Urteil des SozG Hamburg vom 26.02.2007

SozG Hamburg: aufschiebende wirkung, ex tunc, verwaltungsakt, form, sanktion, beendigung, öffentlich, eingliederung, bekanntgabe, anfechtungsklage

Sozialgericht Hamburg
Gerichtsbescheid vom 26.02.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 58 AS 1523/06
1. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2006 wird
aufgehoben. 2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. 3. Die Berufung wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Sanktion in Form einer Leistungskürzung.
Der Kläger bezieht seit März 2005 von der Beklagten laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch
(SGB II).
In einem persönlichen Gespräch am 11. Mai 2006 verlangte ein Angestellter der Beklagten von dem Kläger den
Abschluss einer so genannten Eingliederungsvereinbarung in der sich der Kläger u. a. dazu verpflichten sollte, in der
Zeit vom 6. bis 30. Juni 2006 an einem Bewerbungstraining teilzunehmen. Da der Kläger den Abschluss dieser
Eingliederungsvereinbarung ablehnte, erließ die Beklagte mit Datum vom gleichen Tag ein Bescheid, in dem die
Regelleistung des Klägers für drei Monate um 30% abgesenkt wurde.
Mit Bescheid vom 12. Mai 2006 setzte die Beklagte den Inhalt der beabsichtigten Eingliederungsvereinbarung in Form
eines Verwaltungsaktes um. In diesem wurde dementsprechend als Verpflichtung des Klägers die Teilnahme an
einem Bewerbungstraining vom 6. bis 30. Juni 2006 festgelegt.
Mit Schreiben vom 2. Juni 2006, welches bei der Beklagten am 9. Juni 2006 einging, legte der Kläger "Widerspruch
gegen die Absenkung des Arbeitslosengeldes II" ein. In diesem sehr ausführlichen Schreiben legte der Kläger im
einzelnen dar, dass und warum ein Bewerbungstraining für ihn nicht sinnvoll und zumutbar sei. Aus diesem Grund
habe er es zu Recht abgelehnt, die Eingliederungsvereinbarung zu unterzeichnen.
Der Kläger nahm an dem Bewerbungstraining vom 6. bis 30. Juni 2006 nicht teil.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2006 senkte die Beklagte die Regelleistungen des Klägers für die Monate August bis
Oktober 2006 um 30% mit der Begründung ab, dass er sich am 6. Juni 2006 geweigert habe, eine
Eingliederungsvereinbarung abzuschließen.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 6. Juli 2006 Widerspruch ein.
Nachdem die Beklagte den Sanktionsbescheid vom 11. Mai 2006 durch Bescheid vom 13. Juli 2006 aufgehoben
hatte, wies sie den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, dass das sanktionierte Verhalten entgegen
der Aussage in dem Bescheid vom 4. Juli 2006 in der Nichtteilnahme an dem Bewerbungstraining trotz
diesbezüglicher Verpflichtung aufgrund des Bescheides vom 12. Mai 2006 zu sehen sei.
Der Kläger verfolgt sein Begehren mit der am 3. August 2006 erhobenen Klage weiter.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2006
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie geht davon aus, dass aufgrund des Bescheides vom 12. Mai 2006 eine Verpflichtung zur Teilnahme an dem
Bewerbungstraining bestanden habe. Diese Pflicht sei auch nicht aufgrund eines etwaigen Widerspruches gegen
diesen Bescheid entfallen, da ein solcher Widerspruch gemäß § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung
entfalte. Im Übrigen könne es nicht sein, dass bei einem teilweise begünstigenden und teilweise belastenden
Verwaltungsakt bei Einlegung eines Widerspruches nur der belastende Teil suspendiert würde, während der
begünstigende Teil für die Beklagte weiterhin verpflichtend sei.
Das Gericht hat die Beteiligten in dem Erörterungstermin vom 23. Februar 2007 darauf hingewiesen, dass es
beabsichtige, durch Gerichtsbescheid gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Den Beteiligten ist
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitgegenstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Da der Sachverhalt geklärt und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art
aufweist und die Beteiligten zuvor gehört wurden, durfte das Gericht durch den Vorsitzenden durch Gerichtsbescheid
entscheiden, §§ 12, 105 SGG.
Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2006 ist
rechtwidrig und der Kläger ist dadurch beschwert (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGG).
Unabhängig von der Frage, ob in dem Fall der Nichtbefolgung einer Pflicht, die in einem eine
Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II festgelegt ist, eine
Sanktionierung gemäß § 31 SGB II möglich ist (vgl. dazu LSG Hessen, Beschl. v. 21. Februar 2007, Az.: L 7 AS
288/06 ER), sind die streitgegenständlichen Bescheide rechtswidrig. Denn in jedem Fall setzt die Sanktionierung
voraus, dass eine Verpflichtung des Klägers zum Besuch des Bewerbungstrainings bestand. Dies ist vorliegend nicht
der Fall, da der Kläger gegen den Bescheid vom 12. Mai 2006, in dem die Verpflichtung zur Teilnahme an dem
Bewerbungstraining geregelt war, mit seinem Schreiben vom 2. Juni 2006 fristgerecht Widerspruch eingelegt hat.
