Urteil des SozG Hamburg vom 25.07.2003

SozG Hamburg: behandlung, versorgung, anerkennung, wirtschaftlichkeit, krankenversicherung, ausbildung, psychotherapie, erkenntnis, weiterbildung, ausgabe

Sozialgericht Hamburg
Beschluss vom 25.07.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 23 KR 983/03 ER
Die Antragsgegnerin hat einstweilen Kosten für zunächst 20 Sitzungen neuropsychologischer Therapie bei dem
Neuropsychologen Dipl-Psych. P. zu übernehmen. Sofern die Antragstellerin nach Beurteilung ihres behandelnden
Neurologen und ihres Neuropsychologen nach diesen 20 Sitzungen tatsächlich noch weiterer Neuropsychologie
bedürfen sollte, hat die Antragsgegnerin nach Einholung einer Stellungnahme des MDK einen neuen Bescheid zu
erteilen. Der Antragstellerin durch dieses Eilverfahren notwendig entstandene Kosten hat die Antragsgegnerin ihr auf
Antrag zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin erlitt am 24.07.2001 einen Schlaganfall, wurde vom 27.07.2001 bis 14.08.2001 im AK H. stationär
behandelt und war anschließend ab 16.08.2001 – mit zwischenzeitlich einer weiteren einwöchigen stationären
Behandlung im AK H. – bis 08.11.2001 in der Reha in Bad S., wo eine neuropsychologische Therapie begonnen und
ambulant fortzusetzen dringend empfohlen wurde.
Am 28.11.2001 begann sie eine außervertragliche neuropsychologische Therapie bei dem Dipl-Psychologen P., die
nach dem Behandlungsplan 40 Therapieeinheiten umfassen sollte.
Auf den Antrag, Kosten dieser Therapie zu übernehmen, befragte die Antragsgegnerin den MDK, für den der
Nervenarzt Dr. Sch. am 04.07.2002 erklärte:
"Neuropsycholog. Behandlung (wie beantragt vorerst 40 Sitzungen) ist med. notwendig und angemessen".
Mit Schreiben vom 08.07.2002 übernahm die Antragsgegnerin die Kosten für "2 – 5 probatorische Sitzungen sowie 20
reguläre Sitzungen".
Mit Schreiben vom 02.02.2003 beantragte P. im Namen der Antragstellerin die Kostenübernahme für weitere 45
Therapieeinheiten; der Vertragsarzt Dr. B. bescheinigte dazu am 04.02.2003 eine wegen Hirnleistungsstörung
erforderliche Weiterführung der Therapie.
Mit Bescheid vom 11.02.2003 lehnte die Antragsgegnerin eine weitere Kostenübernahme ab, weil die
neuropsychologische Therapie keinen Eingang in die vertragsärztliche Versorgung gefunden habe.
Im März beantragte P. für die Antragstellerin eine Verhaltenstherapie als Langzeittherapie mit voraussichtlich 45
Stunden.
Mit Bescheid vom 08.04.2003 lehnte die Antragsgegnerin eine Kostenübernahme für eine Psychotherapie bei P. ab,
weil er nicht zur vertragspsychotherapeutischen Behandlung zugelassen sei; zugleich nannte sie die Dipl-Psych. F.
als Vertragsbehandlerin mit noch freien Therapieplätzen.
Dagegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 26.04.2003 Widerspruch ein: Sie wolle ihre Therapie bei P.
fortsetzen. F. schrieb der Antragsgegnerin unter dem 05.05.2003, sie habe weder eine neuropsychologische
Ausbildung, noch sei sie auf Schlaganfallpatienten spezialisiert, zudem sei es der Antragstellerin fast unmöglich, die
Treppen zu ihr in die Praxis hoch zu kommen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2003 bemerkte die Antragsgegnerin, daß es sich bei dem Widerspruch
sinngemäß um einen Antrag auf Neufeststellung der mit Bescheid vom 11.02.2002 erfolgten Ablehnung handele,
diese Ablehnung indessen nicht zu beanstanden sei.
Mit ihrem zugleich mit ihrer in der Hauptsache erhobenen Klage S 23 KR 982/03 gestellten Antrag beantragt die
Antragstellerin,
die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, die Kosten für die weitere neuropsychologische Therapie zu
übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten bezug genommen.
II.
Nach § 86b Abs 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Die ambulante neuropsychologische Behandlung ist allerdings eine "neue", im System der gesetzlichen
Krankenversicherung – noch – nicht anerkannte Methode, und nach § 135 Abs 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zulasten der Krankenkassen nur abgerechnet werden
dürfen, wenn der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V –
bei denen es sich um untergesetzliche Rechtsnormen handelt, die in Verbindung mit § 135 Abs 1 SGB V verbindlich
festlegen, welche neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Gegenstand der Leistungspflicht der
Krankenkassen sind (vgl. BSG 16.09.1997 – 1 RK 32/95 = SozR 3-2500 § 92) – Empfehlungen über die Anerkennung
des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode gegeben hat.
Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hat bislang auch noch keine positive Entscheidung zur
neurologischen Therapie getroffen.
Ein Kostenübernahmeanspruch kommt indessen nach der Rechtsprechung des BSG auch in solchem Fall
ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich die fehlende Anerkennung der neuen Methode auf einem Mangel des
gesetzlichen Leistungssystems beruht: Ein solcher Systemmangel kann (auch) darin bestehen, daß das
Anerkennungsverfahren trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen
Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wird; denn die Ermächtigung in § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 iVm
§ 135 Abs 1 SGB V besagt nicht, daß es dem Bundesausschuß freigestellt ist, ob und wann er sich mit einem Antrag
auf Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode befassen und hierzu eine Empfehlung
abgeben will, und ebensowenig kann es im Belieben der antragsberechtigten Körperschaften und Verbände stehen, ob
überhaupt ein Verfahren vor dem Bundesausschuß in Gang gesetzt wird; vielmehr dient das präventive Verbot in §
135 Abs 1 SGB V allein dem Zweck der Qualitätssicherung; nur soweit es dieser Zweck erfordert, ist der Ausschluß
ungeprüfter und nicht anerkannter Heilmethoden aus der vertragsärztlichen Versorgung gerechtfertigt, während, wie
die ausdrückliche Erwähnung des medizinischen Fortschritts in § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V belegt, grundsätzlich auch
neue medizinische Verfahren zum Leistungsumfang der Krankenversicherung gehören: Soweit sie sich als
zweckmäßig und wirtschaftlich erweisen, dürfen sie den Versicherten nicht vorenthalten werden; dem muß das
Verfahren vor dem Bundesausschuß gerecht werden; es muß gewährleisten, daß bei Vorlage der für die Beurteilung
der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit benötigten Unterlagen in vertretbarer Zeit eine Entscheidung
über die Anerkennung der neuen Methode erreicht werden kann; wird die Einleitung oder die Durchführung des
Verfahrens willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen blockiert oder verzögert und kann deshalb eine für die
Behandlung benötigte neue Therapie nicht eingesetzt werden, widerspricht das dem Auftrag des Gesetzes; eine sich
daraus ergebende Versorgungslücke muß zugunsten des Versicherten mit Hilfe des § 13 Abs 3 SGB V geschlossen
werden (vgl. BSG 16. September 1997, Az: 1 RK 28/95 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 = BSGE 81, 54 = RdLH 1998, 30 =
BKK 1998, 188 = SuP 1998, 252 = Breith 1998, 373 = NZS 1998, 331 = ArztR 1998, 230 = SGb 1999, 31 = NJW
1999, 1805).
Der durch das Psychotherapeutengesetz geschaffene "Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie" der
Bundesärztekammer hat aber bereits in seinem am 08.06.2000 vorgelegten Gutachten zur neuropsychologischen
Therapie freilich – worauf die Antragsgegnerin hingewiesen hat – "das Fehlen hinreichender Wirksamkeitsbelege für
die Therapie des gesamten psychosozialen Raumes bei Menschen nach Hirnschädigung" moniert, dessen ungeachtet
aber – worauf es vorliegend entscheidend ankommt – speziell für das Funktionstraining bei cerebralen Insulten die
Neurologische Therapie als "wichtige und nicht durch andere Maßnahmen zu ersetzende Therapieoption" sowie
zusammenfassend generell für den Anwendungsbereich "hirnorganische Störungen" bei Erwachsenen als "ein
theoretisch und empirisch hinreichend fundiertes und damit wissenschaftlich anerkanntes Therapieverfahren"
befunden.
Daß der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen gleichwohl bis heute keine positive Entscheidung zur
neuropsychologischen Behandlung getroffen hat, liegt damit offenbar nicht in Zweifeln an Wirksamkeit,
Zweckmäßigkeit oder Wirtschaftlichkeit dieser Methode begründet, sondern wesentlich darin, daß sie von
Neuropsychologen ausgeübt wird, die zweifellos keine Ärzte sind, sondern Psychologen mit einer speziellen
Weiterbildung, die in Ausbübung ihrer auf der Grundlage und entlang spezifischer Diagnostik betriebenen Funktions-,
Kompensations- und integrativen Therapien nicht unproblematisch den Psychotherapeuten zugeordnet werden
können, zudem eine Anerkennung der neurologischen Therapie als Verfahren für die vertiefte Ausbildung
entsprechend § 1 Abs 1 der PschThG-APrV nach dem Gutachten vom 08.06.2000 nicht möglich ist, so daß erst noch
zu klären bleibt, in welchem Rahmen die ausstehende positive Entscheidung des Bundesausschusses ergehen kann.
