Urteil des SozG Hamburg vom 08.10.2004

SozG Hamburg: grundsatz der gleichbehandlung, altersrente, neues recht, wartezeit, beitragszeit, befreiung, ddr, rechtsgrundlage, betrug, gesetzesänderung

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 08.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 15 RJ 373/03
1. Der Beginn der Regelaltersrente vor den 1. Juli 1997 steht der Neufeststellung der Rente unter Anrechnung von
Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungsverhältnissen in einem
Ghetto nicht entgegen. 2. Die Sprungrevision wird zugelassen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die rentensteigernde Anrechnung einer Ghetto-Beitrags¬zeit nach dem Gesetz zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).
Die Klägerin wurde 1924 im L. in Polen geboren. Zu Beginn des Krieges lebte sie in Wilna (Wilno, Vilnius; vor dem
Krieg Polen, dann UdSSR, heute – wieder - Litauen). Nach der deutschen Besetzung gehörte Wilna ab August 1941
zum sog. "Reichskommissariat Ostland". Dem deutschen Sprach- und Kulturkreis gehörte die Klägerin nicht an.
Als Jüdin wurde die Klägerin Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Ab September 1941 musste sie in dem in Wilna
errichteten Ghetto leben. Im September 1943 wurde sie in ein Zwangsarbeitslager deportiert. Nach der Befreiung lebte
die Klägerin in Lagern für Displaced Persons (verschleppte Personen) in Deutschland. Am XX.XXXXXXXXX 1946
brachte sie in S. (H.) ihre Tochter Z. zur Welt. Im November 1947 wanderte sie über Bremen in die USA aus und
besitzt seit 1953 die US-amerikanische Staatsangehörigkeit. In den USA legte sie eine Gesamtversicherungszeit von
54 Quartalen zurück.
Auf ihren Antrag vom 22. April 1993 gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 2. März 1994 rückwirkend
ab dem 1. April 1993 Regelaltersrente. Der Rente lag eine Pflichtbeitrags¬zeit wegen Kindererziehung vom 1. Januar
1947 bis zum 30. November 1947 sowie eine Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung vom 6. September
1941 bis zum 6. Juli 1944 zugrunde; außerdem wurden in den USA zurückgelegte Versicherungszeiten nach dem
deutsch-amerikanischen Sozialversicherungsabkommen auf die Wartezeit angerechnet. Mit Bescheid vom 18.
Dezember 1995 stellte die Beklagte die Altersrente unter Berücksichtigung eines erhöhten Zugangsfaktors neu fest.
Ab Februar 1996 betrug die monatliche Rente 36,82 DM.
Am 4. Oktober 2001 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Rentenbescheides. Sie habe Anspruch darauf, dass
die gesamte Zeit der Verfolgung von Herbst 1939 bis Frühjahr 1945 als Beitrags-, mindestens als Ersatzzeit
angerechnet werde. Darüber hinaus sei der Zeitraum ab der Befreiung bis zum Jahresende 1949 als Ersatzzeit zu
berücksichtigen. Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 9. April 2002 die Altersrente nochmals neu fest. Sie
rechnete jetzt eine Kindererziehungszeit bis zum 31. Dezember 1947 an und berücksichtigte eine zusätzliche
Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfol¬gung vom 7. Juli 1944 bis zum 31. Dezember 1949. Die von der
Beklagten gezahlte Monatsrente betrug ab Juni 2002 nunmehr 39,09 EUR. Mit ihrem am 3. Mai 2002 erhobenen
Widerspruch erstrebte die Klägerin die Anrechnung einer im Ghetto zurückgelegten Beitragszeit. Zur Begründung
verwies sie auf das damals kurz vor der Verabschiedung stehende ZRBG.
Mit Bescheid vom 28. November 2002 lehnte die Beklagte die Neufeststellung der Rente nach dem zwischenzeitlich
geltenden ZRBG ab. Zur Begründung legte sie dar, dass die Klägerin bereits vor dem rückwirkenden In-Kraft-Treten
des ZRBG am 1. Juli 1997 eine Altersrente bezogen habe. Das In-Kraft-Treten des ZRBG allein sei kein Grund für
eine Neufeststellung der Rente. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 2003 wies die Be¬klagte den
Widerspruch zurück. Zur Begründung stützte sie sich auf § 306 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Mit ihrer am 11. März 2003 erhobenen Klage begehrt die Klägerin weiter die Anrechnung von Zeiten einer
Beschäftigung im Ghetto Wilna. Sie ist der Auffassung, dass § 306 SGB VI der Neuberechnung der Altersrente unter
Berücksichtigung des ZRBG nicht ent¬gegenstehe. In vergleichbaren Fällen habe die Beklagte Ghetto-Beitragszeiten
nach dem ZRBG angerechnet. Wenn dies im vorliegenden Fall unter Hinweis auf den vor dem 1. Juli 1997 liegenden
Rentenbeginn nicht erfolge, verstoße dieses gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung gleicher Tatbestände.
