Urteil des SozG Karlsruhe vom 28.05.2009

SozG Karlsruhe (kind, mutter, gutachten, pflege, familie, verhältnis zu, körperpflege, muskelatrophie, versorgung, pflegebedürftigkeit)

SG Karlsruhe Urteil vom 28.5.2009, S 4 SO 869/08
Soziale Pflegeversicherung - Pflegegeld - Ermittlung der Pflegestufe - minutengenaue Erfassung des
Zeitaufwandes der täglich notwendigen Grundpflegeleistungen - Nichtberücksichtigung von Belastungen
des familiären Systems
Leitsätze
Zur Berechnung des täglichen Grundpflegebedarfs eines dreijährigen an schwerer spinaler Muskelatrophie
erkrankten Kindes
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt vom Beklagten höhere Pflegegeldleistungen (Pflegestufe III).
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Die am .... 2005 geborene und von ihren Eltern vertretene Klägerin leidet an frühinfantiler, schwerer spinaler
Muskelatrophie (SMA) Typ I (Morbus Werdnig-Hoffmann) sowie an einem angeborenen Herzfehler. Am 04. Juli
2007 beantragten die Eltern für die Klägerin beim Beklagten Hilfe zur Pflege aus Mitteln der Sozialhilfe. Der
Beklagte bewilligte zunächst mit Bescheid vom 17. Juli 2007 der Klägerin Hilfe zur Pflege im Zeitraum vom 01.
Juni 2007 bis zum 31. Mai 2008 in Höhe eines monatlichen Pflegegelds ab dem Monat Juni 2007 von 205,--
EUR.
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Ein vom Beklagten in Auftrag gegebenes Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin
erstattete Dr. S., Öffentlicher Gesundheitsdienst, unter dem 08. Oktober 2007. Darin stellte Dr. S. einen
Grundpflegebedarf für die Klägerin von täglich 183 Minuten fest (Körperpflege, Mehraufwand 10 min,
Ernährung, Mehraufwand 118 min und Mobilität, Mehraufwand 55 min). Dr. S. empfahl dementsprechend die
Zuordnung der Klägerin in Pflegestufe II. Daraufhin ersetzte der Beklagte seinen Pflegegeldbescheid vom 17.
Juli 2007 durch Bescheid vom 22. Oktober 2007. Darin bewilligte er der Klägerin nunmehr für die Zeit ab dem
01. Juni 2007 rückwirkend bis zum 31. Mai 2008 ein monatliches Pflegegeld von 410,-- EUR entsprechend der
Pflegestufe II.
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Den dagegen von der Klägerin am 07. November 2007 erhobenen Widerspruch begründete diese wie folgt: Bei
ihr liege ständige Betreuungsnotwendigkeit vor. Sie sei ein schwerstbehindertes Kind, das entsprechend
Pflegestufe III pflegebedürftig sei. Es werde gebeten, über den Widerspruch baldmöglichst zu entscheiden.
5
Im Folgenden veranlasste der Beklagte eine gutachtliche Untersuchung der Klägerin durch den MDK. Im
Gutachten vom 31. Januar 2008 wurde der tägliche Grundpflegebedarf mit 176 Minuten berechnet. Der
Zeitbedarf für die tägliche Körperpflege betrage 28 min, derjenige für die Ernährung 90 min und derjenige für die
Mobilität 58 min. Ferner bestehe ein nächtlicher Grundpflegebedarf im Hinblick auf Lagerung und
Windelwechsel. Es werde weiter empfohlen, der Klägerin Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe II zu
erbringen. Längerfristig sei allerdings von einer Steigerung der grundpflegerischen Versorgung im Vergleich zu
einem gesunden gleichaltrigen Kind auszugehen. Eine abschließende Prognoseentscheidung sei derzeit aber
noch nicht möglich.