Daß eine positive Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nicht wegen Zweifeln an
Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit oder Wirtschaftlichkeit der ambulanten neuropsychologischen Behandlung aussteht,
gleichwohl über drei Jahre nach dem Gutachten vom 08.06.2000 aber noch nicht vorliegt, bedeutet danach im Sinne
der o.g. Rechtsprechung des BSG offenbar ein Systemversagen mit einer zugunsten der Versicherten zu
schließenden Versorgungslücke.
Dieser Erkenntnis hatte auch eine bis zum vergangenen Jahr bestandene Empfehlungsvereinbarung zwischen den
Spitzenverbänden der Krankenkassen entsprochen, ambulante neuropsychologische Therapien im Rahmen der
Kostenerstattung zu vergüten.
Entgegen der - nicht nur der seitens der Antragsgegnerin - von Krankenkassen vertretenen Ansicht hat sich indessen
die Rechtslage nicht entscheidend geändert:
Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 SGB V (BUB-Richtlinien) haben auch in der zuletzt am 28.10.2002
geänderten (im Bundesanzeiger Nr. 242 vom 31.12.2002 veröffentlichten) Fassung weder die gesetzlichen Grundlagen
für eine Kostenerstattung verändert noch die Rechtsprechung des BSG überholt.
Insbesondere ist – anders als nach der Rechtsprechung des BSG für den "off-label-use" von Medikamenten – für die
Übernahme von Kosten einer nicht zum Leistungsspektrum der vertragsärztlichen Versorgung gehörenden Methode
keine lebensbedrohliche oder ähnlich schwerwiegende Situation des Patienten erforderlich, sondern nicht mehr und
nicht weniger als ein Versagen des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung.
Für dieses Systemversagen im Falle hirnorganischer Störungen bei Erwachsenen bleiben auch die Richtlinien des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen
Versorgung ("Heilmittel-Richtlinien / HMR") in der Fassung vom 6. Februar 2001 offenbar ohne Relevanz:
Wohl ist in den HMR "Hirnleistungstraining / neuropsychologisch orientierte Behandlung" als zur Ergotherapie gehörig
aufgeführt; die Erkenntnis im Gutachten vom 08.06.2000, daß die neuropsychologische Therapie für das
Funktionstraining bei cerebralen Insulten "nicht durch andere Maßnahmen zu ersetzen" ist, weist indessen auf den
entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen einem von Ergotherapeuten mittels aktivierender und
handlungsorientierter Methoden und Verfahren unter Einsatz von adaptiertem Übungsmaterial, funktionellen,
spielerischen, handwerklichen und gestalterischen Techniken sowie lebenspraktischen Übungen durchzuführenden
Training zu der entlang entsprechender Diagnostik betriebenen störungsspezifischen Therapie durch auf dem Gebiet
der klinischen Neuropsychologie geschulte Therapeuten (vgl. Hübener, "Ambulante Neuropsychologie: Vom Aus
bedroht", Deutsches Ärzteblatt, PP2, Ausgabe März 2003, S. 109: "Für die Therapie krankheitsbedingter Störungen
der neuropsychologischen Hirnfunktionen sind Ergotherapeuten wegen unzureichender Ausbildung auf dem Gebiet der
Klinischen Neuropsychologie nicht qualifiziert").
Nach alledem hat die Antragsgegnerin einstweilen wie beantragt Kosten weiterer neuropsychologischer Behandlung
der Antragstellerin zu übernehmen.
Daß der Dipl-Psych. P. nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, bleibt dabei mangels erkennbarer
Möglichkeiten neuropsychologischer Behandlung durch Vertragstherapeuten an ihrem Wohnort für die Antragstellerin
jetzt ohne Bedeutung.
Die Anordnung der Kostenübernahme hat das Gericht zunächst auf 20 Einheiten neuropsychologischer Einzeltherapie
beschränkt; denn in diesem Umfang bestehen schon angesichts der seinerzeit vom MDK befürworteten "vorerst 40",
von der Antragsgegnerin indessen über probatorische hinausgehend nur 20 bewilligten Sitzungen praktisch keine
Zweifel an ihrer Notwendigkeit.
Wenn die Antragstellerin nach Beurteilung ihres behandelnden Neurologen und ihres Neuropsychologen danach
tatsächlich noch weiterer Neuropsychologie bedürfen sollte, hat die Antragsgegnerin zunächst den MDK zu befragen
und sodann einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.