Die Klägerin beantragt nach Lage der Akten,
den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbe¬scheides vom 22. Februar 2003
aufzuheben, den Bescheid vom 9. April 2002 abzu¬ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Berücksichtigung
einer Ghetto-Bei¬tragszeit nach dem ZRBG vom 6. September 1941 bis zum 30. April 1943 eine höhere
Regelaltersrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie legt zur Begründung dar, dass gemäß § 306 Abs.1 SGB VI aus Anlass einer Rechts¬änderung die einer Rente
zugrunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte grundsätzlich nicht neu bestimmt würden. Abweichend hiervon sei eine
Neufeststellung nur dann vorzunehmen, wenn dies spezielle Vorschriften ausdrücklich vorsähen. Derartige spezielle
Neufeststel¬lungsregelungen gebe es im Hinblick auf Ghetto-Beitragszeiten nicht. Auch das ZRBG selbst enthalte
keine solche Regelung. Ebenso wenig ergebe sich ein Anspruch der Klägerin auf Neufeststellung der Altersrente nach
Inkrafttreten des ZRBG aus Art. 4 § 1 und § 2 des Gesetzes zur Änderungen und Ergänzung der Vorschriften über die
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG-ÄndG). Hier sei
entscheidend, dass das ZRBG das Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Sozialversicherung (WGSVG) zwar ergänze, aber nicht Bestandteil des WGSVG sei. Im Übrigen handele es sich
bei den betreffenden Regelungen des Art. 4 WGSVG-ÄndG um Übergangs- und Schlussvorschriften zu der am 1.
Februar 1971 in Kraft getretenen ursprünglichen Fassung des WGSVG. Die Regelung sei mithin keine Generalklausel,
die eine Neufeststellung von Bestandsrenten auch bei allen späteren Änderungen des WGSVG ermögliche.
Schlie߬lich stelle das Fehlen einer Neufeststellungsvorschrift auch keine planwidrige Regelungs¬lücke dar, die
zugunsten der Betroffenen im Wege der Auslegung zu schließen wäre. Es sei nämlich davon auszugehen, dass der
Gesetzgeber die Bestandsrentner aus der Zeit vor dem 1. Juli 1997 bewusst nicht in das ZRBG einbezogen habe.
Dies ergebe sich daraus, dass in Art. 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (ZRBG und ÄndG-SGB VI) für die dort geregelten
Fälle eines DDR-Invalidenrentenbezuges mit § 310 c SGB VI eine Vorschrift für die Neufeststellung von
Bestandsrenten geschaffen worden sei. Für die Ghetto-Fälle fehle es hingegen an einer entsprechenden Regelung.
Diese Entscheidung des Ge¬setzgebers verstoße auch nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
Grundgesetz (GG). Der Gesetzgeber habe bei Leistungsgesetzen einen großen Gestaltungsspielraum und sei nicht
gehindert, durch Stichtagsregelungen vor und nach dem Stichtag liegende Fälle unter¬schiedlich zu behandeln, auch
wenn dies im Einzelfall mit gewissen Härten verbunden sei. Offenbar sei der Gesetzgeber im Rahmen einer
pauschalierenden Betrachtungsweise davon ausgegangen, dass in den Bestandsfällen mit Rentenbeginn vor dem 1.
Juli 1997 Ghetto-Zeiten in der Regel bereits im Rahmen des bisherigen Rechts hätten angerechnet und in das Ausland
zahlbar gemacht werden können, sodass im Allgemeinen kein Bedarf für eine Neu¬feststellung solcher Renten
bestehe. Auch dürfte die Entscheidung des Gesetzgebers, Renten aus der Zeit vor dem 1. Juli 1997 nicht in das
ZRBG einzubeziehen, vor dem Hinter¬grund gefallen sein, den Aufwand für die Verwaltung in Grenzen zu halten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Pro¬zessakte der Kammer
sowie der vom Gericht beigezogenen Akten der Beklagten, letztere enthalten auch Kopien aus den bei dem
Regierungspräsidium Darmstadt über die Klägerin ge¬führten Entschädigungsakten, Bezug genommen, die
vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Voraussetzungen für den Erlass eines Zwischenurteils sind gegeben.
Gemäß § 130 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht durch Zwischenurteil über eine
entscheidungserhebliche Sach- und Rechtsfrage vorab entscheiden, wenn dies sach¬dienlich ist.
