Urteil des SozG Gießen vom 11.10.2007

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Sozialgericht Gießen
Urteil vom 11.10.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 20 SO 35/06
Hessisches Landessozialgericht L 9 SO 141/07
1. Der Bescheid des Beklagten vom 20.04.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.01.2006 wird
abgeändert und der Beklagte verurteilt, dem Kläger Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Betreuungskosten
für den Bereich "Wohnen" im Zeitraum vom 01.04.2004 bis 31.03.2006 nach Hilfebedarfsgruppe 5 zu gewähren.
2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.
Tatbestand:
Im Streit steht die Höhe der von dem Beklagten zu übernehmenden Betreuungskosten für die Heimunterbringung des
Klägers für den Bereich "Wohnen" für den Zeitraum vom 01.04.2004 bis 31.12.2006.
Der 1962 geborene Kläger lebt aufgrund einer schweren geistigen Behinderung (vermutlich perinataler Hirnschaden)
seit seiner Kindheit in psychiatrischen Einrichtungen bzw. Behindertenwohnstätten, zuletzt seit 1988 in der
Wohnstätte A-Stadt der L-e.V ... Seither übernahm der Beklagte als Kostenträger die Heimunterbringungskosten aus
Mitteln der Sozialhilfe. Der Kläger bezieht daneben Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB
XII.
Nachdem zum 01.01.2000 das Vergütungssystem nach §§ 93 ff. Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von einem bisher
einheitlichen Pflegesatz für alle Leistungsberechtigten auf Vergütungsvereinbarungen aufgrund des jeweiligen
persönlichen Bedarfs des Betreuten umgestellt worden war, gewährte der Beklagte durch Bescheid vom 09.05.2000
ab 01.01.2000 Betreuungskosten nach Hilfebedarfsgruppe 5 (HBG 5, sehr hoher Hilfebedarf), "solange, wie die
Voraussetzungen hierfür vorliegen".
Durch Bescheid vom 05.05.2000 (?) bestätigte der Beklagte die Übernahme der Betreuungskosten bis 31.03.2003
nach HBG 5, durch Bescheid vom 06.03.2002 wurde die Kostenzusage bis 31.03.2004 verlängert.
Am 17.03.2004 wurde erneut die Verlängerung der Kostenzusage beantragt, beigefügt war ein Entwicklungsbericht der
Einrichtung vom 26.02.2004. Durch Bescheid vom 20.04.2004 verlängerte der Beklagte die Zusage bezüglich der
Betreuungskosten bis 31.03.2006, allerdings nur nach HBG 4, da abweichend von der Selbsteinschätzung der
Einrichtung nur noch ein hoher Hilfebedarf vorliege. Grundlage der Bewertung war eine tabellarische Ermittlung des
Hilfebedarfes durch den Beklagten aufgrund eines von Frau Prof. Dr. M., Universität D-Stadt, entwickelten
Erhebungsbogens ("M.-Bogen") auf der Basis des Entwicklungsberichtes der Einrichtung.
Hiergegen wurde fristgerecht Widerspruch eingelegt, worauf der Beklagte eine gutachterliche Stellungnahme seines
Fachdienstes vom 22.02.2005 einholte sowie eine weitere Auswertung dieses Ergebnisses nach dem "M.-Bogen"
vornahm. Durch Widerspruchsbescheid vom 06.01.2006 wurde der Widerspruch sodann als unbegründet
zurückgewiesen.
Der Kläger hat hiergegen am 10.02.2006 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Er vertritt die Auffassung, der konkret für den Bereich "Wohnen" erforderliche Hilfebedarf rechtfertige die Einstufung in
die HBG 5. Der Beklagte beziehe sachfremde Erwägungen in seine Entscheidung mit ein.