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Daraufhin wies die Beklagte den gegen den Bescheid vom 22. Oktober 2007 erhobenen Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 2008 als unbegründet zurück. Zur Begründung hieß es, der MDK
komme auch in seinem jüngsten Pflegegutachten vom 31. Januar 2008 dazu, für die Pflegebedürftigkeit der
Klägerin die Pflegestufe II zu empfehlen. Dementsprechend kämen höhere Pflegegeldleistungen entsprechend
der Pflegestufe III nicht in Betracht.
7
Am 25. Februar 2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erheben lassen.
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Die Klägerin ist weiter der Auffassung, die Zahlung von Pflegegeldleistungen nur nach Pflegestufe II
entsprächen nicht dem tatsächlichen Grad ihrer Pflegebedürftigkeit. Mit einem GdB von 100 sei sie
schwerbehindert. Sie leide an spinaler Muskelatrophie und bedürfe deshalb auch der ständigen Versorgung mit
Pulsoxymeter und Sauerstoff. Ferner leide sie an fehlender Kopfkontrolle, könne nicht sitzen und sich auch
nicht drehen. Ihre Muskelkraft sei deutlich eingeschränkt. Eigene Muskelreflexe seien beidseitig nicht
auslösbar. Es bestehe daher krankheitsbedingt ein Pflegebedarf von mindestens sechs Stunden täglich,
sodass die Pflegegeldleistungen entsprechend der Pflegestufe III zu gewähren seien.
9
Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.
Februar 2008 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr ab Antragstellung des
streitgegenständlichen Bezugszeitraum vom 01. Juni 2007 bis zum 30. Juni 2008 Pflegegeldleistungen
entsprechend Pflegestufe III zu gewähren.
11 Die Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13 Der Vortrag der Klägerin zur bestehenden Behinderung sei unstrittig. Ihr geltend gemachter krankheitsbedingter
Pflegebedarf von mindestens sechs Stunden täglich bei mindestens fünf Stunden täglicher Grundpflege lasse
sich jedoch nicht bestätigen. Die bereits vorliegenden Pflegegutachten gingen von einem deutlich niedereren
Pflegeaufwand von täglich ca. nur drei Stunden aus. Ausschlaggebend für die Zuordnung einer Pflegestufe sei
bei Kindern (der) gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind bestehende zusätzliche Pflegebedarf.
14 Das erkennende Gericht hat von Amts wegen ein Pflegegutachten mit Hausbesuch veranlasst und den
Pflegesachverständigen R. mit der gutachtlichen Untersuchung der Klägerin beauftragt. Mit Gutachten vom 24.
Juli 2008 hat der Sachverständige eine tägliche Pflegebedürftigkeit der Klägerin für die Grundpflege in einem
Umfang von 201 Minute errechnet. Dieser Grundpflegeaufwand setze sich aus einem Mehraufwand der
pflegenden Person im Verhältnis zu gleichaltrigen gesunden Kinder auf täglich 31 min Körperpflege, 94 min
Ernährungshilfe und 76 min Mobilitätshilfe zusammen. Es bestünden folgende Pflegediagnosen:
Beeinträchtigter Gasaustausch bei der inneren Atmung, unwirksamer Atmungsvorgang, unwirksame
Selbstreinigungsfunktion der Atemwege, beeinträchtigte Gehfähigkeit, beeinträchtigte körperliche Mobilität,
Selbstversorgungsdefizite bei der Toilettenbenutzung, Obstipationsgefahr, Defizite bei der Körperpflege, dem
sich Ein- und Auskleiden sowie bei der Nahrungsaufnahme. Die Klägerin erhalte dreimal wöchentlich häusliche
Krankenpflege durch den Kinderkrankenpflegedienst Hotzenplotz aus Pforzheim. Dieser leiste in einem
Zeitraum von zwei Stunden pro Einsatz Behandlungspflege (Physio- und Atemtherapie) sowie folgende
Leistungen der Grundpflege: vollständige Übernahme nach Darm- bzw. Blasenentleerung (Windeln wechseln,
Intimhygiene, Entsorgung), vollständige Übernahme des mundgerechten Zubereitens der Nahrung und teilweise
Übernahme der Aufnahme der Nahrung. Um die Klägerin während der Einsätze nicht zu überfordern, würden
zwischenzeitlich auch allgemeine Beaufsichtigungs- und Betreuungsleistungen durch den Kinderpflegedienst
erbracht. Die Kinderpflegekräfte gingen mit der Klägerin auch Spazieren. Im Übrigen werde die Klägerin durch
ihre Eltern gepflegt.
