Urteil des SozG Hamburg vom 26.09.2001

SozG Hamburg: diabetes, blindenführhund, krankenversicherung, fortbewegung, kollision, ausstattung, medizin, versorgung, behinderung, behandlung

Sozialgericht Hamburg
Gerichtsbescheid vom 26.09.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 23 KR 672/99
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin möchte, daß die Beklagte die Kosten für einen Blindenführhund übernimmt.
Sie ist 1966 geboren und leidet seit 1973 an diabetes, in dessen Folge sie 1988 erblindete und in dessen weiterer
Folge eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz eintrat, weshalb 1998 eine Nierentransplantation erfolgte.
Im Oktober 1998 wandte sie sich mit der Verordnung eines Blindenführhundes durch Dres. H. M. vom 05.10.1998
sowie einem ausführlichen Bericht und Kostenvoranschlag der Blindenführhundschule S. vom 08.10.1998 an die
Beklagte.
Die Beklagte veranlaßte eine Begutachtung durch den MDK, die durch Dr. Ch. am 07.01./14.01.1999 mit dem
Ergebnis erfolgte, daß die Klägerin in vollem Umfang Langstocktechniken beherrsche und die Kostenübernahme für
einen Blindenführhund zur aus allgemeinmedizinischen Gesichtspunkten sinnvollen Steigerung der Eigenmobilität in
das ggf. nach § 12 SGB V eingeschränkte Ermessen der Beklagten gestellt werde. Mit Bescheid vom 04.02.1999
lehnte darauf die Beklagte eine Kostenübernahme ab, weil die Klägerin im Sinne des § 12 SGB V ausreichend
versorgt sei.
Ihren dagegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, daß die Orientierung mit dem Langstock mit
Schwierigkeiten und Gefahren verbunden und je nach Witterungsverhältnissen teilweise unmöglich sei, während ein
Blindenhund selbständig und sicher bei Wind und Wetter und durch jeglichen Verkehr führe, zugleich selbst ein hohes
Maß an Bewegung benötige und so für sie als Diabetikerin zu einem positiven und Insulin einsparenden Nebeneffekt
führe; sie fügte ihrem Widerspruch Atteste ihres Nervenarztes Dr. F. vom 14.04.1999, ihrer Internisten Dres. D., B.,
Sch. vom 08.04.1999 und ihrer Augenärzte Dres. H., M. vom 15.04.1999 bei.
Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK ein, in der Dr. B. am 27.09.1999 das Ergebnis des Vorgutachtens
bestätigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.1999 wies die Beklagte darauf den Widerspruch unter Berufung auf
§§ 12, 33 SGB V zurück.
Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung die Klägerin ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren
weiter ausgeführt und u.a. darauf hingewiesen hat, daß nicht nur ihre Mobilität durch einen Blindenführhund erheblich
verbessert würde, sondern auch verschiedene Gefahren massiv vermindert würden, u.a. die Gefahr von Verletzungen
durch Sturz oder Kollision mit nicht erkannten Hindernissen, was für sie im Hinblick auf ihre im vorderen Bauchraum
transplantierte und damit für Verletzungen durch Stürze auf den Bauch oder ähnliche Verletzungsrisiken besonders
exponierte Niere von besonderer Bedeutung wäre; sie hat dazu Bescheinigungen von Dres. D., B., Sch. vom
10.12.1999 über nach einer Sturzverletzung vom 30.11.1999 noch bestandene Schwellung am rechten Schienbein
nebst Auflagerung von Blutkrusten und vom 02.10.2000 über einen bierdeckelgroßen Bluterguß am linken
Oberschenkel nach Kollision mit einem vorstehenden Metallteil auf der Straße eingereicht.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 04.02.1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.1999 aufzuheben und die Beklagte
zu verurteilen, die Kosten eines Blindenführhundes zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat Befundberichte von Dres. D., B., Sch. vom 14.09.2000, Dres. H., M. vom 21.09.2000 und Dr. F. vom
19.12.2000 eingeholt und den Augenarzt Dr. W. aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 02.04.2001 das
Gutachten vom 16.04.2001 erstatten lassen. Wegen dessen Inhalts sowie weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der
Akten bezug genommen.