Die auf die zulässige Klage mit diesem Zwischenurteil entschiedene Rechtsfrage, ob der Beginn der Regelaltersrente
vor dem 1. Juli 1997 der Neufeststellung der Rente unter Anrechnung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG
entgegensteht, ist entscheidungserheblich. Nach dem vor In-Kraft-Treten des ZRBG geltenden Recht hat die Klägerin
auch unter Berücksichtigung der Urteile des BSG zum Ghetto Lodz vom 18. Juni 1997 (Az.: B 5 RJ 66/95 und B 5 RJ
68/95, beide veröffentlicht in Juris) keinen Anspruch auf Anrechnung von im Ghetto Wilna zurückgelegten
Pflichtbeitragszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung; denn sie unterliegt nicht dem persönlichen
Geltungsbereich des Fremdrentengesetzes (FRG), und in Wilna zurückgelegte Beitragszeiten sind auch zu keinem
Zeitpunkt auf die Reichsversicherung übergeleitet worden.
Allerdings kommt es für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf die hier entschiedene Rechtsfrage
nicht an, falls die weitere Sachaufklärung ergeben sollte, dass sie in den Jahren 1941 bis 1943 im Ghetto Wilna keine
Beschäftigung ausgeübt hat, die die Anforderungen des § 1 Abs. 1 ZRBG (Art. 1 ZRBG und ÄndG-SGB VI vom 20.
Juni 2002, BGBl. I S. 2074) erfüllt. Da die zur Klärung dieser Frage erforderliche (ggf. auch historische)
Sachaufklärung jedoch wesentlich aufwändiger ist als die Klärung der streitigen Rechtsfrage, steht die Möglichkeit,
dass es auf die im Zwischenurteil entschiedene Rechtsfrage nach Abschluss der Ermittlungen letztlich nicht mehr
ankommt, dem Zwischenurteil hier nicht entgegen.
Eine Vorabentscheidung über die genannte Rechtsfrage ist auch sachdienlich; denn sie kann zu einer wesentlich
beschleunigten Erledigung des Rechtsstreits beitragen. Von der Beantwortung der Rechtsfrage hängt es nämlich im
vorliegenden Fall ab, ob aufwändige tatsächliche Ermittlungen zu der Frage angestellt werden müssen, in welcher
Weise die Klägerin im Ghetto Wilna gearbeitet hat oder ob diese Ermittlungen aus Rechtsgründen entbehrlich sind. Zu
ermitteln wäre ggf., ob ihre Tätigkeit die Vorausset¬zungen des § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG erfüllt, insbesondere, ob es
sich um eine aus eigenem Wil¬lensentschluss zustande gekommene Beschäftigung handelte und ob sie gegen
Entgelt ausgeübt wurde,
Die Beklagte geht in den angefochtenen Bescheiden zu Unrecht davon aus, dass der Bezug der am 1. April 1993
begonnenen Regelaltersrente durch die Klägerin einer Neufeststellung der Rente aufgrund des rückwirkend am 1. Juli
1997 in Kraft getretenen ZRBG (Art. 3 Abs. 2 ZRBG und ÄndG-SGB VI) entgegensteht. Zwar sieht § 306 Abs. 1 SGB
VI vor, dass in dem Fall, dass Anspruch auf Leistung einer Rente vor dem Zeitpunkt einer Änderung rentenrechtlicher
Vorschriften bestand, aus Anlass der Rechtsänderung die einer Rente zugrunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte
nicht neu bestimmt werden, soweit nicht in den folgenden Vorschriften etwas anderes bestimmt ist. Dieser Regelung
geht jedoch Art. 4 § 2 Abs. 1 1. Hs. WGSVG-ÄndG vom 22. Dezember 1970 (BGBl. I S.1846), geändert durch Art. 21
Renten-Überleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S.1606) vor. Dort heißt es:
"Entsteht aufgrund dieses Gesetzes ein Anspruch auf Rente oder wird durch dieses Gesetz ein Anspruch auf eine
höhere Rente begründet oder die Zahlung einer Rente zugelassen, so ist auf Antrag die Rente festzustellen oder neu
festzustellen;".
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung handelt es sich bei dieser Norm nicht um eine in ihrer
Wirkung auf das In-Kraft-Treten der ursprüng¬lichen Fassung des WGSVG am 1. Februar 1971 beschränkte
Übergangs¬vorschrift (vgl. BSG vom 29. April 1997, Az.: 4 RA 35/96, veröffentlicht in Juris). Die in Art. 4 § 1 und § 2
Abs. 2 des genannten Gesetzes geregelten Übergangs- und Schlussvorschriften wurden lange nach In-Kraft-Treten
des WGSVG im Jahre 1991 durch das Renten-Überleitungsgesetz geändert. Art. 4 WGSVG-ÄndG enthält damit eine
für das gesamt WGSVG – angesichts ihres materiellen Regelungsgehaltes insbesondere für die rentenrechtlichen
Normen des Gesetzes – dauerhaft geltende Übergangsvorschrift. Sie ge¬währt den Verfolgten nicht nur zum
Zeitpunkt des erstmaligen In-Kraft-Tretens des WGSVG, sondern auch bei späteren Änderungen einen Anspruch auf
Neufeststellung, auch soweit diese bereits vor der Änderung eine Rente bezogen haben.