15 Es lägen folgende pflegeerschwerende Faktoren vor: Kontrakturen/Einsteifung großer Gelenke/Fehlstellungen
der Extremitäten sowie verrichtungsbezogene krankenspezifische Pflegemaßnahmen, die aus medizinisch
pflegerischen Gründen regelmäßig und auf Dauer objektiv notwendig und im unmittelbaren zeitlichen und
sachlichen Zusammenhang mit diesen Verrichtungen vorzunehmen seien. Zusammenfassend sei für den
Beurteilungszeitraum von Schwerpflegebedürftigkeit gemäß Pflegestufe II auszugehen. Ein besonderer
ständiger Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf gemäß Pflegestufe III liege aber nicht vor.
16 Auf Antrag der Klägerin hat das Gericht ihre wahlärztliche gutachtliche Untersuchung durch den Kinder- und
Jugendmediziner Dr. D. veranlasst. Im kinderneurologischen Fachgutachten vom 08. Dezember 2008 stellt Dr.
D. fest, die an spinaler Muskelatrophie erkrankte Klägerin werde vor allem von ihrer Mutter, ergänzend durch
den Vater, gepflegt. Des Weiteren sei ein Pflegedienst für wenige Stunden wöchentlich vor Ort. Durch den
zunehmenden Verlust an Muskelkraft entwickelten sich Gelenkkontrakturen und häufig eine schwere
Kyphoskoliose des Achsenskeletts. Umfangreiche medizinische und pflegerische Versorgung und
therapeutische Maßnahmen seien notwendig. Besonders beeinträchtigt bei der Klägerin sei die
Nahrungsaufnahme. Durch vorzeitige Ermüdung des Kauapparats sei die Klägerin nicht fähig, selbst in
ausreichendem Maße Nahrung zum Mund zu führen. Hinzu kämen Verdauungsstörungen durch fehlende
Bauchpresse und rasches Hochdrücken des Zwerchfells mit Atembeeinträchtigung. Die Klägerin sei auch
inkontinent, bedingt durch Muskelschwäche. Die Gelenkbeweglichkeit und Gelenkstabilität sei im Bereich von
Armen und Beinen schwer beeinträchtigt. Es bestünden fixierte Kontrakturen im Bereich beider Sprunggelenke.
Die Muskelkraft im Bereich der unteren Extremitäten sei auf 1/6 reduziert. Im Bereich der Arme sei sie auf 1/6
bis 2/6 reduziert. Die Klägerin könne weder gehen noch stehen. Die freie Kopfkontrolle sei eingeschränkt.
Zudem sei ein zunehmender Haltungsverlust des Kopfes im Verlauf der letzten Monate festzustellen. Die
Klägerin könne beobachten, zuhören und wahrnehmen. Künftig werde ihr auch Schreiben theoretisch möglich
sein. Sie könne komplexe Aufgaben durchführen, solange sie dafür keine Muskelkraft benötige. Bislang könne
sie sich sprachlich ausreichend äußern. Es bestehe eine verkürzte Sprache und teilweise spreche sie sehr
leise. Die Körperposition könne die Klägerin nicht selbständig verändern. Bzgl. der Selbstversorgung sei damit
volle Abhängigkeit gegeben.
17 In den Bereichen Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Mobilität sei die Klägerin komplett auf fremde Hilfe
angewiesen. In der Familie lebten vier Kleinkinder, zwei davon seien durch spinale Muskelatrophie behindert.
