Urteil des SozG Gießen vom 29.05.2009

SozG Gießen: stadt, erwerbsfähigkeit, verwaltungsverfahren, gerichtsverfahren, minderung, unfallversicherung, entschädigung, rente, arbeitsunfall, unfallfolgen

Sozialgericht Gießen
Urteil vom 29.05.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 1 U 237/07
Hessisches Landessozialgericht L 6 U 222/09
1. Unter Abänderung des Bescheids vom 08.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.07.2006 wird
die Beklagte verurteilt, der Klägerin Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v. H. zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung einer Verletztenrente nach den Vorschriften des Siebten Buches
Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von
20 v. H.
Die 1973 geborene Klägerin war Altenpflegerin und in dieser Tätigkeit bei der Beklagten im Rahmen der gesetzlichen
Unfallversicherung versichert. Am 15.07.2007 überschlug sie sich auf dem Weg zur Arbeit mit ihrem PKW. Der
Durchgangsarzt Dr. QZ., E-Stadt, diagnostizierte am selben Tag eine Halswirbelkörper-Fraktur mit Hautabschürfungen
und Schnittverletzungen. Die Klägerin wurde unverzüglich in das Klinikum B-Stadt verlegt. An die folgende klinische
Behandlung schloss ein langer Heilbehandlungsverlauf mit seelischen Reaktionen an. Im Verwaltungsverfahren zog
die Beklagte daraufhin umfangreiche Arztbriefe und Krankenbehandlungsunterlagen bei. Im Februar 2004 beauftragte
die Beklagte zunächst das Klinikum B-Stadt mit der Erstellung eines ersten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens.
Die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie C. VI. kam in ihrem Gutachten vom 28.05.2004 zu
dem Ergebnis, dass Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit teilursächlich durch den Arbeitsunfall ausgelöst
worden seien. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die MdE werde mit 30 v. H.
eingeschätzt, es bestehe aber derzeit weiterhin Arbeitsunfähigkeit. Nach weiteren Heilbehandlungsmaßnahmen
beauftragte die Beklagte Prof. AV., F-Stadt, mit der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens unter
Berücksichtigung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Prof. AV. kam in seinem Gutachten vom
16.11.2005 zu dem Ergebnis, isoliert auf chirurgischem Fachgebiet sei eine MdE von 10 v. H. festzustellen. Die
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie C. VI., D-Stadt, kam in ihrem Gutachten vom 29.12.2005 zu dem Ergebnis,
auf ihrem Fachgebiet bestehe eine MdE von 10 v. H. Prof. AV. hat in einer Stellungnahme vom 16.01.2006 die
Gesamt-MdE integrierend mit 15 v. H. eingeschätzt.
Mit Bescheid vom 08.03.2006 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 15.07.2002 als Arbeitsunfall mit folgenden
Unfallfolgen an:
"Reizlose Stirn- und Hinterhauptnarben nach Halo-Fixateur-Behandlung, endgradig eingeschränkte Drehfähigkeit des
Kopfes auf der Halswirbelsäule (HWS) nach rechts, lokale Belastungsbeschwerden der oberen HWS, röntgenologisch
erkennbare Veränderungen im ehemaligen Bruchbereich sowie leichte Störung der Aufmerksamkeits- und
Belastungsfähigkeit als Restsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Atlasberstungsbruch
(Jefferson-Fraktur Typ III)."
In demselben Bescheid lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente mit der Begründung ab, es bestehe
keine MdE von mindestens 20 v. H. Den von der Klägerin hiergegen am 15.03.2006 eingelegten Widerspruch wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.07.2006 zurück.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 23.08.2006 beim Sozialgericht Fulda eingegangenen Klage, die mit
Beschluss vom 29.11.2007 an das erkennende Gericht verwiesen worden ist.
Die Klägerin ist der Ansicht, bei integrierender Betrachtung sei bei ihr eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im
rentenberechtigenden Grade festzustellen.
Die Klägerin beantragt, in Abänderung des Bescheids vom 08.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
26.07.2006 die Beklagte zu verurteilen, ihr Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die im Verwaltungsverfahren insbesondere durch den Gutachter Prof. AV., F-Stadt, getroffenen
Feststellungen seien richtig. Zur weiteren Begründung legt sie im Verfahren eine Stellungnahme des Gutachters Prof.