Die in Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG–ÄndG getroffene Regelung erfasst nicht nur Änderungen des WGSVG selbst,
sondern auch die Änderung rentenrechtlicher Vorschriften durch das ZRBG. Dies ergibt sich aus § 1 Abs. 2 ZRBG,
wonach dieses Gesetz die rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG er¬gänzt. Ausweislich der
Gesetzesbegründung wird damit festgelegt, dass das WGSVG, des¬sen Teil III zugunsten von Verfolgten zusätzliche
Regelungen zu den allgemein anzuwen¬denden Vorschriften des SGB VI treffe, anzuwenden ist (Begründung zu § 1
ZRBG, BT-Drs. 14/8583 vom 19. März 2002, S. 6). Zwar ist der hier herangezogene Art. 4 § 2 WGSVG-ÄndG nicht
unmittelbar im Teil III des WGSVG platziert. Er gehört jedoch nach seinem Regelungsinhalt eindeutig zu den
rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG und erstreckt sich in seiner Wirkung wie dargelegt insbesondere auf die
im Teil III dieses Gesetzes enthaltenen Regelungen zur ge¬setzlichen Rentenversicherung. Er ist damit ergänzend
zum ZRBG anzuwenden. Da er die Verfolgten günstiger stellt, hat er Vorrang vor der allgemeinen Regelung des § 306
SGB VI (vgl. § 7 WGSVG und dazu Verbandskommentar zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. vom
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Stand 3/2004, Anhang Bd. 2, Anm. 3 zu § 7 WGSVG).
Aber auch wenn man entgegen der von der Kammer vertretenen Rechtsauffassung hier Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG-
ÄndG nicht für anwendbar hielte, stünde § 306 Abs. 1 SGB VI einer rentensteigernden Anrechnung von Ghetto-
Beitragszeiten nach In-Kraft-Treten des ZRBG nicht entgegen. Trotz entgegenstehenden Wortlauts schließt § 306
Abs. 1 SGB VI die Neubestimmung der der Rente zugrunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte und mithin die
Gewährung einer höheren Regelaltersrente nicht aus. Die Regelung enthält eine Ausnahme von dem in § 300 Abs. 1
SGB VI normierten Grundsatz, wonach neues Recht vom Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens an für künftige
Leistungsabschnitte auch auf bestehende Ansprüche an¬zuwenden ist (BSG vom 9. April 2002, Az.: B 4 RA 58/01,
veröffentlicht in Juris). Diese Ausnahmeregelung ist im Hinblick auf das zugunsten von NS-Verfolgten, die in einem
Ghetto beschäftigt waren, ge¬schaffene ZRBG nicht anwendbar. Das ZRBG ist insoweit lückenhaft, als es keine
Regelung enthält, die – abweichend von § 306 Abs. 1 SGB VI – die Anrechnung von Ghetto-Beitrags¬zeiten in sog.
Bestandsfällen, d.h. in Fällen, in denen Verfolgte eine Altersrente schon vor In-Kraft-Treten des ZRBG am 1. Juli 1997
bezogen haben, ausdrücklich erlaubt. Diese Lücke ist hier dadurch zu schließen, dass in Anwendung des § 300 Abs.
1 SGB VI das nach Ren¬tenbeginn in Kraft getretene ZRBG auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden ist, mit
der Folge, dass, sofern der Tatbestand des § 1 Abs. 1 ZRBG erfüllt ist, eine wesentliche Änderung der rechtlichen
Verhältnisse vorliegt und die Rente gemäß § 48 SGB X unter Berücksichtigung etwaiger Ghetto-Beitragszeiten neu zu
berechnen wäre.
Im Einzelnen:
Nach der Rechtsprechung des BSG liegen Regelungs- bzw. Gesetzeslücken im Allge¬meinen nur vor, wenn das
Gesetz gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und der gesetzesimmanenten Zwecke planwidrig
unvollständig ist. Das kann ausnahms¬weise auch dann der Fall sein, wenn das Gesetz zwar eine nach ihrem
Wortlaut anwendbare Regelung enthält, diese aber nach ihrem Sinn und Zweck nicht passt bzw. sich in dem System,
in dem sie als Teil enthalten ist, als Fremdkörper erweist (BSG vom 21. Oktober 1998, Az.: B 9 V 7/98 R, a.a.O.).