Nehme man die Zeitrichtwerte für die Pflege gesunder Kinder nach den Begutachtungsrichtlinien vom 21. März
1997, so müsste die Mutter der Klägerin 700 Minuten tägliche Pflegezeit bei gesunden Kindern aufbringen.
Damit wären bereits 11 Stunden an Lebenszeit vergeben. Zusätzlich seien nun zwei Kinder schwerbehindert
und die Familie erhoffe sich die Anerkennung von zumindest drei bis vier weiteren Pflegestunden. Die
pflegerische Belastung beginne bereits nachts, da vier Kleinkinder öfters wach würden und die Mutter
brauchten. Die Klägerin selbst rufe pro Nacht vier- bis sechsmal nach der Mutter. Sie müsse dann umgelagert
oder gewindelt werden oder sie wolle trinken. Auch wenn sich das Bett der Klägerin direkt neben demjenigen
der Mutter befinde, seien teilweise längere Verrichtungen notwendig. Die Mutter der Klägerin berichte glaubhaft,
dass sie mehr als drei bis max. vier Stunden nachts grundsätzlich nicht schlafen könne und dass drei- bis
viermal 20 bis 30 min nächtliche Pflege der Klägerin ihrer Normalität entsprächen. Das größte
Gesundheitsproblem der Mutter der Klägerin sei zurzeit die schwere und eigene anhaltende Übermüdung.
Zwischen 7 Uhr und 9 Uhr würden dann alle Kinder wach und es beginne die Pflege der Kinder. Die
Nahrungsaufnahme der Kinder ziehe sich bis gegen 10 Uhr hin. Dann seien alle Kinder satt. Die Mutter der
Klägerin berichte, dass es ihr teilweise erst spät in der Nacht möglich sei, wichtige Teile der Hausarbeit zu
erledigen. Die Mutter der Klägerin wasche täglich zwei Maschinen Wäsche. Sie bügele abends spät. Da bislang
kein Kind ihr aktiv mithelfen könne, sei der Vater erforderlich, um mit der ältesten Tochter etwas zu
unternehmen, einzukaufen oder direkte pflegerische Unterstützung zu leisten. Die tatsächliche
Pflegebedürftigkeit lasse sich nicht in Zeitminuten abbilden. Zahlreiche Notwendigkeiten ließen sich im Alltag
nicht umsetzen. Das Kind werde beispielsweise nur einmal pro Woche gebadet, obgleich die Erkrankung
tägliche Bäder als angezeigt erscheinen lasse. Im warmen Wasser empfänden muskelschwache Kinder eine
große Entspannung. Sie könnten sich hier aktiv bewegen und die Verkürzungstendenz der Muskulatur lasse
sich so besser aufhalten. Ebenfalls wären regelmäßige Spazierfahrten in frischer Luft günstig, seien der
Familie aber aus Zeitgründen unmöglich. Auch sei eine ausreichende Ernährungsstrategie so nicht leistbar.
18 Die Pflege der Klägerin sei durch die massive Muskelschwäche in allen Bereichen erschwert.
Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI liege eindeutig vor. Er empfehle die Vergabe der Pflegestufe III. Diese
Pflegestufe entspreche den üblicherweise vorgenommenen Einstufungen bei entsprechend massiv
geschädigten und behinderten Kindern. Indes gelinge es einer Migrantenfamilie mit vier Kleinkindern häufig
nicht, eine entsprechende Pflegestufe glaubhaft zu machen. Während Krankheiten und Behinderungen sich
valide darstellen ließen und auch deren Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens und den
Pflegebedarf im Allgemeinen belegbar seien, fände sich keine wissenschaftlich zuverlässige Relation zum
Bedarf in Minuten und Stunden. Der Pflegebedarf in Minuten und Stunden entspringe einer individuellen
Pflegekultur und orientiere sich an den Möglichkeiten des individuellen Systems. Die tatsächliche Pflegezeit in
Minuten halbiere sich bezogen auf das einzelne Kind, sobald eine Familie drei statt ein Kind habe. Die Klägerin
als Schwerstpflegebedürftige benötige eigentlich mehr Zeit, ebenso wie ihre behinderte Schwester und die
beiden nicht behinderten Geschwister. Indes sei es der Mutter der Klägerin nicht möglich, mehr als 24 Stunden
am Tag für ihre Kinder da zu sein.
