Urteil des SozG Gießen vom 01.03.2010

SozG Gießen: psychisch kranker, leistungsausschluss, freiheitsentzug, vollzug, freiheitsentziehung, straftat, aufenthalt, erwerbsfähiger, ausnahme, stadt

Sozialgericht Gießen
Urteil vom 01.03.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Gießen S 29 AS 1053/09
Hessisches Landessozialgericht L 1 AS 162/10
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2009 wird
aufgehoben.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch (SGB II) für die Zeit der Ableistung eines Jugendarrests.
Der 1986 geborene Kläger steht seit Juli 2007 im Leistungsbezug der Beklagten nach dem SGB II.
Vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 befand sich der Kläger in der Jugendarrestanstalt D-Stadt zur Verbüßung eines
Jugendarrests.
Mit Bescheid vom 7. Juli 2009 hob die Beklagte die bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für
den Zeitraum vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 auf und forderte vom Kläger einen Betrag von 330,38 EUR zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 11. Juli 2009 Widerspruch eingelegt, der mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2009
zurückgewiesen wurde. Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 26. August 2009 Klage beim
Sozialgericht Gießen erhoben.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Auffassung, der Jugendarrest sei nach § 13 Abs. 2 Nr. 3 Jugendgerichtsgesetz
(JGG) keine Strafe, sondern lediglich ein Zuchtmittel. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II betreffe ihn
daher nicht.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
29. Juli 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, der vom Kläger abgeleistete Jugendarrest in Form des Dauerarrestes sei eine
richterlich angeordnete Freiheitsstrafe im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II. Der Kläger sei daher für die Dauer des
Jugendarrestes von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Die bewilligten Leistungen seien
daher aufzuheben und die Überzahlung zurückzufordern.
Das Gericht hat am 1. Februar 2010 einen Erörterungstermin abgehalten, in dem die Beteiligten einer Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben, § 124 Abs. 2 SGG.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Beklagtenakten Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Aufhebung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II des Klägers für den Zeitraum
vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Beklagte kann die Aufhebung der bewilligten Leistungen nicht auf § 48 SGB X stützen, da die Bewilligung der
Leistungen an den Kläger bereits nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig war. Insbesondere war der Kläger im
Zeitraum der Ableistung des Jugendarrestes nicht nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II vom Erhalt von Leistungen nach
dem SGB II ausgeschlossen.
Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II,
da er das 15. Lebensjahr bereits vollendet hatte, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
hatte, erwerbsfähig und hilfebedürftig war. Nach § 19 Satz 1 SGB II erhielt er als erwerbsfähiger Hilfebedürftiger als
Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für
Unterkunft und Heizung.
Nach § 7 Abs. 4 SGB II erhält jedoch Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung
untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-
rechtlicher Art bezieht (Satz 1). Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung
zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (Satz 2).
Jugendarrest nach § 16 JGG ist keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2
SGG.
Die Systematik des JGG unterscheidet als Folge einer Jugendstraftat nach Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und
der Jugendstrafe. Dabei können nach § 5 JGG aus Anlass der Straftat eines Jugendlichen Erziehungsmaßregeln
angeordnet werden. Wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen wird die Straftat eines Jugendlichen mit
Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet. Das JGG sieht somit ein abgestuftes System von Ahndungen einer Tat
mit steigender Intensität des Eingriffs vor.
Nach § 13 Abs. 1 JGG ahndet der Richter eine Straftat mit Zuchtmitteln, wenn Jugendstrafe nicht geboten ist, dem
Jugendlichen aber eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden muss, dass er für das von ihm begangene Unrecht
einzustehen hat (Abs. 1). Das Gesetz nennt als Zuchtmittel 1. die Verwarnung, 2. die Erteilung von Auflagen und 3.
den Jugendarrest (Abs. 2). § 13 Abs. 3 JGG sieht ausdrücklich vor, dass Zuchtmittel nicht die Rechtswirkungen einer
Strafe haben. § 16 Abs. 1 JGG konkretisiert Jugendarrest in drei Erscheinungsformen: Freizeitarrest, Kurzarrest oder
Dauerarrest. Dabei beträgt ein Dauerarrest gem. § 16 Abs. 4 JGG mindestens eine Woche und höchstens vier
Wochen. Der vom Kläger abgeleistete Jugendarrest in der Jugendarrestanstalt D-Stadt vom 17. Juni bis 1. Juli 2009
war somit ein Dauerarrest im Sinne des § 16 Abs. 4 JGG.
