährt.
30
4.
Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide nicht rechtswidrig und musste das Begehren
des Klägers erfolglos bleiben.
31 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Absätze 1 und 4 SGG.