Urteil des SozG Hamburg vom 10.05.2004

SozG Hamburg: sinn und zweck der norm, anwendung des rechts, verwaltungsakt, altersrente, erlass, gesetzesänderung, rechtswidrigkeit, verschleppung, ausreise, erstmaliger

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 10.05.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 16 RJ 112/03
1. Der Bescheid der Beklagten vom 10.6.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.10.2002 wird
abgeändert. 2. Die Beklagte zahlt der Klägerin die mit Bescheid vom 10.6.2002 festgestellte Regelaltersrente auch für
den Zeitraum 01.01.1989 bis 31.12.2000. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Abänderung des ihr am 10. Juni 2002 erteilten Rentenbescheides insoweit, als ihre ab 1.
Januar 2001 festgestellte höhere Regelaltersrente auch für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2000
zu zahlen ist.
Die am X.XXXXXXXXX 1927 geborene Klägerin bezieht seit dem 1. Januar 1993 Regelaltersrente (Rentenbescheid
vom 6. Juli 1993).
Auf den Antrag der Klägerin vom 8. Mai 1995 erfolgte mit Bescheid vom 23. Mai 1995 die Neufeststellung ihrer
Altersrente aufgrund der erstmaligen Anerkennung von Ersatzzeiten wegen Verschleppung. Hierbei wurde die
Altersrente ab dem 1. Januar 1993 neu berechnet. Die Berechnung erfolgte nach dem Rechtszustand zum Zeitpunkt
der Antragstellung im Mai 1995. Da am 1. Juli 1993 eine Gesetzesänderung dahingehend in Kraft getreten war, dass
Ersatzzeiten aufgrund Verschleppung nur mehr bis zum 31. Dezember 1956 und nicht mehr bis zur Ausreise bzw. bis
zum Erreichen des 65. Lebensjahres anzuerkennen waren, wurden die Ersatzzeiten der Klägerin nur bis zum 31.
Dezember 1956 anerkannt. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos, ihre Klage gegen den
Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids nahm die Klägerin im Laufe des Klagverfahrens zurück.
Am 25. Februar 2002 beantragte die Klägerin die Neufeststellung der ihr bisher gewährten Altersrente gemäß § 44
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X – und bat erneut um Berücksichtigung der Ersatzzeiten bis zu ihrer
Ausreise bzw. bis zum 31. Dezember 1991.
Mit Bescheid vom 3. April 2002 wurde der Antrag der Klägerin abgelehnt. Auf ihren Widerspruch vom 13. April 2002
erkannte die Beklagte – unter Berücksichtigung des Rechtszustands zum Zeitpunkt der erstmaligen
Rentenfeststellung – mit Bescheid vom 10. Juni 2002 Ersatzzeiten der Klägerin bis zum 31. Dezember 1991 an.
Allerdings gelte die Neufeststellung gemäß § 48 SGB X erst ab 1. Januar 2001, da § 309 Abs. 2 Sechstes Buch
Sozialgesetzbuch – SGB VI – erst am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist.
Der Bevollmächtigte der Klägerin erhob hiergegen Widerspruch und bat die Beklagte die Nachzahlung gemäß § 44
Abs. 4 SGB X ab 1. Januar 1998 durchzuführen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2002 wies die Beklagte
den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Beklagten zufolge stelle die Vorschrift des § 309 Abs. 2 SGB VI im
Hinblick auf die ab 1. Januar 2001 wirkende Änderung der Neufeststellungsvorschrift des § 300 SGB VI eine
Ausnahme von dem in § 306 Abs. 1 SGB VI festgeschriebenen Verbot der Neufeststellung aus Anlass einer
Rechtsänderung dar. Da die Neufassung des § 300 Abs. 3 SGB VI, die eine wesentliche Änderung in den rechtlichen
Verhältnissen darstelle, am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, sei eine Aufhebung des früheren
Neufeststellungsbescheids nach § 48 SGB X vom selben Zeitpunkt an vorzunehmen.
