Urteil des SozG Hildesheim vom 29.07.2010

SozG Hildesheim: arbeitssuche, rechtsschutz, wohnung, niedersachsen, unionsbürger, haushalt, ausländer, aufenthalt, stadt, freizügigkeitsgesetz

Sozialgericht Hildesheim
Beschluss vom 29.07.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 26 AS 1237/10 ER
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig – unter dem
Vorbehalt der Rückforderung - vom 25.06.2010 bis zum Ablauf von zwei Wochen nach der Bekanntgabe der
Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.01.2010,
längstens jedoch bis zur Bestandskraft des Bescheides des Antragsgegners vom 26.01.2010, Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 359,- EUR monatlich zu zahlen; im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Der Klägerin wird ratenlose Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter
Beiordnung von Rechtsanwalt Spörlein, Hildesheim, bewilligt.
3. Der Antragsgegner hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Tatbestand:
Die Antragstellerin begehrt nach ihrem Zuzug von Griechenland nach Deutschland vorläufige Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1981 geborene Antragstellerin, die der deutschen Sprache nicht mächtig ist, wuchs in einem Dorf auf der Insel E.
auf. Im August 2009 reiste sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach F., um eine Sprunggelenksverletzung behandeln zu
lassen. Im November 2009 kam die Antragstellerin erneut nach Deutschland, wohnte zunächst wenige Tage bei dem
1972 geborenen griechischen Staatsangehörigen G., der ebenfalls aus einem Dorf auf der Insel H. stammt und nach
einem Arbeitsunfall Verletzten- und aufgrund weiterer Gesundheitsbeeinträchtigungen Erwerbsunfähigkeitsrente
bezieht und unter Betreuung steht. Anschließend hielt sie sich im Frauenhaus in I. auf. Wenige Tage nach ihrer
Ankunft fügte sich die Antragstellerin Verletzungen im Vaginalbereich zu, die am 07./08.11.2009 in einem
Krankenhaus in F. behandelt wurden. Ende November 2009 kehrte sie in die Wohnung von J. zurück. Anfang
Dezember 2009 meldete sie die Wohnung des J. als ihren Wohnsitz an, gab dabei als Einzugsdatum den 07.10.2009
an und beantragte eine Auskunftssperre gegenüber Privatpersonen.
Mitte Dezember 2009 bat die Antragstellerin beim Betreuungsgericht in F. schriftlich um die Bestellung eines
Betreuers.
Auf die beim Ausländeramt der Stadt F. eingereichte Aufenthaltsanzeige vom 02.12.2009, in der sie als Grund des
Aufenthalts allein die Arbeitsplatzsuche angab, stellte die Stadt F. unter dem 11.01.2010 ihr eine
Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt
geändert Art. 7 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I S. 215)) aus.
Am 15.01.2010 beantragte sie beim Antragsgegner Leistungen. Dabei gab sie an, sie lebe bei J. wegen ihrer
Sprachprobleme und nicht mit ihm in einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft. Sie erhalte
Verpflegungszuwendungen der K. Tafel. Gleichzeitig legte sie eine Kopie des von J. im Juli 2006 geschlossenen
Mietvertrages, eine an diesen gerichtete Mahnung des Energieversorgungsunternehmens aus Anlass nicht bezahlter
Abschlagsforderungen sowie die ebenfalls an J. gerichtete Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2008 vor. Im
Rahmen der Einkommenserklärung gab die Antragstellerin an, mit J. in Bedarfsgemeinschaft zu leben und legte
Nachweise über Renten- und Wohngeldzahlungen an diesen und einen Kontoauszug über einen Sollstand von 8,78
EUR vor. Mit Bescheid vom 26.01.2010 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag unter Hinweis auf § 7 Abs. 1
Satz 2 Nr. 1 SGB II ab. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin unter dem 26.02.2010 Widerspruch. In der
weiteren Begründung des Widerspruchs vom 10.03.2010 führte die Antragstellerin aus, der Zuzug in die
Bundesrepublik sei aufgrund der Verfolgung und Bedrohung durch ihre Familie in Griechenland erfolgt.