Der Kläger beantragt sinngemäß, den Bescheid des Beklagten vom 20.04.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 06.01.2006 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm im Rahmen der
Eingliederungshilfe Betreuungskosten für den Bereich "Wohnen" im Zeitraum vom 01.04.2004 bis 31.03.2006 nach
Hilfebedarfsgruppe 5 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, im Hinblick auf die weitere umfängliche Versorgung des Klägers in der
Einrichtung liege bei diesem bereits keine Beschwer vor. Außerdem komme dem Beklagten bei der Ermittlung des
Hilfebedarfes ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen.
Der Kläger hat zum Beweis seiner Beschwer mit Schriftsatz vom 05.07.2007 u.a. eine Rechnung der e.V. vom
02.07.2007 vorgelegt, ausweislich derer ihm gegenüber eine Forderung in Höhe von EUR 25.704,70 geltend gemacht
wird.
Das Gericht hat in der Sitzung vom 31.08.2006 den pädagogischen Mitarbeiter der L., Herrn W. als Zeugen
vernommen hinsichtlich des Umfangs des Hilfebedarfs des Klägers.
Zur Vermeidung von Wiederholungen zu Weg zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die
Verwaltungsakte des Klägers bei dem Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung nach §124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden,
nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt hatten.
Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und in der Sache
auch begründet.
Der angegriffene Bescheid des Beklagten ist abzuändern, denn er ist rechtswidrig, soweit hierdurch
Heimunterbringungskosten für den Zeitraum vom 01.04.2004 bis 31.03.2006 lediglich nach Hilfebedarfsgruppe 4
anstatt 5 übernommen werden.
Zunächst steht eine Beschwer des Klägers für das Gericht außer Frage, denn durch die Herabstufung der
Hilfebedarfsgruppe und der damit verbundenen geringeren dem Heim tatsächlich zufließenden Betreuungsmittel ist die
Rechtsposition des Klägers beeinträchtigt, weil die Einrichtung jederzeit aufgrund des zivilrechtlichen
Vertragsverhältnisses mit dem Kläger die Zahlung der ungedeckten Kosten von diesem hätte fordern können und dies
nunmehr auch schriftlich getan hat; insoweit setzt sich auch heute noch der ursprüngliche Bedarf des Klägers trotz
vollumfänglicher Betreuung im streitigen Zeitraum durch die Einrichtung in Form einer Vermögensbelastung fort. Der
Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" greift daher vorliegend nicht. Weiter ist nach Auffassung der
Kammer die Entscheidung des Beklagten auch inhaltlich rechtswidrig, wie noch ausgeführt wird, so dass die
Klagebefugnis zu bejahen ist.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Leistung sind nach Inkrafttreten des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuchs
die Vorschriften der §§ 53 ff. SGB XII, die zum 01.01.2005 die früheren Regelungen in §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abgelöst haben, in Verbindung mit § 55 SGB IX. Zuständiger Träger der Leistungen
ist der Beklagte als überörtlicher Sozialhilfeträger, § 3 in Verbindung mit § 97 Abs. 2 und 3 SGB XII und dem
Hessischen Ausführungsgesetz zum SGB XII vom 20.12.2004 (HAG), das für stationäre Einrichtungen stets die
Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers vorsieht, § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 HAG.