19 Alle Gutachter hätten die erhebliche Behinderung der Klägerin gesehen und erkannt. Die Symptomatik der
Pflegeversicherung gebe keinen Raum, die Belastungen eines familiären Systems zu erfassen und zu
verstehen. Die Vorgutachter hätten die Progredienz der Erkrankung nicht in den Vordergrund gestellt. Die
Belastung der Familie werde weiter zunehmen, obgleich bereits jetzt eine erhebliche Belastung der die Pflege
tragenden Mutter vorhanden sei. Die tatsächliche Pflegesituation erscheine in den Vorgutachten nur teilweise.
Die Pflegezeiten für die Klägerin seien nur auf das Notwendigste beschränkt. Die beiden gesunden Kinder
müssten außerdem weit zurückstehen. Zum Teil fehlten sogar für den Schulbesuch die Ressourcen in der
Familie. Der Beliebigkeit der Pflegestufenzuschreibung könne aber auch durch ein kinderneurologisches
Fachgutachten nicht abgeholfen werden. Die Not der Familie der Klägerin und ihrer Kinder sei groß, es gelte
dringlich qualifiziert zu helfen.
20 Die gerichtlich bestellten Sachverständigen sind in der mündlichen Verhandlung zu ihren schriftlich erstatteten
Gutachten gehört und vernommen worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die
Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
21 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
dem Gericht vorliegenden Behördenakten und den Inhalt der Prozessakte (S 4 SO 869/08) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22 Die zulässige Klage kann in der Sache keinen Erfolg haben.
23 Der Bescheid des Beklagten vom 22. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.
Februar 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Beklagte hat der Klägerin im
vorliegend allein streitgegenständlichen Zeitraum vom 01. Juni 2007 bis zum 30. Juni 2008 zu Recht
Pflegegeldleistungen nach Pflegestufe II erbracht. Während des fraglichen Zeitraums hat die Klägerin keinen
Anspruch auf Pflegegeldleistungen entsprechend Pflegestufe III.
24 Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII - ist Personen, die wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig
wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate,
in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, Hilfe zur Pflege aus Mitteln der Sozialhilfe zu leisten.
Die Höhe der Pflegegeldleistungen richtet sich nach § 64 SGB XII, der in seinen Absätzen 1-3 zwischen
erheblich Pflegebedürftigen, Schwerpflegebedürftigen und Schwerstpflegebedürftigen unterscheidet. Erheblich
pflegebedürftig ist danach, wer bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei
Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich
mehrmals in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt (Pflegestufe I). Schwer
pflegebedürftig ist, wer bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen
mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der
Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt (Pflegestufe II). Dem gegenüber ist schwerst
pflegebedürftig, wer bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für mehrere Verrichtungen täglich
rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt (Pflegestufe III).
25 Gemäß § 64 Abs. 4 SGB XII ist bei pflegebedürftigen Kindern wie der Klägerin, der in Folge Krankheit oder
Behinderung gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind zusätzliche Pflegebedarf maßgeblich. Der
Anspruch auf Pflegegeld setzt voraus, dass der Pflegebedürftige und die Sorgeberechtigten bei
pflegebedürftigen Kindern mit dem Pflegegeld mit dessen Umfang entsprechend die Pflege in geeigneter Weise
selbst sicherstellen (§ 64 Abs. 5 Satz 1 SGB XII).
