Urteil des SozG Hildesheim vom 03.09.2010

SozG Hildesheim: wohnung, stadt, unterbringung, hauptsache, erlass, niedersachsen, kaution, ermessen, duldung, wohnsitznahme

Sozialgericht Hildesheim
Beschluss vom 03.09.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hildesheim S 42 AY 147/10 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 23. September 2010 wird abgelehnt. Die Beteiligten haben
einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
Der nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gegen den Antragsgegner des Inhalts, diesen einstweilen zu verpflichten, dem 1989 geborenen Antragsteller
kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens, der im Jahre 2004 in die Bundesrepublik ohne
Identitätsnachweis zum Zwecke der Beantragung von Asyl mit der Begründung eingereist ist, er sei staatenloser
Kurde, und der derzeit aufgrund des Beschlusses der 39. Kammer des erkennenden Gerichtes vom 10.06.2010 - S 39
AY 33/10 ER (die Beschwerde des Antragsgegners gegen diesen Beschluss ist derzeit beim LSG Niedersachsen-
Bremen unter dem Aktenzeichen L 8 AY 57/10 B ER anhängig) - berechtigt ist, bis zum Abschluss des beim
Antragsgegner in der Hauptsache anhängigen Widerspruchsverfahrens vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu beziehen, die laufenden Kosten (310,- EUR Kaltmiete zzgl. 40,- EUR
Nebenkostenvorauszahlung) und die Kaution (930,- EUR) für eine zur privaten Anmietung bereit stehende eigene
Wohnung in der D. in E. zu übernehmen (vgl. dazu den vom Antragsteller vorgelegten, noch nicht unterzeichneten
Mietvertrag vom 23.08.2010, Blatt 2 ff. der Gerichtsakte), ist unbegründet, denn der Antragsteller hat für sein e.g.
Begehren keinen Anordnungsanspruch und keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG
i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO).
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung
in der Hauptsache im Falle des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG),
Beschluss vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76 -, BVerfGE 46 [166, 179, 184]). Steht dem Antragsteller ein von ihm
geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des
Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus
Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen
Verfahren ist jedoch nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung
unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können
(Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004 - L 7 AL 103/04 ER -). Sowohl die
hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs
(Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
(Anordnungsgrund) müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1
ZPO. Dies ist dem Antragsteller nicht gelungen.
Der Antragsteller, der nach Erkundigungen der Kammer derzeit von der Stadt E. gemeinsam mit seiner Mutter und
seinem Bruder (beide auch Antragsteller im Verfahren S 39 AY 33/10) in der Obdachlosenunterkunft der Stadt in der
F. in E. untergebracht ist, die ihm und seinen Angehörigen im Ergebnis als Sachleistung des Antragsgegners
unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird (die nach der Gebührenordnung der Stadt E. über die Benutzung der
Obdachlosenunterkünfte vom 11.06.2001 monatlich in Rechnung gestellten und auf den Leistungsbescheiden des
Antragstellers als Kosten der Unterkunft (KdU) ausgewiesenen Benutzungsgebühren stellen im Ergebnis lediglich
interne Verrechnungsposten zwischen Stadt und dem Antragsgegner dar, denn der Antragsteller und seine
Angehörigen zahlen de facto kein Entgelt an den Antragsgegner oder einen Dritten (insbes. die Stadt E.) für die
Überlassung ihrer Unterkunft), hat keinen Anordnungsanspruch auf Übernahme der KdU und der Kaution für die von
ihm zur Anmietung ins Auge gefasste Wohnung in der G. in E. glaubhaft gemacht.
Es kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob der Antragsteller, der derzeit von der Stadt E. aus
asylunabhängigen Gründen (wegen Passlosigkeit) geduldet wird, tatsächlich einen Anspruch auf Gewährung von sog.
Analog-Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG hat, oder aber ob dem Antragsgegner im Ergebnis mit Blick auf sein
Beschwerdevorbringen im Verfahren L 8 AY 57/10 B ER darin beizupflichten ist, der Antragsteller verzögere aus von
ihm selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen, wofür auch aus Sicht der Kammer der
Umstand sprechen könnte, dass der Antragsteller am 30.03.2010 den ihm von der Ausländerbehörde ausgehändigten
Fragebogen zu seinen Familienverhältnissen unvollständig ausgefüllt und nicht unterschrieben zurückgegeben hat, mit
der Folge, dass ihm aktuell lediglich Leistungen nach § 1a AsylbLG zustehen (so etwa VG Hannover, Urteil vom
11.07.2005 - 7 A 6832/04 -, juris Rn. 21).