Abweichend vom Jugendarrest sieht das JGG in den §§ 17 ff. JGG die Jugendstrafe vor. Nach § 17 Abs. 1 JGG ist
die Jugendstrafe Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. Nach § 18 Abs. 1 JGG beträgt
das Mindestmaß der Jugendstrafe sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre. Handelt es sich bei der Tat um ein
Verbrechen, für das nach dem allgemeinen Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe
angedroht ist, so ist das Höchstmaß zehn Jahre.
Das JGG unterscheidet damit zwischen Freiheitsentzug in Form der Jugendstrafe mit einer Dauer von mindestens 6
Monaten einerseits und Jugendarrest als Zuchtmittel mit einer Dauer von höchstens vier Wochen andererseits. Nach
dem eindeutigen Wortlaut des § 17 Abs. 1 JGG ist ein richterlich angeordneter Freiheitsentzug daher lediglich bei
Jugendstrafen, nicht jedoch bei Jugendarrest anzunehmen.
Nach den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs. 4 SGB II liegt der Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung
insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung,
einstweiliger Unterbringung, der Absonderung nach dem Bundesseuchengesetz, Geschlechtskrankheitengesetz, der
Unterbringung psychisch Kranker und Suchtkranker nach den Unterbringungsgesetzen der Länder (BT-Drucks
16/1410, S. 50; Hackethal in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 7, Rn. 54). Jugendarrest nach § 16 JGG wird in der -
gleichwohl nicht abschließenden - Aufzählung zumindest nicht erwähnt.
Nach Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II sollen potentielle Leistungsempfänger vom Leistungsbezug nach dem
SGB II ausgeschlossen sein, wenn ein an sich Erwerbsfähiger in einer Einrichtung so untergebracht ist, dass er
daneben objektiv nicht mehr in der Lage ist, erwerbstätig zu sein. Nach dem vom Bundessozialgericht verfolgten
"funktionalen Ansatz" (BSG, Urteile vom 6. September 2007, B 14/7b AS 60/06 und B 14/7b AS 16/07 R) kommt es
daher grds. darauf an, ob aufgrund des Charakters, der Art, der Struktur und der Verfasstheit einer Einrichtung
objektiv eine Erwerbstätigkeit unmöglich ist. Aus der Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr.
1 SGB II unter Berücksichtigung eines weniger als 6-monatigen Krankenhausaufenthalts ergibt sich darüber hinaus
ein Anliegen des Gesetzgebers, einen ständigen Wechsel des zuständigen Leistungsträgers (nach SGB II bzw. nach
SGB XII) zumindest für überschaubare vorübergehende Zeiträume zu vermeiden. Da der Kläger vorliegend lediglich 14
Tage Dauerarrest ableistete entsprach es damit auch nicht dem Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II, ihn für diesen
kurzen, zeitlich von vornherein begrenzten Zeitraum einem anderen Leistungsträger als der Beklagten zuzuordnen.
Eine dem § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II entsprechende Ausnahmevorschrift für richterlich angeordnete
Freiheitsentziehungen sieht das SGB II nicht vor. Eine solche Ausnahmevorschrift ist systematisch auch nicht
erforderlich, da eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung in der Regel eine Haft von mindestens 6 Monaten
voraussetzt. Im Rahmen von Haftstrafen nach dem Strafgesetzbuch (StGB) ergibt sich dies aus § 47 Abs. 1 StGB.
Für die Jugendstrafe als Haftstrafe ergibt sich dies aus § 18 Abs. 1 Satz 1 JGG. Insofern wäre es überflüssig
gewesen, in § 7 Abs. 4 SGB II eine Ausnahme vom Leistungsausschluss für einen richterlich angeordnete
Freiheitsentzug von weniger als 6 Monaten einzuführen (vgl. hierzu auch SG Bremen, Beschluss vom 26. Juni 2009,
S 26 AS 1118/09 ER, Rn. 17). Schließlich spricht auch dies spricht dafür, dass Freiheitsentziehungen von weniger als
6 Monaten, wie im vorliegenden Fall eines Jugendarrestes, generell nicht vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4
Satz 2 SGB II umfasst sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143, 144 Abs. 2 SGG.
Die Berufung war durch das Gericht zuzulassen, da die Klärung des Verhältnisses zwischen Jugendarrest nach § 16
JGG und einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des §
144 Abs. 2 Nr. 1 SGG ist. Soweit ersichtlich ist diese Rechtsfrage in der Rechtsprechung bislang noch nicht geklärt.
Die Klärung der Rechtsfrage liegt indes im allgemeinen Interesse und nicht lediglich im Individualinteresse der
Beteiligten, da aufgrund der behandelten Lebenssituation in der Zukunft mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle zu
rechnen ist. Unabhängig von der Berufungssumme war die Zulassung der Berufung daher geboten, auch um eine
einheitliche Rechtsprechung in dieser Frage sicherzustellen.