Es handelt sich somit um Leistungen der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe, an deren Erbringung sowohl
der Beklagte als Kostenträger wie auch die Einrichtung als Leistungserbringer im Sinne von § 3 SGB XII und
schließlich der Hilfeempfänger im Form eines sog. sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses beteiligt sind. Die
zwischen der Einrichtung und dem Beklagten nach §§ 75 ff. SGB XII abgeschlossene Vergütungsvereinbarung regelt
dabei, welche Vorgaben die Einrichtung erfüllen muss, sowie welche Vergütungspauschalen abrechnungsfähig sind,
tangiert jedoch nicht den individuellen Leistungsanspruch des Hilfebedürftigen gegenüber dem Kostenträger. Dieser
bestimmt sich in seiner Höhe nach dem im gesamten Bereich der Sozialhilfe geltenden Grundprinzip, dass die
Leistung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein muss und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten
darf, vgl. §§ 1, 9 SGB XII. Die Vergütung der Einrichtungen, derer sich der Beklagte zur Erfüllung seiner Verpflichtung
zu Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe bedient, wurde zum 01.01.2000 von einem bisher einheitlichen
Pflegesatz für alle Leistungsberechtigten auf Vergütungsvereinbarungen aufgrund des jeweiligen persönlichen Bedarfs
des Betreuten umgestellt, der im Einzelfall durch die Feststellung einer fünffach gestaffelten Hilfebedarfgruppe
dargestellt wird. Die Feststellung einer bestimmten Hilfebedarfsgruppe konkretisiert somit den individuellen
Einzelanspruch des Berechtigten.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger zum leistungsberechtigten Personenkreis im Sinne des § 53
SGB XII gehört. Der Kläger hat für den streitigen Zeitraum zur Überzeugung der Kammer auch die Voraussetzungen
für die Eingruppierung nach HBG 5 erfüllt.
Dies ergibt sich für das Gericht zum Einen aus den Stellungnahmen der Einrichtung zum Umfang der jeweils
erforderlichen Hilfeleistungen, insbesondere aber auch aus den schlüssigen Ausführungen des den Kläger
betreuenden Zeugen, die belegen, dass die von der Einrichtung getroffene Einschätzung des Hilfebedarfs für den
maßgeblichen Zeitraum weiterhin zutreffend ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit darauf Bezug
genommen.
Soweit der Beklagte in seinen verschiedenen Äußerungen ohne persönliche Kenntnis der Wohnumstände und
Lebenssituation des Klägers zu jeweils voneinander abweichenden Beurteilungen nach dem "M.-Bogen" kommt, zeigt
dies gerade die besonderen Schwierigkeiten des Verfahrens sowie die Problematik der Vorgehensweise des
Beklagten. Eine Begründung für die von dem Beklagten ab 01.04.2004 gesehene Verminderung des tatsächlichen
Hilfebedarfs des Klägers erschließt sich dem Gericht jedenfalls weder aus dem angegriffenen Bescheid noch aus dem
Klagevorbringen. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger seit Geburt an einer schweren geistigen Behinderung
leidet, welche aufgrund des fortschreitenden Alters per se einen Hinzugewinn an Fertigkeiten und damit eine
Möglichkeit zur Reduzierung des Hilfebedarfs eher als unwahrscheinlich erscheinen lässt, und nachdem nach Lage
der Akten inzwischen auch eine weitere gesundheitliche Verschlechterung eingetreten ist, die den von dem Zeugen
anschaulich dargestellten hohen Hilfebedarf eher stützen denn widerlegen, vermag die vom Beklagten "aus der Ferne"
getroffene Beurteilung das Gericht letztlich in keiner Weise zu überzeugen.
Zutreffend weist der Beklagte darauf hin, dass es sich bei den Leistungen der Eingliederungshilfe um
Ermessensleistungen handelt, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Eine wie auch immer
geartete Ermessensausübung lässt der angegriffene Bescheid allerdings gerade nicht erkennen.
Vorliegend war die Entscheidung daher bereits aufgrund dieses Ermessensfehlers zu kassieren, wobei das Gericht im
Hinblick auf die Behandlung des Vorganges durch den Beklagten ausdrücklich von einer Ermessensreduzierung auf
Null ausgeht. Denn nachdem die begehrte Leistung bereits erbracht ist, und der Beklagte außerdem trotz der
bekannten Schwierigkeiten bei der Feststellung der Hilfebedarfgruppe von einer an den tatsächlichen Gegebenheiten
und dem Amtsermittlungsgrundsatz orientierten eigenen Sachaufklärung abgesehen und eine reine Entscheidung nach
Lage der Akten getroffen hat, kam nur noch die Verurteilung im Umfang des Klageantrags in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143
SGG.