Denn selbst wenn man zugunsten des Antragstellers das Bestehen eines Anspruchs auf Analog-Leistungen im
vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unterstellt, führt dieser Umstand nicht automatisch dazu,
dass der Antragsteller seine Unterbringung in einer privat angemieteten Wohnung auf Kosten des Antragsgegners
beanspruchen könnte. Die Rechtsfrage, ob ein Leistungsberechtigter nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in einer
Gemeinschaftsunterkunft oder aber in einer von ihm privat angemieteten Wohnung unterzubringen ist, beantwortet
sich vorrangig nach den ordnungsrechtlichen Vorgaben (vgl. etwa SG Augsburg, Urteil vom 15.04.2010 - S 15 AY 2/09
-, juris Rn. 48). Solange sich der Leistungsberechtigte auch nach Erfüllung der Vorbezugszeit von 48 Monaten i.S.d. §
2 Abs. 1 AsylbLG noch dem Regelungsregime des Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) zu unterwerfen hat, etwa weil sein
Asylerst-/-folgeverfahren noch nicht abgeschlossen ist, greift in der Regel die Vorschrift des § 53 AsylVfG, die die
Verpflichtung zur Unterbringung von Asylbewerbern in einer Gemeinschaftseinrichtung nach deren Umverteilung den
nach der Zuweisungsentscheidung (§§ 50 f. AsylVfG i.V.m. § 1 Nds. Aufnahmegesetz (AufnG)) zuständigen
Kommune vorschreibt. Ist dagegen das Asylverfahren des Leistungsberechtigten bestandskräftig negativ
abgeschlossen und wird er daran anschließend nur aus ausländerrechtlichen Gründen nach § 60a Abs. 2
Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geduldet, etwa weil er - wie vorliegend der Antragsteller - trotz vollziehbarer
Ausreiseverpflichtung i.S.d. §§ 50, 59 AufenthG nicht freiwillig ausreist und mangels Pass-/Passersatzpapieren
derzeit auch nicht abgeschoben werden kann, kann eine Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer
Gemeinschaftsunterkunft der zuständigen Kommune nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG durch Anordnung einer
entsprechenden Nebenbestimmung zur Duldung bestehen. Über eine derartige Anordnung hat die zuständige
Ausländerbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der sie bindenden Verwaltungsvorschriften
(insbes. Ziffer 61.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009 und Ziffer 61.1.4
der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, Stand: 30.06.2007) zu entscheiden
(zur ausländerrechtlichen Verpflichtung, in einer Gemeinschaftsunterkunft Wohnung zu nehmen, vgl. VG Osnabrück,
Urteil vom 21.11.2006 - 5 A 188/06 -, nachgehend Nds. OVG, Beschluss vom 16.09.2008 - 10 LA 57/07 -; VG
Osnabrück, Beschluss vom 25.06.2009 - 5 A 114/09 -; n.v.).
Ist der Leistungsberechtigte - wie vorliegend der Antragsteller - nicht schon aus ordnungsrechtlichen Gründen zum
Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet, entscheidet der nach dem AsylbLG zuständige Leistungsträger
über die Art und Weise der Deckung des laufenden Bedarfs des Leistungsberechtigten an Unterkunft und Heizung
nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Die Ausübung dieses Ermessens hat sich vorrangig an den das
Leistungsrecht des AsylbLG tragenden Prinzipien zu orientieren. In der Regel wird es das Sachleistungsprinzip und
der sozialhilferechtliche Nachranggrundsatz (vgl. § 2 SGB XII) bedingen, dass auch der Unterkunftsbedarf des nach §
2 Abs. 1 AsylbLG Leistungsberechtigten durch kostenlose Bereitstellung von Wohnraum in einer vorhandenen
Gemeinschaftsunterkunft der Kommune gedeckt werden kann; dies gilt selbst unter Berücksichtigung des
Umstandes, dass dem nach § 2 Abs. 1 AsylbLG Leistungsberechtigten die Hilfe zum Lebensunterhalt regelmäßig -
d.h. vorbehaltlich einer anderweitigen ermessensfehlerfreien Entscheidung des Leistungsträgers nach § 2 Abs. 2
AsylbLG - in Geld zu gewähren ist (Hohm in: Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Stand: 41. Erg.Lfg. Juli 2010,
§ 2 Rn. 127 unter Bezugnahme auf VG Weimar, Beschluss vom 13.03.1997 - 5 E 2449/96.We -, n.v.). In der
Rechtsprechung ist deshalb bereits entschieden, dass der nach § 2 Abs. 1 AsylbLG Leistungsberechtigte allein mit
dem Hinweis auf den Bezug von sog. Analog-Leistungen nicht automatisch die Unterbringung in einer von ihm privat
angemieteten Wohnung auf Kosten des Leistungsträgers beanspruchen kann (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom
16.02.2006 - 21 CS 06.230 -, juris Rn. 4); dem folgt die erkennende Kammer.