Im Rahmen des Betreuungsverfahrens gab die Antragstellerin gegenüber dem Landkreis F. und im Rahmen eine
psychiatrischen Begutachtung durch die Fachärztin für Psychiatrie L. an, seit mehreren Jahren von ihren
Familienangehörigen schwer körperlich und seelisch misshandelt worden zu sein. Sie sei nach Deutschland geflohen,
weil sie gegen ihren Willen auf Wunsch der Eltern die Ehe mit einem Schäfer eingehen sollte. Aus diesem Grund habe
sie sich auch kurz nach ihrer Ankunft im Vaginalbereich verletzt. M. unterstütze sie mit kleineren sächlichen und
finanziellen Zuwendungen. Für das kostenfreie Wohnen helfe die Antragstellerin ihm im Haushalt. Die
Sachverständige diagnostizierte eine Anpassungsstörung mit depressivem Zustandsbild sowie auch chronischer
Schmerzsymptomatik nach schwerer körperlicher und psychischer Traumatisierung. Mit Beschlüssen vom 13.04.2010
und 07.06.2010 wurde die Betreuerin des J. auch zur Betreuerin der Antragstellerin bestellt.
Mit Schreiben vom 17.05.2010 bat die nunmehr anwaltlich vertretene Antragstellerin dem Widerspruch abzuhelfen.
Am 25.06.2010 hat sie mit im Wesentlichen unverändertem Vortrag die Antragstellerin einen Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz gestellt und Prozesskostenhilfe beantragt. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse ist am 28.06.2010 bei Gericht eingegangen.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu bewilligen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er hält die getroffene Entscheidung für zutreffend. Ausländer seien vom Leistungsbezug ausgeschlossen, wenn sich
deren Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens
und des Betreuungsgerichts sowie die Verwaltungsakten des Beklagten und der Stadt F. – Ausländeramt – verwiesen,
die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Antrag ist zulässig, und im erkannten Umfang begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem
Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der
Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG
glaubhaft zu machen. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht
möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des
Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, 1. Senat, 3. Kammer, Beschluss vom 12.05.2005 –
1 BvR 569/05 – NVwZ 2005, 927 ff). Der Antrag ist bereits vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 3 SGG).
Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erfüllt.
1. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i. S. des § 20 Abs. 1
SGB II glaubhaft gemacht.
a. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind erfüllt. Die Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet
und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1), sie ist erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3)
und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 4).
Das Gericht hat angesichts der wiederholten Angabe der Antragstellerin, sie versorge sich über die in geringer
Entfernung von der Wohnung gelegene Einrichtung "K. Tafel" mit Lebensmitteln und der gesamten Höhe der Einkünfte
des J. keinen Zweifel, dass die Antragstellerin hilfebedürftig i. S. des § 9 Abs. 1 SGB II ist.
Auch hat das Gericht trotz der nicht unerheblichen aktenkundiger Gesundheitsbeeinträchtigungen der Antragstellerin
keinen Anlass, an ihrer Erwerbsfähigkeit zu zweifeln, zumal sie im Haushalt des erwerbsunfähigen J. zumindest
Hilfstätigkeiten leistet.
b. Der Anspruch der Antragstellerin scheitert auch nicht an § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II.
Danach sind nicht leistungsberechtigt Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder
Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind für die
ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1), Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der
Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen (Nr. 2) sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des
Asylbewerberleistungsgesetzes (Nr. 3).
Die Antragstellerin hat sich bei Beantragung des einstweiligen Rechtsschutzes bereits länger als drei Monate in der
Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Dabei kann für die Entscheidung über den einstweiligen Rechtsschutz offen
bleiben, ob sie – wie sie bei der Anmeldung ihres Wohnsitzes angegeben hat – bereits am 07.10.2009 in Deutschland
war. Sie ist spätestens am 07.11.2009 nach Deutschland eingereist, weil sie sich an diesem Tag nachweislich einer
Krankenhausbehandlung unterzog, so dass die Dreimonatsfrist spätestens am 07.12.2010 ablief. Sie ist auch nicht
leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Die Antragstellerin ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Bezug von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen.
(1) Zwar ergibt sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche.
Hierfür spricht zunächst, dass die Antragstellerin im Rahmen ihrer Aufenthaltsanzeige die Antragstellerin allein die
Arbeitssuche als Zweck ihres Aufenthalts angab.