AV. vom 16.10.2008 vor. Sie ist hierzu der Ansicht, dass Prof. AV., obwohl er kein Beratungsarzt der Beklagten sei,
auch im Gerichtsverfahren habe gehört werden können, da die Klägerin ursprünglich im Verwaltungsverfahren ihre
Zustimmung zur Einholung eines Gutachtens bei Prof. AV. erklärt habe.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Amts wegen bei Dr. D., D-
Stadt. Der Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 20.03.2008 zu dem Ergebnis, die MdE sei bei der
Klägerin ab 09.03.2006 mit 20 v. H. zu bewerten. Im vorliegenden Fall werde es der Unfallverletzung nicht gerecht,
wenn ausschließlich die Bewegungseinschränkung im Kopfgelenk als solche beschrieben werde, ohne auf die
entsprechenden Auswirkungen des cervicoencephalen Systems einzugehen. In dem Werk von H.-D. Wolff, Die
Sonderstellung des Kopfgelenks, Springer-Verlag, Berlin, sei nachzulesen, dass es sich bei der stattgehabten
Verletzung um eine sehr schwere Beschleunigungsverletzung handele mit einer knöchernen Verletzung eines Wirbels
und dass daraus resultierend sich eine so genannte encephale Symptomatik entwickeln könne, welche sich in
Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schwindel und auch psychischen Störungen manifestieren könne. Wolff führe in
seinem Buch weiter aus, dass bei dieser sehr schweren Beschleunigungsverletzung der HWS eine Mindest-MdE von
30 v. H. bis zum Ablauf des zweiten Unfalljahres gegeben sei. Anlehnend an diese Ausführungen müssten die
speziellen, individuellen Unfallfolgen in die Bewertung der MdE einfließen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Klage- und Verwaltungsakten der Beklagten über die
Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 29.05.2009 gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
Sachlich ist die Klage auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 08.03.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 26.07.2006 war abzuändern, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von
Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H.
Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) erhalten
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, eine Rente. Dabei gilt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ein
zweistufiges Rentenprinzip. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII soll der Unfallversicherungsträger während der ersten
drei Jahre nach dem Versicherungsfall die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der
Minderung der Erwerbsfähigkeit noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Nach § 62 Abs. 3 SGB VII wird
dann spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall die vorläufige Entschädigung als Rente auf
unbestimmte Zeit geleistet. Nach § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII kann bei der erstmaligen Feststellung der Rente auf
unbestimmte Zeit nach der vorläufigen Entschädigung von dem Vom-Hundert-Satz der Minderung der
Erwerbsfähigkeit der vorläufigen Entschädigung eine abweichende Feststellung getroffen werden, auch wenn sich die
Verhältnisse nicht geändert haben. Damit soll gewährleistet werden, dass etwaige körperliche Anpassungs- und
Gewöhnungsprozesse bei der Feststellung einer Dauerrente berücksichtigt werden können. Letztlich kommt es bei
Feststellung der Dauerrente somit einzig auf den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Gesundheitszustand an.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der
Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten
auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Um die MdE in Folge eines Versicherungsfalles festzustellen, ist die
vor dem Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (Ausgangswert) mit
demjenigen danach zu vergleichen (Beziehungswert). Dabei hängt der Grad der MdE nicht nur von der medizinischen
Beurteilung ab, welche körperlichen Schäden und Funktionsausfälle vorliegen, sondern auch davon, welche Arbeiten
der Verletzte bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten
MdE ist deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage. Eine Bindung des Unfallversicherungsträgers oder des Gerichts an
die ärztlichen Gutachten besteht nicht (BSGE 4, 147). Hat ein Arbeitsunfall Schäden an mehreren Körperteilen
oder/und Funktionssystemen hinterlassen, so ist die MdE im Ganzen zu würdigen. Eine schematische
Zusammenrechnung, der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze darf nicht erfolgen. Die Gesamt-MdE ist
deshalb nicht rechnerisch aus einzelnen MdE-Graden zu ermitteln, sondern auf einer Gesamtwürdigung des
Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Minderungen zu bemessen
(BSGE 48, 22).
Für die Messung der MdE haben sich in der Rechtssprechung und Praxis der Unfallversicherungsträger Grundlagen
gebildet, die im einschlägigen Schrifttum (vgl. Mehrhoff/Muhr, Unfallbegutachtung; Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit) zusammengefasst sind. Diese Grundlagen sind zu beachten, weil sie sich aufgrund
ihrer immer wiederkehrenden Bestätigung durch Gutachter, Unfallversicherungsträger, Gerichte sowie ihrer Annahme
durch die Betroffenen als wirklichkeits- und maßstabsgerecht erwiesen haben. Es sind Erfahrungswerte, die nicht
zuletzt einer weitgehenden Gleichbehandlung aller Verletzten dienen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.1976 – BSGE 43,
53, 54; BSG, Urteil vom 26.06.1985 – SOZR 2200 § 581 RVO Nr. 23).
In Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung der Kammer insbesondere aufgrund des im
Gerichtsverfahren bei Dr. D. eingeholten Gutachtens fest, dass wegen der korrekt mit Bescheid vom 08.03.2006
anerkannten Unfallfolgen eine MdE von 20 v. H. festzustellen ist. Wie oben dargestellt, handelt es sich bei der
Bemessung der MdE um eine jeweils individuelle Feststellung, die den Funktionseinschränkungen der konkreten
Versicherten gerecht werden muss. Die in den genannten Werken festgelegten MdE-Sätze sind dafür nur
Anhaltspunkte. Hinzu kommt, dass bei gemischten MdE-Sätzen mit mehreren funktionalen Beeinträchtigungen, die
sich gegenseitig beeinflussen, in den oben genannten Werken praktisch keine konkreten Feststellungen getroffen
werden. Insoweit sind insbesondere in diesen Fällen individualisierte Feststellungen erforderlich, die nur aufgrund
einzelner medizinischer Gutachten getroffen werden können. Dies hat Dr. D. ausführlich, nachvollziehbar und
widerspruchsfrei für die Kammer dargestellt. Beim Verletzungsbild der Klägerin handelt es sich um einen Fall, bei dem
eine MdE knapp unter bzw. gerade im (20 v. H.) rentenberechtigenden Grade im Streite steht. So haben die im
Verwaltungsverfahren bei Prof. AV. und der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie C. VI. eingeholten Gutachten jeweils
Einzel-MdE-Sätze von 10 v. H. ergeben. Prof. AV. hat dies zu einer Gesamt-MdE von 15 v. H., also knapp unterhalb
des rentenberechtigenden Grades, zusammengefasst. Schon daraus allein folgt, dass es sich hier um einen Grenzfall
handelt. Die im Gutachten von Dr. D. genannten Argumente zur Feststellung einer MdE im rentenberechtigenden
Grade überzeugen die Kammer hier jedoch mehr. Dr. D. hat ausführlich dargestellt, dass es sich um ein kompliziertes
Verletzungsbild mit gegenseitigen Beeinflussungen der Funktionseinschränkungen auf chirurgischem Fachgebiet und
neurologischer Störungen handelt. Er hat sich dabei auf die Ausführungen von H.-D. Wolff in seinem im Gutachten
exakt zitierten Standardwerk bezogen. Dies ist für die Kammer nachvollziehbar. Im Übrigen ist die Beklagte daran
festzuhalten, dass sie mit dem streitigen Bescheid vom 08.03.2006 selbst eingeräumt hat, dass nicht nur die
körperliche Funktionseinbuße bei der Bewertung der MdE herangezogen werden muss, sondern dass auch und
insbesondere noch 3 ½ Jahre nach dem Unfall Funktionseinschränkungen auf psychischem Fachgebiet bestehen, die
auf den Unfall zurückzuführen sind. In der Gesamtbetrachtung führt dies zur Überzeugung der Kammer zur
Feststellung einer MdE von 20 v. H.
Die in das Verfahren von der Beklagten eingeführten Stellungnahmen von Prof. AV. vom 24.04.2008 und 16.10.2008
konnten demgegenüber keine Berücksichtigung finden, denn sie verstießen gegen die prozessualen
Beweisverwertungsgrundsätze und insbesondere gegenüber den speziell im Recht der gesetzlichen
Unfallversicherung geltenden Einschränkungen der Übermittlungsbefugnisse nach § 200 SGB VII. Insbesondere nach
letzterer Vorschrift besteht das für den Versicherten geltende Gutachterauswahlrecht des § 200 SGB VII und die
damit einhergehende Pflicht des Unfallversicherungsträgers, auf das Widerspruchsrecht des Versicherten gegen die
Übermittlung seiner Sozialdaten hinzuweisen, auch im Gerichtsverfahren (vgl. grundsätzlich: BSG, Urteil vom
05.02.2008 – B 2 U 8/07 R – SozR 4-2700 § 200 Nr. 1 – SGb 2009, 40). Danach kann ein Unfallversicherungsträger
im Gerichtsverfahren weitere medizinische Ermittlungen nur vornehmen, wenn er ein neues
Gutachterauswahlverfahren zuvor gegenüber dem Versicherten durchgeführt hat, oder wenn er sich lediglich zu einem
vom Gericht eingeholten Gutachten ärztlich beraten lässt. Nach den näheren Ausführungen der oben genannten
grundsätzlichen Entscheidung des BSG kann sich der Versicherungsträger aber nur ärztlich im Gerichtsverfahren
durch einen Arzt beraten lassen, der als interner Sachverständiger (so genannter "Beratungsarzt") tätig ist. Damit
sollen die Sozialdaten des Versicherten davor geschützt werden, unbefugten Dritten zur Kenntnis zu gelangen.
Vorliegend handelt es sich bei Prof. AV. jedoch um keinen Beratungsarzt, dies hat die Beklagte ausdrücklich
bestätigt. Prof. AV. war lediglich im vorherigen Verwaltungsverfahren (externer) Gutachter. Das in diesem
Verwaltungsverfahren vorgenommene Gutachterauswahlverfahren gilt jedoch nicht für das sich anschließende
Gerichtsverfahren fort. Die Stellungnahmen von Prof. AV. konnten deshalb bei der Urteilsbildung keine Verwertung
finden. Das erkennende Gericht hat sie, entgegen der oben genannten Rechtsprechung des BSG, jedoch nicht aus
der Akte entfernt, da hierüber gegebenenfalls das Landessozialgericht als zweite Tatsacheninstanz neu befinden
könnte. Erst dem LSG obliegt es, über die endgültige Aussonderung aus der Verfahrensakte zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.