So ist es hier:
Zwar ist die allgemeine rentenrechtliche Regelung des § 306 Abs.1 SGB VI ihrem Wortlaut nach auf den vorliegenden
Sachverhalt anwendbar. Sie konterkariert jedoch die vom Ge¬setzgeber mit dem ZRBG verfolgte Regelungsabsicht
und dessen gesetzesimmanenten Zwecke und erweist sich in diesem Zusammenhang als Fremdkörper. Der Zweck
des ZRBG erschließt sich aus den beiden Entscheidungen des BSG zum Ghetto Lodz vom 18. Juni 1997 (Az.: B 5
RJ 66/95 und B 5 RJ 68/95, a.a.O.). Hier hat das BSG erstmals entschieden, dass eine innerhalb eines Ghettos "aus
freiem Willen" aufgenommene Tätigkeit die Vorausset¬zungen einer freien Beschäftigung erfüllen kann und ggf. als
Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen ist. Auch nach diesen Entscheidungen des BSG
konnten aber Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto vielfach aufgrund der Bestimmungen des Fremdrentenrechts
nicht als Versicherungszeiten angerechnet werden oder aber, es konnte trotz Anrechnung die Rente aufgrund des
allgemeinen Auslandsrentenrechts nicht ins Ausland gezahlt werden. Diese Hürden sollten durch das ZRBG
überbrückt und damit die Zahlung der auf Beschäftigungen in Ghettos beruhenden Renten an die noch lebenden
Verfolgten bzw. ihre Hinterbliebenen, die fast ausschließlich im Ausland wohnen, möglich gemacht werden (vgl.
Begründung, allgemeiner Teil, BT-Drs.14/8583, S. 5). Ziel des ZRBG ist es also, diejenigen Verfolgten, die zwar in
einem Ghetto beschäftigt waren und deren Beschäftigung den vom BSG in seiner Rechtsprechung zum Ghetto Lodz
vom 18. Juni 1997 (Az.: B 5 RJ 66/95 und B 5 RJ 68/95, a.a.O.) gestellten Anforderungen (jetzt im Wesentlichen in §
1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZRBG normiert) entspricht, die aber aufgrund der Regelung des Fremdrenten- oder des
Auslandsrentenrechts einen Rentenzahlungsanspruch aus diesen Zeiten nicht erfolgreich geltend machen konnten,
mit denjenigen Verfolgten gleichzustellen, die aus der Ghetto-Rechtsprechung des BSG vom 18. Juni 1997
unmittelbar einen Zahlungsanspruch erwerben konnten. Da es sich bei der damals neuen Rechtsprechung des BSG
zu Beschäftigungen in Ghettos nicht um Rechtsänderungen, also um Akte der Rechtsetzung, sondern um eine
erstmalige Interpre¬tation des geltenden Rechts handelte, erfordert es die in der dargestellten Weise auf
Gleich¬stellung ausgerichtete Intention des ZRBG, die von diesem Gesetz Begünstigten so zu be¬handeln, als hätte
sich auch für sie der (tatbestandsmäßige) Anspruch auf Rente aus Be¬schäftigungen in einem Ghetto nicht aus einer
veränderten Rechtslage, sondern aus einer neuen Rechtsprechung zu solchen Versicherungszeiten ergeben. In einem
solchen Fall kommt § 306 SGB VI nicht zur Anwendung.
Dass die Anwendbarkeit des § 306 Abs. 1 SGB VI den dargestellten im ZRBG enthaltenen gesetzlichen Wertungen
widersprechen würde, zeigt auch § 3 ZRBG. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 ZRBG gilt ein bis zum 30. Juni 2003 gestellter
Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am 18. Juni 1997 (dem Tag der o.g. BSG-
Entscheidungen zum Ghetto Lodz) gestellt. § 3 Abs. 2 ZRBG schreibt vor, dass für die Ermittlung des
Zugangsfaktors die Wartezeit als mit Vollendung des 65. Lebensjahres (im Falle der Klägerin im XXX 1989) erfüllt und
die Rente wegen Alters bis zum Rentenbeginn als nicht in Anspruch genommen gilt. Mit diesen Regelungen wird dem
ZRBG Rückwirkung nicht nur bis zum 1. Juli 1997, sondern "mittelbar" (beschränkt auf die Rentenhöhe) ggf. darüber
hinaus bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres beigemessen. Letzteres geschieht über den erhöhten Zugangsfaktor,
der zur Folge hat, dass die betreffenden Verfolgten eine höhere Rente beanspruchen können (§ 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 2
Buchst. b SGB VI), so, als wäre das ZRBG bei Vollendung des 65. Lebensjahres bereits in Kraft gewesen. Dieser
gesetzgeberischen Absicht, die Verfolgten, die den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ZRBG erfüllen, – teils über eine
Vorverlegung des Zahlungsbeginns durch eine fiktive Antragstellung am 18. Juni 1997, darüber hinaus durch eine
Anhebung der monatlichen Rentenzahlung über den Zugangsfaktor – so zu stellen, als wäre die Wartezeit schon bei
Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt gewesen und als hätte ein Rentenanspruch schon damals bestanden, liefe es
zuwider, wenn bei Verfolgten, die die Wartezeit auch ohne Ghetto-Beitragszeiten erfüllt haben, die Antragstellung mit
Vollendung des 65. Lebensjahres zu einem dauerhaften "Verlust" der Ghetto-Beitragszeit führen würde. Diese
Versicherten würden letztlich für die unverzügliche Beantragung einer ihnen zustehenden Sozialleistung "bestraft",
was auch den in § 16 Abs. 3 SGB I und § 115 Abs. 6 S. 1 SGB VI zum Ausdruck kommenden Grundsätzen des
Sozialrechts widerspräche.