Dessen ungeachtet ist jedoch nicht auszuschließen, dass auch ein nach § 2 Abs. 1 AsylbLG Leistungsberechtigter im
Einzelfall einen durch Ermessensreduzierung auf Null entstehenden Anspruch gegen den Leistungsträger auf
Übernahme der Kosten einer von ihm privat angemieteten Wohnung haben kann, etwa wenn die Anmietung einer
eigenen Wohnung aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Aufnahme einer erlaubten Beschäftigung an einer vom
Ort der Gemeinschaftsunterkunft weiter entfernt liegenden Arbeitsstätte angezeigt ist oder aber die mit einer
Unterbringung von Asylbewerbern bzw. geduldeten Ausländern in einer Gemeinschaftsunterkunft der Kommune
verbundenen öffentlichen (insb. fiskalischen) Interessen bei privater Anmietung nicht tangiert werden, weil etwa die
Unterbringung in einer privat angemieteten Wohnung im Ergebnis wesentlich kostengünstiger ist (so i.E. zutr. OVG
Berlin, Beschluss vom 19.11.1993 - 6 S 194/93 -, NVwZ-Beil. 1994, S. 13 (14); Hohm, a.a.O., Rn. 128 f.).
Derartige gewichtige Gründe, die für eine Ermessensreduzierung auf Null sprechen könnten, hat der Antragsteller in
seinem Einzelfall weder ansatzweise dargelegt noch glaubhaft gemacht; solche sind auch für die Kammer nicht
erkennbar. Der Antragsteller bezieht auf Grundlage der von der 39. Kammer des erkennenden Gerichtes im Verfahren
S 39 AY 33/10 ER erlassenen einstweiligen Anordnung lediglich vorläufig und zeitlich befristet bis zur Entscheidung
über seinen beim Antragsgegner weiterhin anhängigen Widerspruch sog. Analog-Leistungen; das Bestehen eines
materiellen Anspruchs auf Analog-Leistungen ist daher nach wie vor offen und klärungsbedürftig. Seine
Familienangehörigen (Mutter und Bruder) sind mit ihm in der Gemeinschaftsunterkunft der Stadt E. in der F.
untergebracht, um die Familieneinheit nicht durch eine anderweitige getrennte Unterbringung jedes einzelnen
Familienangehörigen zu belasten. Bei dieser Sachlage ist nicht erkennbar, dass die - wohl auch nur vorläufige -
Entscheidung des Antragsgegners, den Unterkunftsbedarf des Antragstellers einstweilen weiterhin durch kostenlose
Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft der Stadt E. zu decken, ermessensfehlerhaft sein sollte, sodass auch
kein Anspruch des Antragsgegners auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer besteht,
den es ggf. durch den Erlass einer dahingehenden einstweiligen Anordnung zu sichern bzw. zu regeln gälte (zu dieser
Möglichkeit vgl. Sächs. OVG, Beschluss vom 11.09.2002 - 4 BS 228/02 -, juris Rn. 22).
Schließlich hat der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache
erforderlichen besonderen Dringlichkeit glaubhaft gemacht. Er hat weder vorgetragen, noch ist für die Kammer
erkennbar, dass die zur Anmietung für ihn derzeit bereitstehende Wohnung in der G. in E. auf absehbare Zeit die
einzige private Unterbringungsmöglichkeit mit angemessenen Kosten in E. darstellt und dass dieses Angebot nur
zeitlich beschränkt gilt. Die Kammer ist daher der Auffassung, dass dem Antragsteller ein Zuwarten bis zur
Entscheidung in der Hauptsache, d.h. bis zur Entscheidung über seinen beim Antragsgegner anhängigen
Widerspruch, zumutbar ist.
Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beteiligten beruht auf einer entsprechenden
Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt das vollständige Unterliegen des Antragstellers.