Eventuell von der Arbeitssuche abweichende Motive der Antragstellerin für den Zuzug der Antragstellerin,
insbesondere das begleitende oder dominierende Ziel sich aus persönlichen Gründen von ihrem bisherigen
Lebensumfeld in Griechenland auf Dauer zu lösen, sind vom Gericht weder positiv noch negativ zu ermitteln.
Sie begründeten oder hinderten selbst dann kein Aufenthaltsrecht, wenn die im Wesentlichen seit März 2010 von der
Antragstellerin bei unterschiedlichen Behörden geäußerte, im Wesentlichen gleichlautende, auch in Details schlüssige
und dem Gericht deshalb – nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller Gesetzesinitiativen, die explizit Fälle in
Griechenland benennen (Entwurf eines Zwangsheirat-Bekämpfungsgesetzes, BT-Drucks. 17/1213) – durchaus
glaubhafte Darstellung zutrifft.
Ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergäbe sich nur dann nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche, wenn ihr
ein anderer oder weiterer der in § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU genannten Gründe für ihren Aufenthalt zur Seite stünde
(Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rn. 16). Die Antragstellerin hat jedoch weder glaubhaft
gemacht, bereits erwerbstätig zu sein oder eine Berufsausbildung zu absolvieren. Auch die Voraussetzungen des § 2
Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU liegen nicht vor, weil die Antragstellerin weder als Arbeitnehmerin, noch als
Selbständige in Deutschland tätig war.
Auch aus dem Recht der europäischen Gemeinschaft folgt kein über den Zweck der Arbeitssuche hinausgehendes
Aufenthaltsrecht. Das weitgehend voraussetzungslose Aufenthaltsrecht aus Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158/77; sog. Unionsbürgerrichtlinie; im
Folgenden: UB-RL) ist auf einen Zeitraum von drei Monaten begrenzt, der hier – wie zuvor bereits ausgeführt –
abgelaufen ist. Art. 7 Abs. 1 UB-RL gewährt ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate nur, wenn der
Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständiger ist und er – unter anderem - über ausreichende Existenzmittel verfügt,
so dass er während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen
muss. Auch aus Art. 18 Abs. 1 des EG-Vertrages [EGV] folgt – wenn nicht bereits die UB-RL als abschließende
sekundärrechtliche Regelung über das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern anzusehen ist - kein weitergehendes
Aufenthaltsrecht. Danach hat zwar jeder Unionsbürger grundsätzlich das Recht, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift stellt jedoch das Aufenthaltsrecht ausdrücklich
unter den Vorbehalt der im EG-Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen, die ein Aufenthaltsrecht jedoch nur vorsehen, wenn der Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel
verfügt (ausführlich LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER – unter Hinweis auf
EuGH, Urt. v. 07.09.2004 - C-456/02 –).
(2) Ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar
ist, ist zwar umstritten (siehe nur die Übersicht bei LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 – L 15
AS 30/10 B ER – [Rn. 25] und Spellbrink, in Eicher/Spellbrink, a. a. O., § 7 Rn. 17 ff.). Die - vom LSG Niedersachsen
(a. a. O. [Rn. 26 ff.]) positiv beantwortete - Frage kann aber hier dahinstehen.
Jedenfalls ist der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht mit zwischenstaatlichem Recht
vereinbar.
Die Vorschrift widerspricht dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (im Folgenden EFA,
BGBl. 1956, Teil II, S. 564), aus dem die Antragstellerin als Staatsangehörige Griechenlands - mithin einer der
Unterzeichnerstaaten - Rechte herleiten kann. Das Gericht schließt sich insoweit den ausführlich darlegten Gründen
des LSG Niedersachsen-Bremen in dessen Beschluss vom 14.01.2008 – L 8 SO 88/07 ER – und der
Kommentierungsliteratur (Brühl/Schoch, in: Münder, SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 35) an. Zusammenfassend ergibt sich
dies aus folgendem:
Nach § 30 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) bleiben die Regelungen des über- und zwischenstaatlichen
Rechts unberührt. Gemäß Art. 1 EFA hat sich jeder der Vertragsschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der
anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf welches dieses Abkommen
Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen
eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge
zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.
