Urteil des SozG Hamburg vom 16.03.2010

SozG Hamburg: altersrente, verzicht, verwaltungsakt, auszahlung, erlass, pension, ruhe, öffentlich, entziehung, vertrauensschutz

Sozialgericht Hamburg
Urteil vom 16.03.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 18 AL 979/06
Der Bescheid vom 19. September 2006 und der Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2006 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit
vom 12. Oktober bis 31. Dezember 2004 aufzuheben, die gezahlte Alhi zurückzufordern und Erstattung der für diese
Zeit entrichteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu verlangen. Die 1943 geborene Klägerin bezog ab 1.
November 2000 Arbeitslosengeld und ab 19. Juni 2003 bis 31. Dezember 2004 Alhi. Ab 1. Januar 2005 erhielt die
Klägerin (vorgezogene) Altersrente für Frauen von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund). Insoweit
hatte sie am 10. Januar 2005 einen entsprechenden Antrag bei der DRV Bund gestellt. Diese leitete den Antrag auch
an den britischen Rentenversicherungsträger Pension Service weiter, da die Klägerin auch Versicherungszeiten in
Großbritannien zurückgelegt hatte. Mit Bescheid vom 17. Mai 2006 bewilligte der britische Versicherungsträger eine
Altersrente für Frauen rückwirkend ab 12. Oktober 2004 (3 Monate rückwirkend ab Antragstellung am 10. Januar 2005)
in Höhe von 37,97 £ wöchentlich. Mit Schreiben vom 28. Juni 2006 teilte die DRV Bund der Beklagten mit, dass die
Klägerin seit 12. Oktober 2004 eine Altersrente i.H.v. 151,88 £ monatlich aus Großbritannien erhalte. Mit Bescheid
vom 19. September 2006 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi ab 12. Oktober 2004 ganz auf und verlangte
Erstattung überzahlter Alhi i.H.v. 1207,71 EUR sowie gezahlter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge i.H.v.
193,23 EUR. Hiergegen legte die Klägerin am 28. September 2006 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom
20. Oktober 2006 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, aufgrund der zuerkannten britischen
Altersrente ruhe der Anspruch auf Alhi. Die Klägerin habe insoweit Einkommen erzielt, was gemäß § 48 Abs. 1 S. 2
Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung rechtfertige.
Hiergegen hat die Klägerin am 6. November 2006 Klage erhoben.
Im Dezember 2006 beantragte die Klägerin beim britischen Rentenversicherungsträger eine Verschiebung auf den
Rentenbeginn 1. Januar 2005. Die Klägerin zahlte an den britischen Rentenversicherungsträger die für 2004 erbrachte
Rentenleistung i.H.v. 455,64 £ zurück. Mit Schreiben vom 13. Februar 2007 bestätigte der britische
Rentenversicherungsträger der DRV Bund den späteren Rentenbeginn und die Rücküberweisung der für 2004
ausgezahlten Beträge durch die Klägerin.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 19. September 2006 und den Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2006
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf den Widerspruchsbescheid und trägt ergänzend vor, der Anspruch auf Alhi ruhe zwingend. Ein
Verzicht auf die Altersrente sei gemäß § 46 Abs. 2 SGB III unwirksam.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und
die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Ent¬scheidungsfindung vorgelegen hat, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in
ihren Rechten.
Die Aufhebung lässt sich nicht, wie die Beklagte meint, auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. §§ 142 Abs. 1 Nr. Nr.
4, 198 S. 2 Nr. 6 SGB III stützen. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eingetreten ist, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X
i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse
aufzuheben, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden
ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte. Zunächst ist festzustellen, dass selbst bei
Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen damit eine Aufhebung der Alhi nur in Höhe der zuerkannten britischen
Rente für den strittigen Zeitraum (455, 64 £) möglich wäre. Die Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X schränkt
den Vertrauensschutz in den Verwaltungsakt ein, aber nur, "soweit" nachträglich Einkommen oder Vermögen erzielt
worden ist. Der Betroffene soll also nur in dem Umfang, in dem er eine "doppelte" Zahlung erhalten hat, der Aufhebung
einer Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit ausgesetzt sein. Dies bedeutet, dass das Aufhebungsrecht der
Beklagten nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X auf die Höhe der bewilligten Rente beschränkt ist (BSG, Urteil vom
19. Februar 1986 – 7 Rar 55/84 – SozR 1300 § 48 Nr. 22; Urteil vom 13. August 1986 – 7 RAr 33/85 – BSGE 60, 180,
184 f. = SozR 1300 § 48 Nr. 26; SG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 4. November 2009 – S 18 AL 309/05).
Allerdings ist die Beklagte auch nicht berechtigt, die Bewilligung von Alhi in Höhe der britischen Rente aufzuheben, da
es an einer wesentlichen Änderung i.S. des § 48 SGB X fehlt. Gemäß §§ 142 Abs. 1 Nr. 4, 198 Satz 2 Nr. 6 SGB III
ruht der Anspruch auf Alhi für die Zeit, für die dem Arbeitslosen Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art zuerkannt worden ist. Zuerkannt i.S. des § 142 Abs. 1 SGB III ist
ein Anspruch nur dann und solange, als der (andere) Leistungsträger infolge der Zuerkennung Zahlungen zu erbringen
hat (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1991 – 7 Rar 24/91 – BSGE 70, 51 = SozR 3-4100 § 118 Nr. 3). Der Zweck der
Ruhensregelung, eine Doppelversorgung aus öffentlichen Kassen zu verhindern (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1991
a.a.O.), rechtfertigt die Rechtsfolge des Ruhens in dem Sinne, dass der Beklagten ein Leistungsverweigerungsrecht
gegenüber dem aus der Bewilligung folgenden Anspruch auf Alhi zusteht. Das Ruhen nach § 142 Abs. 1 Nr. 4 SGB III
erfasst den Anspruch auf Alhi in vollem Umfang unabhängig von der Höhe der Rente. Damit kommt es für die
Anwendung der Ruhensregelung nicht darauf an, ob die Altersrente den Lebensunterhalt der Klägerin tatsächlich
sicherstellt (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1986 – 7 Rar 33/85 – BSGE 60, 180, 182 = SozR 1300 § 48 Nr. 26;
Urteil vom 8. Juli 1993 – 7 Rar 64/92 – BSGE 73, 10, 17 = SozR 3-4100 § 118 Nr. 4).