26 Die Pflegegeldleistungen entsprechend den nach § 15 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - SGB XI -
definierten Pflegestufen I bis III für selbstbeschaffte Pflegehilfen regelt § 37 Abs. 1 SGB XI für
Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) im fraglichen Bezugszeitraum bis Juni 2008 ein
monatliches Pflegegeld von 205,-- EUR, während Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige)
410,-- EUR monatlich erhalten und Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) mit 665,--
EUR Pflegegeld rechnen dürfen. Der tägliche Zeitaufwand für die Grundpflege muss für Pflegestufe I mehr als
45 Minuten, für Pflegstufe II mindestens 2 Stunden und für Pflegestufe III mindestens 4 Stunden betragen (§
15 Abs. 3 S. 1 SGB XI, vgl. zur Zuordnung näher: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Juni
2008, L 27 P 14/08, JURIS Rn. 17).
27 An diesem Maßstab orientiert, hat der Beklagte der Klägerin im streitgegenständlichen Bezugszeitraum zu
Recht Pflegegeldleistungen in Höhe von 410,-- EUR monatlich entsprechend Pflegestufe II gewährt. Denn die
Klägerin ist während des fraglichen Zeitraums auf eine tägliche Grundpflege von 201 Minuten angewiesen
gewesen (vgl. Pflegegutachten R. vom 24. Juli 2008). Damit beträgt der pflegerische Grundaufwand für die
Klägerin drei Stunden und 21 Minuten. Für Pflegestufe III und damit für Pflegegeldleistungen in Höhe von
monatlich 665,-- EUR bezogen auf den Zeitraum vom 01. Juni 2007 bis zum 30. Juni 2008 müssten gemäß §
15 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB XI indes tägliche notwendige Grundpflegeleistungen über einen Zeitfenster von
mindestens 240 Minuten = 4 Stunden erbracht werden. Davon ist die Klägerin im Bezugszeitraum bis Juni
2008 auch unter Berücksichtigung ihrer schweren gesundheitlichen Leiden, insbesondere der spinalen
Muskelatrophie, mit 201 Minuten noch recht weit entfernt gewesen. Das Gericht macht sich dabei nach eigener
kritischer Überprüfung die Ausführungen des Pflegesachverständigen R. im Gutachten vom 24. Juli 2008 zu
eigen. Der Sachverständige R. hat das in Auftrag gegebene Gutachten entsprechend der allgemein
anerkannten Pflegerichtlinien erstattet und die Pflegezeiten entsprechend der allgemeinen Standards in
Minuten umgerechnet. Der wahlärztliche Gutachter Dr. D. hat sich hierzu leider außer Stande gesehen. In
seinem gründlichen Gutachten vom 08. Dezember 2008 beschreibt er in erster Linie die schwierige soziale
Situation der Migrantenfamilie mit vier Kleinkindern, von denen zwei schwerbehindert sind. Diese
Zustandsbeschreibung von Dr. D. teilt das erkennende Gericht durchaus. Allein damit kann es nicht sein
Bewenden haben. Das Gericht ist darauf angewiesen, den täglichen Aufwand für die Grundpflege der Klägerin
entsprechend den gesetzlichen Vorgaben des § 15 SGB XI minutengenau zu erfassen und hieraus
entsprechende Folgerungen für die Zuordnung von Pflegestufe und Pflegegeld zu ziehen. Es mag sein, dass
die Symptomatik der Pflegeversicherung keinen Raum gibt, die Belastungen des familiären Systems, zumal
einer Migrantenfamilie, zu erfassen und zu verstehen. Diese grundsätzliche Kritik ist aber an den Gesetzgeber
zu richten. Sie ist nicht justiziabel. Dies mag sich durch eine von der Bundesregierung für nach 2009 geplante
Reform der Pflegeversicherung weg von der erforderlichen Pflegezeit und hin zu einer Förderung der
Selbständigkeit des Menschen künftig ändern (vgl. z.B. FAZ.NET vom 27. Mai 2009, Pflegeversicherung,
Schmidt nimmt Kurs auf neue Reform). Das Gericht ist aber für die Beurteilung des zur Entscheidung
stehenden Lebenssachverhalts der Klägerin im streitgegenständlichen Bezugszeitraum an die gegenwärtige
bzw. die damit identische Rechtslage im Bezugszeitraum gebunden.