Die Antragstellerin ist - wie zuvor ausgeführt - aufenthaltsberechtigt.
Nach Art. 2 Abs. b EFA findet das Abkommen jedoch nur auf die im Anhang genannten Rechtsvorschriften
Anwendung. In der Anlage der weiterhin gültigen Abkommensfassung aus dem Jahr 2000 ist u. a. das
Bundessozialhilfegesetz (BSHG, BGBl. II 2001, S. 1086, 1088)), nicht jedoch das - wesentlich später in Kraft
getretene - SGB II genannt. Auch ist das SGB II nur teilweise an die Stelle des BSHG getreten, so dass es nicht
schlicht als Nachfolgegesetz des BSHG betrachtet werden kann. Für eine Ausklammerung des SGB II als
Fürsorgegesetz im Sinne des EFA fehlt es jedoch – worauf das LSG Niedersachsen (a. a. O.) zu Recht hingewiesen
hat – an dem in Art. 16 Abs. b Satz 2 EFA vorgesehenen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die
Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden.
Soweit das LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009 - L 34 AS 1350/09 B ER – mit Blick auf die
Denkschrift zum EFA und zum Zusatzprotokoll (BT-Drucksache 1882 vom 24. November 1955, S. 22 und 23) die
Anwendbarkeit des Abkommens für Unionsbürger ausschließt, die bereits in der Absicht eingereist sind,
Fürsorgeleistungen in Anspruch zu nehmen, vermag dies im Hinblick auf die Möglichkeit, die Reichweite der
einbezogenen Fürsorgegesetze durch einen Vorbehalt zu begrenzen, nicht zu überzeugen. Ungeachtet dessen kann
angesichts der im Raume stehenden Misshandlungen und der drohenden Zwangsverheiratung hier auch die nach
Ansicht des LSG Berlin-Brandenburg insoweit ausschlaggebende Voraussetzung nicht als erfüllt angesehen werden,
dass der Sozialleistungsbezug für den Einreiseentschluss des Ausländers, sei es allein, sei es neben anderen
Gründen, in besonderer Weise bedeutsam war.
2. Die Antragstellerin hat jedoch keine Tatsachen glaubhaft gemacht, aus denen sich ein Anspruch auf Leistungen für
die Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ergibt.
Die diesbezüglich eingereichten Unterlagen betreffen durchweg längere Zeit vor der Einreise der Antragstellerin
begründete Verpflichtungen des J., mit dem die Antragstellerin nicht in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Es ist weder
vorgetragen, noch sonst ersichtlich, dass sich die Antragstellerin bislang an den Aufwendungen beteiligt oder sich
hierzu auch nur wirksam - etwa im Rahmen eines Untermietvertrages o. ä. - verpflichtet hat. Sie verfügt nach dem
Antragsvorbringen und dem bei der Leistungsbeantragung vorgelegten Kontoauszug über keinerlei finanzielle Mittel,
um die Verpflichtungen für die Wohnung zu bedienen. Insbesondere hat die Antragstellerin bei der im Rahmen des
Betreuungsverfahrens erfolgten Begutachtung angegeben, sie helfe J. aufgrund des für sie kostenlosen Wohnens im
Haushalt.
Vor diesem Hintergrund und auch aufgrund der sprachlichen Defizite der Antragstellerin, die ein umfassendes
Verständnis entsprechender Verpflichtungen zweifelhaft erscheinen ließen, wird der Antragsgegner ggf. aufgerufen
sein, die Wirksamkeit eventuell zukünftig vorgelegter Vereinbarungen über eine Beteiligung an den Unterkunftskosten
besonders sorgfältig zu prüfen.
3. Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor.
Dem Gericht ist schon angesichts der Sprachschwierigkeiten nicht durchweg nachzuvollziehen, aus welchen Gründen
sie nicht in Griechenland staatliche Hilfe – ggf. auch zum Schutz vor ihren Angehörigen – gesucht hat und/oder
innerhalb des Landes den Wohnsitz gewechselt hat. Auch ist nicht ersichtlich, dass ihr in Griechenland keine
staatliche Hilfe zur Existenzsicherung zuteil würde bzw. ihr diese aufgrund besonderer Umstände nicht zugänglich
wäre.