Mit ihrer am 8. November 2002 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung trägt ihr
Bevollmächtigter vor, dass § 44 SGB X in Verbindung mit § 300 Abs. 3 SGB VI die zentrale Vorschrift für die
Rentenneufeststellung sei. Da nach der geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil des 5. Senats
vom 1. Dezember 1999 – B 5 RJ 20/98 R) auch bei vor dem 1. Januar 2001 beantragten Neufeststellungsverfahren
die Entgeltpunkte so zu berechnen sind, als wäre die Rente von Beginn an richtig berechnet worden, erübrige sich der
Antrag auf Neufeststellung nach § 309 Abs. 2 SGB VI. § 309 Abs. 2 SGB VI sei daher bei einer Neuberechnung
gemäß § 44 SGB X in Verbindung mit § 300 Abs. 3 SGB VI nicht anwendbar.
Die Klägerin beantragt nach dem Inhalt der Akten, 1. den Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2002 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 23. Oktober 2002 abzuändern, 2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die höhere
Regelaltersrente auch für den Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2000 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt die Beklagte Bezug auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Mai 2004 sind die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen und ihr
Bevollmächtigter aufgrund urlaubsbedingter Abwesenheit nicht erschienen. Mit Schreiben vom 3. Mai 2004 hatte der
Bevollmächtigte der Klägerin das Einverständnis mit einer Verhandlung und Entscheidung in Abwesenheit erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte der Kammer und die
Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und deren Inhalt zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden ist.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte über die Klage aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2004 entscheiden. Der
Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist nicht verletzt. Die Klägerin und ihr Bevollmächtigter sind ordnungsgemäß
geladen worden. Sie sind in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der
Akten entschieden werden kann (§ 110 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat gemäß § 44 SGB X einen Anspruch auf Zahlung der mit Bescheid vom 10. Juni 2002 festgestellten
Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ersatzzeiten bis zum 31. Dezember 1991 auch für den Zeitraum vom 1.
Januar 1998 bis 31. Dezember 2000.
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von
einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu
Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er
unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. (§ 44 Abs. 1 SGB X)
Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach
den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der
Rücknahme erbracht. (§ 44 Abs. 4 SGB X)
Der Neufeststellungsbescheid vom 23. Mai 1995 stellte einen die Klägerin nicht begünstigenden Verwaltungsakt im
Sinne von § 44 SGB X dar, da Ersatzzeiten der Klägerin nur bis zum 31. Dezember 1956 anstatt bis zum 31.
Dezember 1991 berücksichtigt und demzufolge der Klägerin Rentenleistungen aus den Ersatzzeiten für die Jahre 1957
bis 1991 nicht erbracht wurden. Dieser Verwaltungsakt war rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit nach § 44 SGB X
beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes, jedoch aus heutiger Sicht ("geläuterte
Rechtsauffassung"). Eine anfängliche Rechtswidrigkeit im Sinne des § 44 SGB X liegt regelmäßig auch dann vor,
wenn sich eine einschlägige Rechtsauffassung nachträglich ändert. Für diesen Fall bestätigt die geänderte Auslegung
die nun richtige Sicht des Rechts, wie es objektiv auch schon bei Erlass des Verwaltungsaktes bestanden hat
(Bundessozialgericht, Urteil des 1. Senats vom 30. Januar 1985 – 1 RJ 2/84 und Urteil des 9. Senats vom 28. April
1999 – B 9 V 16/98 R). Aufgrund der geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 300 Abs. 3 SGB VI
in der Fassung bis zum 31. Dezember 2000 (Beschluss des 13. Senats vom 1. September 1999 – B 13 RJ 3/99 S
und Urteil des 5. Senats vom 1. Dezember 1999 – B 5 RJ 20/98 R) war der Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 1995
von Anfang an rechtswidrig, da die Beklagte nicht die besitzgeschützten persönlichen Entgeltpunkte der Klägerin aus
den Ersatzzeiten, wie sie bei Anwendung des Rechts bei erstmaliger Rentenfeststellung zu ermitteln gewesen wären,
berücksichtigt hatte.
Die Anwendung von § 44 SGB X wird auch nicht durch § 309 Abs. 2 SGB VI blockiert (so aber die 6. Kammer des
Sozialgerichts Karlsruhe, Urteil vom 1. Oktober 2002 – S 6 RA 4091/01). Zwar geht die Gesetzesbegründung zu § 309
Abs. 2 SGB VI davon aus, dass ohne diese Vorschrift vor dem 1. Januar 2001 – auf der Grundlage des bis zu diesem
Zeitpunkt geltenden § 300 Abs. 3 SGB VI a. F. – bereits beschiedene Neufeststellungen nicht erneut aufzugreifen
sind. Dabei wird jedoch die geänderte Rechtsprechung des 5. und 13. Senats des Bundessozialgerichts zu § 300 Abs.