Vorliegend fehlt es jedoch an einem Zuerkennen in diesem Sinne. Zwar hat der britische Rentenversicherungsträger
der Klägerin zunächst ab 12. Oktober 2004 eine Altersrente für Frauen bewilligt (Bescheid vom 17. Mai 2006). Diese
Bewilligung hat der Pension Service jedoch während des Klageverfahrens dahin geändert, dass ab 12. Oktober bis 31.
Dezember 2004 ein Zahlungsanspruch auf die Rente entfällt. Dies wurde sogar gegenüber der DRV Bund mit
Bescheid vom 13. Februar 2007 bestätigt. Durch diese Äußerung hat sie den "Verzicht" der Klägerin ab 12. Oktober
bis 31. Dezember 2004 für wirksam erklärt und die für diesen Zeitraum bereits geleistete Rente zurückgefordert. Ist
die Rente ab 12. Oktober bis 31. Dezember 2004 nicht mehr zu zahlen, kann die anfänglich ausgesprochene
Zuerkennung der Rente von diesem Zeitpunkt an nicht (mehr) zum Ruhen eines Anspruchs der Klägerin auf Alhi
führen. Denn i.S. des § 142 SGB III zuerkannt ist ein Anspruch nur dann und solange, als der andere Leistungsträger
infolge der Zuerkennung Zahlungen zu erbringen hat (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1991 – 7 Rar 24/91 – BSGE 70,
51 = SozR 3-4100 § 118 Nr. 3). Hinzu kommt, dass die Klägerin gar keinen wirksamen Antrag hinsichtlich einer Rente
ab 12. Oktober 2004 gestellt hat. Der britische Rentenversicherungsträger hat aus von sich aus von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht, die Rente 3 Monate rückwirkend ab Antragstellung zu bewilligen.
Die Auffassung der Beklagten, nach wirksamer Zuerkennung der zum Ruhen des Anspruchs auf Alhi führenden
Leistung verbleibe es ungeachtet des weiteren Schicksals dieser Leistung beim Ruhen, widerspricht Sinn und Zweck
der Regelung. Denn die Ruhensvorschrift des § 142 SGB III bezweckt, eine Doppelversorgung aus öffentlichen
Kassen zu verhindern (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 1991 – 7 Rar 24/91 – BSGE 70, 51 = SozR 3-4100 § 118
Nr.). Eine Doppelversorgung, die zur verhindern ist, droht indes nur so lange, als die an sich zum Ruhen des
Anspruchs auf Alhi führende Leistung zur Auszahlung zuerkannt bleibt. Entfällt eine Altersrente für die Vergangenheit,
kann es nach Sinn und Zweck der Ruhensvorschrift ebenso das Ruhen eines Anspruchs auf Alhi nicht weiter
bewirken.
Angesichts des Zwecks, Doppelleistungen zu verhindern, entfällt das Ruhen des Anspruchs auf Alhi auch, wenn es
letztlich auf das Verhalten des Arbeitslosen zurückzuführen ist, dass ihm eine das Ruhen der Alhi bewirkende
Leistung nicht oder, wie bei einem Verzicht, nicht mehr zur Auszahlung zuerkannt ist (vgl. BSG, Urteil vom 12.
Dezember 1991 – 7 Rar 24/91 – BSGE 70, 51 = SozR 3-4100 § 118 Nr. 3). In § 142 SGB III sieht das Gesetz
ausdrücklich vor, dass die andere Leistung zuerkannt werden muss, um das Ruhen des Anspruchs zu bewirken. Ob
die Klägerin auf ihren Anspruch auf die britische Rente wirksam verzichtet hat, was die Beklagte in Frage stellt, ist im
vorliegenden Falle angesichts der Entscheidung des britischen Rententrägers, die Rente erst ab 1. Januar 2005 zu
gewähren, unerheblich. Diese Entscheidung hat für das hier vorliegende Verfahren Tatbestandswirkung
(Drittbindungswirkung). Dies bedeutet, dass die mit der Entscheidung getroffene Regelung für den vorliegenden
Rechtsstreit ohne Rücksicht auf ihre Rechtmäßigkeit wie eine unbestrittene Tatsache zu beachten ist. Ein anderes
Ergebnis würde bei rechtswidriger Bewilligung der anderen Leistung zu Doppelleistungen und bei rechtswidriger
Entziehung dazu führen, dass der Arbeitslose weder die rechtswidrig entzogene Leistung noch Alhi erhielte.
Kommt nach alledem Tatbestandswirkung auch der Entscheidung zu, die der britische Rentenversicherungsträger
hinsichtlich der Rente der Klägerin aufgrund deren Erklärung getroffen hat, sie wolle die Rente erst ab Januar 2005
beziehen, hat die Kammer nicht darüber zu entscheiden, ob der Verzicht auf die Rente gemäß § 46 Abs. 2 SGB I
unwirksam war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.