II.
Die Klage ist zulässig, in der Sache indessen unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die
Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme von Kosten eines Blindenführhundes.
Solchem Anspruch steht entgegen, daß die Klägerin einen Blindenführhund nicht im nach § 33 SGB V nötigen Sinne
zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse benötigt.
Wird nämlich eine Organfunktion wie das Sehen durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche gleichermaßen,
sondern nur noch für bestimmte Lebensbereiche weitergehend ausgeglichen, so kommt es nach ständiger
Rechtsprechung des BSG nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich
um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen; eine Verbesserung des
Behinderungsausgleichs auf beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene sowie im Freizeitbereich reicht dazu nicht aus
(vgl. z.B. BSG 06.08.1998 - B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 29 m.w.N.).
Zu derartigen Grundbedürfnissen zählen nur die allgemeinen Verrichten des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen,
Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie
die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von
Informationen die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines
lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (vgl. BSG a.a.O. S. 174).
Die Erschließung dieser "gewissen" - körperlichen und geistigen - Freiräume gehört dabei aber nur im Sinne eines
Basisausgleichs der Behinderung selbst zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, und ist nicht
im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den - letztlich unbegrenzten - Kommunikations- und
Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden zu verstehen (vgl. BSG a.a.O.); im Rahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung besteht Anspruch nur auf eine ausreichende Versorgung nach dem jeweiligen Stand der Medizin
und Technik, soweit Grundbedürfnisse betroffen sind, nicht aber auf eine optimale Ausstattung zum umfassenderen
Ausgleich in allen Lebensbereichen (vgl. BSG 03.11.1999 - B 3 KR 3/99 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 34).
Die Ausstattung mit einem Blindenführhund zählt daher bei Blinden, welche die in dem genannten Sinne eines
Basisausgleichs ausreichende Orientierung und Fortbewegung mithilfe eines Langstocks erlernen können oder - wie
im Falle der Klägerin - bereits beherrschen, grundsätzlich nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem vom Gericht eingeholten Gutachten von Dr. W; denn dieser hat die
Anschaffung eines Blindenführhundes lediglich deshalb befürwortet, weil die Klägerin nicht mehr das geringste
Sehvermögen hat und aufgrund ihres diabetes auf tägliche Bewegung angewiesen ist. Indessen ist der Langstock
ohnehin eine Hilfe nur für Blinde, die - wie die Klägerin - über keinerlei noch zur Orientierung taugliches Sehvermögen
verfügen, während zahlreiche im Sinne der Sozialgesetze blinde Menschen zur Fortbewegung weder Langstock noch
Führhund benötigen, und es ist weder die bei der Klägerin mittels Langstock bestehende - und im Sinne des
obengenannten Basisausgleichs ausreichende - Orientierungs- und Fortbewegungsmöglichkeit dadurch in Frage
gestellt, daß sie gelegentlich Verletzungen auf der Straße erlitten hat oder dadurch, daß für sie körperliche Bewegung
durchaus wichtiger ist als für nicht an diabetes leidende Menschen, noch gibt es irgendwelche ernsthaften
Anhaltspunkte dafür, daß sie etwa zur Sicherung des Erfolges ihrer internistischen Krankenbehandlung i.S.d. § 33
Abs 1 SGB V eines Blindenführhundes bedürfte, vielmehr ist zwar der Zusammenhang zwischen diabetes und
Behandlung einfach (viel Bewegung = wenig Medikamente; wenig Bewegung = viele Medikamente), heißt aber
Bewegung keineswegs notwendig die Fortbewegung auf der Straße, sondern mindestens ebensogut mehrfach
wöchentlich eine sportliche Betätigung wie etwa Schwimmen oder Gymnastik (vgl. zum bei diabetes anzuratenden
körperlichen Training: Corazza, Daimler, Ernst, Federspiel, Herbst, Langbein, Martin, Weiss, Kursbuch Gesundheit,
1991, S. 558; Praxisleitfaden Allgemeinmedizin, Hrsg. Schmidt, Engelhardt, Ziesché, Gesenhues, 1997, S. 942).
Der Erlaß des Gerichtsbescheides beruht auf § 105 Sozialgerichtsgesetz - SGG; die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.