Allerdings erscheint es der Antragstellerin hier ausnahmsweise nicht zuzumuten, ein eventuelles
Hauptsacheverfahren – ggf. auch unter Inkaufnahme einer vorläufigen Rückkehr nach Griechenland – abzuwarten.
Zum einen erscheint es dem Gericht jedenfalls angesichts der in vieler Hinsicht plausibel geschilderten schweren
Misshandlungen und die zumindest nach der Schilderung des J. weiterhin andauernden Versuche von
Kontaktaufnahmen der Verwandten nicht auszuschließen, dass die Antragstellerin auch bei einer Rückkehr an einen
anderen Ort in Griechenland weiteren Gefährdungen ausgesetzt wäre. Insofern ist nicht mit der genügenden
Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und
unzumutbare, Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären.
Zum anderen verfügt die Antragstellerin - auch wenn sie mit dem Flugzeug in die Bundesrepublik eingereist ist -
derzeit bereits nicht über die Mittel, um ihre Lebensgrundlagen zu sichern, so dass eine Rückkehr nach Griechenland
nicht möglich erscheint. Letztlich liefe eine Verneinung des einstweiligen Rechtsschutzes unter diesen
Voraussetzungen jedoch darauf hinaus, dass während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht
gedeckt wäre. Diese Beeinträchtigung nachträglich könnte jedoch nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im
gedeckt wäre. Diese Beeinträchtigung nachträglich könnte jedoch nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im
Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden würden.
4. Das Gericht sieht sich nicht veranlasst, vorläufige Leistungen für einen Zeitraum vor dem Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz zuzusprechen. Ein in die Gegenwart fortwirkender Bedarf der Antragstellerin ist nicht ersichtlich.
Jedoch hat das Gericht die vorläufige Regelung auf zwei Wochen nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides
ausgedehnt.
Eine Begrenzung der vorläufigen Regelung auf einen Sechsmonatszeitraum nach Antragstellung (= bis zum
15.07.2010) erscheint der Kammer nicht sachgerecht. Die streitbefangene Ablehnung des Erstantrages entfaltet über
den Sechsmonatszeitraum hinaus Wirkungen, weil sich die Antragstellerin bei diesen Rahmenbedingungen nicht dazu
veranlasst sehen muss, einen Folgeantrag zu stellen.
Die Ausdehnung über den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides folgt daraus, dass das
Existenzminimum der Antragstellerin auch für den Fall eines zurückweisenden Widerspruchsbescheides noch für eine
begrenzte Zeit zu sichern ist, so dass die Antragstellerin noch in der Lage ist, ggf. erneut einstweiligen Rechtsschutz
in Anspruch zu nehmen. Mit der an die Bestandskraft des Bescheides vom 26.01.2010 geknüpften einschränkenden
Bedingung ist der Möglichkeit Rechnung getragen, dass die Antragstellerin den Widerspruch zurück nimmt.
II.
Der Antragstellern ist gem. 73 a Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. §§ 114, 115 der
Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen, weil sie nach ihren persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aus eigenem Einkommen oder
Vermögen zu tragen, auch nicht zum Teil oder in Raten. Ferner kann der beabsichtigten Rechtsverteidigung bzw.
Rechtsverfolgung aus den soeben dargelegten Gründen - auch nicht von vornherein die hinreichende Aussicht auf
Erfolg abgesprochen werden.
Rechtsanwalt N. ist der Antragstellerin gem. § 121 Abs. 2 ZPO beizuordnen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Das Gericht hat dabei einerseits berücksichtigt, dass die Antragstellerin mit dem unbezifferten und damit auf
zumindest auf Leistungen nach den §§ 20, 22 SGB II gerichteten Antrag nur teilweise Erfolg hat. Andererseits war
dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Antragsgegner bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung trotz mehrerer
Aufforderungen über rund vier Monate nicht über den Widerspruch der Antragstellerin entschieden hatte und bis heute
nicht entschieden hat und deshalb Veranlassung zur Antragstellung gegeben hat.
Rechtsmittelbelehrung:
pp.
D.