28 Die dann von Dr. D. schließlich doch mitgeteilten zeitlichen Näherungswerte für eine annähernd minutengenaue
Bestimmung der täglichen Grundpflegezeit eines Kleinkindes von 5-6 Stunden bei einer Ein-Kind-Familie - so in
der mündlichen Verhandlung - oder 700 Minuten (11,66 Stunden bei einer Mehrkinder-Migrantenfamilie mit zwei
schwerbehinderten Kindern) - so im Gutachten -, sind für das Gericht in ihrer Pauschalität nicht plausibel.
Diese Werte wirken gegriffen und sind für das Gericht so nicht rational nachvollziehbar. Sie orientieren sich vor
allem nicht an den anerkannten gesetzlichen Pflegemaßstäben und verkennen vor allem, dass auch gesunde
Kleinkinder einen täglichen Grundpflegebedarf - nach Angaben des Sachverständigen Rau in der mündlichen
Verhandlung für ein dreijähriges gesundes Kind 138 min. täglich - haben, der keine Pflegegeldleistungen
auszulösen vermag.
29 Soweit Dr. D. darüber hinaus meint, in den Vorgutachten sei die Progredienz der Erkrankung der Klägerin nicht
ausreichend berücksichtigt worden, ist dem deutlich zu widersprechen. Bereits im MDK-Gutachten vom 31.
Januar 2008, das der Beklagte veranlasst hat, ist längerfristig von einer Steigerung bei der grundpflegerischen
Versorgung der Klägerin im Vergleich zu gesunden gleichaltrigen Kindern ausgegangen worden. Auch der
gerichtlich bestellte Pflegesachverständige R. hat in seinem Gutachten vom 24. Juli 2008 festgestellt, dass
angesichts der schweren Verlaufsform der spinalen Muskelatrophie längerfristig Gelenkeinsteifungen der
unteren Extremitäten nicht aufzuhalten sein werden. Außerdem werde die fortschreitende Verkrümmung der
Wirbelsäule (Skoliose) zu zusätzlichen Problemen bei der Atmung führen. Dies könne sich in vermehrten
Atemwegsinfektionen niederschlagen. Das zeigt, dass auch der Pflegesachverständige Rau sich der
Progredienz der Erkrankung durchaus bewusst ist und diese in seine Überlegung zur Bestimmung von Umfang
und Ausmaß der Grundpflege mit einbezogen hat. Bestätigt hat dies der Sachverständige R.in der mündlichen
Verhandlung, indem er für etwa ab dem 4. Lebensjahr der Klägerin - also ab Juli 2009 - die Pflegestufe III
prognostiziert hat.
30 Auch die weitere These des Wahlgutachters Dr. D., eine sprachlich versierte Ein-Kind-Familie würde für ein
vergleichbares Kind wie die Kläger die Pflegestufe III erhalten, ist spekulativ und vom Gericht nicht
überprüfbar.
31 Der Beklagte ist an die festen Vorgaben des § 64 SGB XII i. V. mit den §§ 15 ff. SGB XI gebunden. Er kann
sich darüber auch nicht aus Billigkeitsabwägungen oder aus ganzheitlichen Überlegungen, wie von Dr. D.
angeregt, hinwegsetzen. Ein pflichtgemäßes Ermessen hat der Gesetzgeber exekutiv insoweit ebenso wenig
eingeräumt, wie er Ausnahmetatbestände für besondere Fallkonstellationen geschaffen hat.
32 Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass die Hinnahme der Einordnung in Pflegestufe II seitens der
Klägerin durch die seit dem 01. Juli 2008 zuständige Pflegekasse (AOK Mittlerer Oberrhein) überrascht. Gegen
den Pflegegeldbescheid der AOK Mittlerer Oberrhein mit entsprechender Pflegestufe II für die Zeit ab 01. Juli
2008 hat die Klägerin nach Aktenlage nämlich weder Widerspruch erhoben noch einen Höherstufungsantrag
gestellt.
33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.