Die hier vorgenommene einschränkende Auslegung des § 306 Abs. 1 SGB VI dürfte aller¬dings nicht erfolgen, wenn
dadurch eine anderweitige Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt würde (BSG vom 21. Oktober 1998, Az.: B 9
V 7/98 R, a.a.O.). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Ins¬besondere ist Art. 1 des ZRBG und ÄndG-SGB VI auch vor
dem Hintergrund von Art. 2 dieses Gesetzes nicht dahingehend zu interpretieren, dass eine Regelung, die abweichend
von § 306 Abs.1 SGB VI die Neubestimmung der persönlichen Entgeltpunkte aus Anlass des In-Kraft-Tretens des
ZRBG ausdrücklich erlaubt, willentlich nicht in das ZRBG aufgenommen wurde:
Mit Art. 2 des ZRBG und ÄndG-SGB VI sollten die sich bei der Berechnung der Altersrente nach dem SGB VI
ergebenden Nachteile für solche ehemaligen Bezieher von Invalidenrente, Blinden- und Sonderpflegegeld im
Beitrittsgebiet beseitigt werden, die gleichzeitig Beschäf¬tigungen ausgeübt haben und für die nach dem bis Ende
1991 geltenden Recht eine Bei¬tragspflicht in der Sozialpflichtversicherung nur hinsichtlich des Arbeitgeberanteils
bestanden hatte (vgl. Begründung, allgemeiner Teil, BT-Drs.14/8583, S. 5). Um solche Zeiten bei der Berech¬nung
einer Altersrente nach dem SGB VI anrechenbar zu machen, hat der Gesetzgeber durch Art. 2 Nr. 2 des genannten
Gesetzes die Ausschlussnorm des § 248 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB VI für die Anrechnung von Beitragszeiten im
Beitrittsgebiet enger gefasst. Darüber hinaus hat er – anders als im ZRBG – mit Art. 2 Nr. 3 dieses Gesetzes § 310 c
SGB VI eingefügt und dort einen Anspruch auf Neufeststellung der Rente aus Anlass der Gesetzesänderung
aus¬drücklich vorgesehen.
Hieraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass der Gesetzgeber auch im Hinblick auf die im ZRBG geregelten
Ghetto-Beitragszeiten die Problematik etwaiger Bestandsrentner erkannt und bewusst auf die Schaffung einer
ausdrücklichen Rechtsgrundlage für die Neufeststellung aus Anlass des In-Kraft-Tretens des ZRBG verzichtet hat.
Vielmehr ergibt sich der Unter¬schied nach Einschätzung der Kammer daraus, dass es sich bei den von Art. 2 des
ZRBG und ÄndG-SGB VI erfassten Leistungsbeziehern der ehemaligen DDR ausschließlich um Personen handelt, die
inzwischen eine Rente nach dem SGB VI beziehen, auf die aber bestimmte Beschäftigungszeiten im Beitrittsgebiet
nicht als Beitragszeiten angerechnet werden konnten (vgl. Begründung zu Art. 2 Nr. 2, BT-Drs.14/8583, S. 7). Hier
stand dem Gesetzgeber somit die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage für die Neufeststellung von Bestandsrenten
unmittel¬bar vor Augen. Demgegenüber lag das für den Gesetzgeber Handlungsbedarf auslösende Problem bei den
Ghetto-Überlebenden gerade darin, dass einem Großteil dieser Personen trotz Beschäftigungen in einem Ghetto
Renten nicht bzw. nicht ins Aus¬land gezahlt werden konnten. Den (vergleichsweise kleinen) Personenkreis von
Verfolgten, die den Tatbe¬stand des § 1 Abs. 1 ZRBG erfüllen, denen aber Renten bereits vor dem 1. Juli 1997 unter
Berücksichtigung anderer Beitragszeiten (wie darzustellen sein wird, zumeist Kinderer¬ziehungszeiten) ins Ausland
gezahlt wurden, hat der Gesetzgeber dabei, soweit es die zitierte Ge¬setzesbegründung oder die Plenardebatte im
Deutschen Bundestag (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/233 vom 25. April 2002, S.23279 ff) ausweist,
übersehen.