Dieser Widerspruch hat gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, so dass die Verpflichtung zur
Teilnahme an dem Bewerbungstraining suspendiert war (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 14. August 2006, Az: 1 BvR
2089/05, NJW 2006, 3551).
Zwar hat der Kläger in seinem Schreiben vom 2. Juni 2006 nicht ausdrücklich Widerspruch auch gegen den Bescheid
vom 12. Mai 2006 eingelegt. Aus dem Inhalt des Schreibens ergibt sich bei sachgerechter Auslegung (vgl. dazu
Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 83, Rdn. 2) jedoch, dass ein solcher Widerspruch der Sache nach
von ihm beabsichtigt war. Denn in dem Schreiben hat der Kläger deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er mit dem
Bewerbungstraining nicht einverstanden war. Aus diesem Grund hat er schon die Eingliederungsvereinbarung nicht
abgeschlossen, die durch den Bescheid vom 12. Mai 2006 ersetzt wurde und wendet sich gegen die daran
anknüpfende Sanktion. Daraus lässt sich klar der Wille ableiten, dass das Schreiben auch als Widerspruch gegen den
Bescheid vom 12. Mai 2006 gelten sollte.
Dieser Widerspruch hat gem. § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Entgegen der Ansicht der Beklagten
greift die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG nicht ein (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen,
Beschl. v. 11. November 2005, Az: L 19 B 89/05 AS ER; LPK-SGB II, 2. Aufl., § 15, Rdn. 56). Nach dieser Vorschrift
haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Bei der Auslegung dieser Regelung ist zu beachten, dass
die aufschiebende Wirkung einen "fundamentalen Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses" darstellt, welcher
nur ausnahmsweise zurückstehen darf (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13. Juni 1979, Az: 1 BvR 699/77, BVerfGE 51, 268
(284) m.w.N.). Daher ist bei der Auslegung von Normen, die die aufschiebende Wirkung ausschließen, grundsätzlich
restriktiv vorzugehen (vgl. LSG Hamburg, Beschl. v. 29. Mai 2006, Az: L 5 B 77/06 ER AS). Wenn die Beklagte
argumentiert, dass im Hinblick auf die Regelung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, nach der die Grundsicherung für
Arbeitsuchende auch Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch
Eingliederung in Arbeit umfasst, auch die aus einem eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt
resultierende Verpflichtung eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II
darstellen soll, greift dies nach Ansicht des Gerichtes zu kurz. Zu den Verwaltungsakten im Sinne des § 39 Nr. 1
SGB II gehören lediglich Verwaltungsakte, die über die Bewilligung von Leistungen entscheiden, sowie –
spiegelbildlich dazu – solche, die diese Bewilligung wieder aufheben (vgl. LSG Hamburg, Beschl. v. 29. Mai 2006, Az:
L 5 B 77/06 ER AS). Der hier vorliegende Verwaltungsakt im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II bewilligt nicht eine
solche Leistung, sondern konkretisiert die Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen (vgl. LPK-SGB II, 2. Aufl., § 15,
Rdn. 39). Eine solche, den Betroffenen belastende Verpflichtung kann schon vom Wortlaut her nicht als Leistung im
dargestellten Sinn angesehen werden.
Dem Argument der Beklagten, dass es nicht angehen könne, dass die aufschiebende Wirkung nur die den Kläger
belastende Verpflichtung zur Teilnahme an dem Bewerbungstraining suspendiere, nicht jedoch die diesen
begünstigenden Verpflichtungen der Beklagten, ist entgegenzuhalten, dass eine solche Argumentation lediglich dazu
führen könnte, dass auch die den Kläger begünstigenden Verpflichtungen der Beklagten aus dem Bescheid vom 12.
Mai 2006 suspendiert wären. Dies ändert jedoch nicht daran, dass in jedem Fall bei einem Widerspruch gegen einen
teilweise begünstigenden und teilweise belastenden Verwaltungsakt der belastende Teil, hier die Verpflichtung zur
Teilnahme an dem Bewerbungstraining, suspendiert wird (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 80, Rdn. 47).
Unerheblich ist auch, dass das als Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. Mai 2006 anzusehende Schreiben vom
2. Juni 2006 erst am 9. Juni 2006 und damit nach Beginn der Maßnahme am 6. Juni 2006 bei der Beklagten
eingegangen ist. Denn die aufschiebende Wirkung des Widerspruches wirkt ex tunc auf den Zeitpunkt der
Bekanntgabe des Bescheides zurück (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 86a, Rdn. 9).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Berufung sind nicht ersichtlich.