3 SGB VI a. F. vernachlässigt, die weder in der Gesetzesbegründung zu § 300 Abs. 3 SGB VI noch zu § 309 Abs. 2
SGB VI erwähnt wird. Dies beruht womöglich darauf, dass die Rentenversicherungsträger im Jahr 2000 beschlossen
hatten, der geänderten Rechtsprechung des 5. und 13. Senats des Bundessozialgerichts vorerst nur insoweit zu
folgen, als danach in noch offenen und zukünftigen Neufeststellungsverfahren im Rahmen des § 300 Abs. 3 SGB VI
a. F. eine Vergleichsberechnung nach dem bei Rentenbeginn geltenden Recht durchzuführen war. In abgeschlossenen
Fällen wurde die geänderte Rechtsprechung mit dem Argument, es solle einer zu diesem Zeitpunkt bereits
absehbaren Änderung des § 300 Abs. 3 SGB VI nicht vorgegriffen werden, nicht angewandt.
Nichtsdestotrotz besteht aufgrund der geänderten, die frühere ausdrücklich aufgegebenen Rechtsprechung des 5. und
13. Senats des Bundessozialgerichts ein Anspruch auf Neufeststellung der Rente nach § 44 SGB X auch für Zeiten
vor 2001 (vgl. Zweng/Scheerer/Buschmann/ Dörr, Handbuch der Rentenversicherung § 309 SGB VI Rdnr. 19;
Wollschläger, DRV 2001, 276 (293 f.)). Denn durch die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung muss jede – auf der
Grundlage des § 300 Abs. 3 SGB VI a. F. ergangene – Neufeststellung auf Antrag eines betroffenen Versicherten
gemäß § 44 SGB X – auch mit Wirkung für die Vergangenheit, also für Bezugszeiten vor 2001 – überprüft werden.
Dieser Überprüfungsanspruch ist nicht durch §§ 300 Abs. 3, 309 Abs. 2 SGB X ausgeschlossen, weil andernfalls der
in § 44 SGB X enthaltene allgemeingültige Restitutionsgedanke umgangen würde.
Durch die Gesetzesänderung des § 300 Abs. 3 SGB VI wurde die zu dieser Norm ergangene geänderte
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aufgegriffen und gesetzlich festgeschrieben. Es sollte sichergestellt
werden, dass das Inkrafttreten zwischenzeitlicher Rechtsänderungen die Rentenhöhe nicht mehr (negativ) beeinflusst.
Würde man jedoch davon ausgehen, dass durch die Einführung von § 309 Abs. 2 SGB VI die Anwendung von § 44
SGB X blockiert sein sollte, würde dies eine Schlechterstellung der Versicherten durch die Gesetzesänderung
gegenüber der Rechtsprechungsänderung bedeuten. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der
Gesetzgeber eine solche Schlechterstellung erreichen und verhindern wollte, dass infolge der geänderten
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts rückwirkend weitere Ansprüche auf Erhöhung von Renten entstehen (so
Sozialgericht Karlsruhe, a.a.O.). Dagegen spricht die Gesetzesbegründung, die (fälschlicherweise) davon ausgeht,
dass ohne die Vorschrift des § 309 Abs. 2 SGB VI vor dem 1. Januar 2001 beschiedene Neufeststellungen nicht
erneut aufzugreifen wären. Anhaltspunkte, dass die Anwendung von § 44 SGB X ausgeschlossen werde sollte, sind
daher weder dem Wortlaut, der Gesetzesbegründung noch dem Sinn und Zweck der Norm zu entnehmen.
Da gemäß § 44 SGB X die neu festgestellte Regelaltersrente der Klägerin auch für den Zeitraum vom 1. Januar 1998
bis 31. Dezember 2000 nachzuzahlen ist, waren die Bescheide der Beklagten insoweit abzuändern und der Klage
stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.