Nur die vorstehend erfolgte einschränkende Auslegung des § 306 SGB VI wird auch verfas¬sungsrechtlichen
Anforderungen gerecht; denn die am Wortlaut haftende Interpretation der Beklagten führt zu Ergebnissen, die dem
Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG widersprechen. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, alle Menschen vor
dem Gesetz gleich zu be¬handeln. Zwar verbietet der Gleichheitssatz nicht jede Differenzierung. Er will jedoch
aus¬schließen, dass eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt
wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und Gewicht bestehen, dass sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (z.B. Bundesverfassungsgericht –BVerfG- vom 12. März 1996, BVerfGE
94, 241, 260).
Wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung des in der Kammer parallel geführten Rechtsstreits S 15 RJ 568/03
am 8. Oktober 2004 dargelegt hat, sind von der von ihr praktizierten Auslegung des § 306 Abs.1 SGB VI ganz
überwiegend solche Klägerinnen und Kläger betroffen, denen bereits vor In-Kraft-Treten des ZRBG am 1. Juli 1997
eine – zumeist sehr niedrige – Rente unter Anrechnung von Kindererziehungszeiten (§ 249 SGB VI, § 12 a WGSVG)
und Ersatz¬zeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung (§ 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI) gewährt wurde. Auch bei den
in der Kammer anhängigen Verfahren, bei denen das Verhältnis von § 306 Abs. 1 SGB VI zum ZRBG im Streit steht,
handelt es sich fast ausschließlich um solche Fälle. Der Grund liegt darin, dass sich die unter das ZRBG fallenden
Verfolgten nur nach der Befreiung und zumeist nur kurz bis zur Auswanderung im Geltungsbereich der deutschen
Versicherungsgesetze aufgehalten haben und hier zumeist nicht versicherungspflichtig beschäftigt waren. Dies
brachte es mit sich, dass vor dem In-Kraft-Treten des ZRBG für den dann unter dieses Gesetz fallenden
Personenkreis als Beitragszeiten zumeist nur Kindererziehungszeiten in Betracht kamen. Soweit die Beklagte in der
mündlichen Verhandlung auch auf Verfahren hingewiesen hat, bei denen die Rente schon vor dem ZRBG nach den
Urteilen des BSG zum Ghetto Lodz vom 18. Juni 1997 auf der Anrechnung von Beitragszeiten aus Beschäftigungen
in Ghettos beruhte, dürfte bei diesen kaum um die Anwendbarkeit des ZRBG gestritten werden. Diese Verfahren fallen
daher in dem hier maßgeblichen Zusammenhang zahlenmäßig nicht ins Gewicht.
Die Praxis der Beklagten benachteiligt damit im Ergebnis insbesondere diejenigen tatbestandsmäßig vom § 1 Abs. 1
ZRBG erfassten Verfolgten, die – zumeist nach der Befreiung – Kinder erzogen haben und denen daher unter
Anrechnung einer Kindererziehungszeit und daraufhin an¬rechenbarer Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer
Verfolgung, ggf. auch ausländischer Versicherungszeiten, Altersrente gewährt wurde. Es handelt sich dabei um
Personen, die ihre Kinder im Inland bzw. im Geltungsbe¬reich der Reichsversicherungsgesetze (§ 249 Abs. 2 SGB
VI) oder bei verfolgungsbedingtem Auslandsaufenthalt bis längstens zum 31. Dezember 1949 im Ausland (§ 12 a
WGSVG) er¬zogen haben. Während vom ZRBG erfassten Verfolgten, die Beitragszeiten nur nach der neuen
gesetzlichen Regelung zurückgelegt haben, bei erfüllter Wartezeit Rente unter Berücksichtigung von Ghetto-
Beitragszeiten gewährt wird, gilt dies nicht für die Überlebenden der Ghettos, die bei ansonsten gleichem Schicksal
und Versicherungsverlauf außerdem Kinder erzogen und damit in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung
anrechenbare Kindererziehungszeiten erworben haben. Letztere erhalten nämlich die ihnen unter Berücksichtigung der
Kindererziehungszeiten zustehende Regelaltersrente regelmäßig schon seit einem vor Juli 1997 liegenden Zeitpunkt,
da die unter das ZRBG fallenden Verfolgten mit ganz wenigen Ausnahmen das 65. Lebensjahr schon deutlich vorher
vollendet haben.
Diese tatsächliche Ungleichbehandlung ist unzulässig. Kindererziehung hat für das System der Altersversorgung eine
bestandssichernde Bedeutung; denn die als Gene¬rationenvertrag ausgestaltete Rentenversicherung lässt sich ohne
die nachrückende Gene¬ration nicht aufrechterhalten (BVerfG vom 7. Juli 1992, BVerfGE 87, 1, 37). Damit stellt die
Kindererziehung (neben der Beitragsentrichtung) eine "der beiden Leistungen für das Rentensystem" dar (BVerfGE 94,
263). Zwar erwächst aus diesem Stellenwert der Kindererziehung keine Verpflichtung, beim erziehenden Elternteil
typischerweise entstehende Sicherungslücken uneingeschränkt auszugleichen (vgl. BVerfGE 94, 264 f). Es verbietet
sich jedoch eine Praxis, die zur Folge hat, dass gerade diejenigen Versicherten, die die "Last" der Kindererziehung
getragen haben, zusätzliche Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung erleiden. Damit würde nämlich der
Umstand, dass ein Elternteil mit der Kindererziehung einen Beitrag zum Bestand des Rentensystems geleistet hat,
faktisch zum Differenzierungskriterium, das ihn von bestimmten gesetzlichen Ansprüchen, vorliegend der Anrechnung
von Ghetto-Beitragszeiten, ausschließt. Im Rahmen der hier erforderlichen typisierenden Betrachtungsweise ist es
unerheblich, dass die Kinder der aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung ins Ausland emigrierten
Ver¬sicherten in der Regel nicht zu Beitragszahlern in der deutschen Rentenversicherung werden (vgl. BVerfGE 87,
37).
Mithin verstößt die Praxis der Beklagten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ob sie auch
das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG oder das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG verletzt,
kann daher offen bleiben.
Nach allem hätte die Beklagte die Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung einer Ghetto-Beitragszeit nicht
mit der Begründung ablehnen dürfen, dass die Klägerin bereits vor dem 1. Juli 1997 Altersrente bezogen hat. Die
Frage der Anrechenbarkeit einer Ghetto-Bei¬tragszeit ist jedoch noch nicht spruchreif; denn ob die Klägerin im Ghetto
Wilna eine Beschäftigung ausgeübt hat, die die tatbestandsmäßigen Vorausset¬zungen des § 1 Abs. 1 ZRBG erfüllt,
bedarf der weiteren Sachaufklärung.
Die Kostenentscheidung erfolgt im Endurteil.
Die Kammer hat gemäß § 161 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Sprungrevision
zugelassen, weil hier eine vom BSG noch nicht entschiedene Rechtsfrage im Streit steht, die angesichts einer
Vielzahl von Parallelverfahren mit identischer Fragestellung grundsätzliche Bedeutung hat und weil im Hinblick auf die
allesamt hochbetagten Klägerinnen und Kläger, die Ansprüche aus dem ZRBG geltend machen, die schnelle
Herbeiführung von Rechtssicherheit geboten ist.
Die Kammer hat keine rechtlichen Bedenken dagegen, die Sprungrevision auch gegen ein Zwischenurteil zuzulassen.
Sie folgt insoweit nicht der Rechtsauffassung von Meyer-Ladewig, wonach das Zwischenurteil nicht selbständig
anfechtbar sei (Meyer- Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 130, Rdn. 11). Die Bestimmungen des SGG über Rechtsmittel
gelten auch für Zwischenurteile. Nach § 143 SGG sind Urteile des Sozialgerichts berufungsfähig, soweit sich aus den
Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt. Für einen Ausschluss der Berufungsfähigkeit von
Zwischenurteilen bedürfte es daher einer ausdrücklichen Regelung im SGG, die es jedoch nicht gibt. Gleiches gilt für
eine Einschränkung der Sprungrevision, wenn die Voraussetzungen der §§ 161, 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG erfüllt
sind. Die Vorschriften der §§ 512 und 557 Abs. 2 ZPO, die der selbständigen Anfechtbarkeit von Zwischenurteilen
nach § 303 ZPO entgegenstehen, können angesichts der Spezialregelungen für das sozialgerichtliche Verfahren in §
130 Abs. 2 und in §§ 143 ff SGG nicht herangezogen werden (§ 202 SGG). Ohne die Möglichkeit einer selbständigen
Anfechtung wäre die mit § 130 Abs. 2 SGG eingeräumte Möglichkeit von Zwischenurteilen auch weitgehend sinnlos,
weil diese dann nicht zu einer schnelleren –ggf. obergerichtlichen- Klärung entscheidungserheblicher Sach- und
Rechtsfragen führen könnten (vgl. mit überzeugender Begründung im Einzelnen Pawlak in Hennig, SGG, Stand
2/2004, § 130 Rdn. 97 ff; vgl. im Übrigen Bundesfinanzhof vom 4. Februar 1999, Az.: IV R 54/97, veröffentlicht in
Juris, zu der Parallelregelung in § 99 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung).