Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 18.01.2010

SozG Gelsenkirchen (nachzahlung, bedürftigkeit, einkommen, sozialhilfe, kürzung, sgg, buch, höhe, antragsteller, folge)

Sozialgericht Gelsenkirchen, S 12 AY 43/09
Datum:
18.01.2010
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 12 AY 43/09
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 23.07.2009 und der
Widerspruchsbescheid vom 23.09.2009 werden abgeändert und die
Beklagte wird verurteilt, die der Klägerin bewilligte Nachzahlung
entsprechend dem für sie geltenden Regelsatzbetrag ungekürzt zu
zahlen abzüglich der bereits erhaltenen Leistungen nach AsylbLG. Die
Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die ungekürzte Nachzahlung von im Wege des
§ 44 SGB X nachträglich bewilligten Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) in analoger Anwendung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches Zwölftes
Buch (SGB XII).
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Die 1984 geborene Klägerin hält sich seit März 1992 in der Bundesrepublik auf. Sie
bezog bis Ende Februar 2005 Leistungen nach § 3 AsylbLG.Nach Verheiratung wurde
ihr am 3.02.2005 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Derzeit bezieht sie Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts gemäß SGB II. Ihrem Überprüfungsantrag vom
03.04.2009 auf rückwirkende Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG entsprach
die Beklagte am 23.07.2009, indem sie der Klägerin für den Zeitraum vom 01.01.2005
bis 28.02.2005 eine Nachzahlung von 62,10 EUR bewilligte, die allerdings wegen der
Kostenübernahme für einen Kleiderschrank für 70 EUR nicht zur Auszahlung kamen.
Bei der Berechnung billigte die Beklagte der Klägerin nicht den vollen Differenzbetrag
zwischen dem Regelsatz nach § 28 SGB XII und den bereits erhaltenen Leistungen
nach AsylbLG zu. Stattdessen nahm sie zahlreiche Abzüge vom Regelsatzbetrag vor
unter Hinweis auf den "Aktualitätsgrundsatz" und jetzt nicht mehr bestehende und
darum hinsichtlich einzelner Regelsatzpositionen nicht mehr zu deckende Bedarfe. Den
dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 22.09.2009 zurück.
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Mit der am 28.10.2009 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter.
Unter Berufung auf BSG-Rechtsprechung vertritt sie die Ansicht, dass eine Kürzung des
Regelsatzes rechtswidrig sei.
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Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 23.07.2009 und den Widerspruchsbescheid
vom 23.09.2009 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die der Klägerin bewilligte
Nachzahlung entsprechend dem für sie geltenden Regelsatzbetrag ungekürzt zu zahlen
abzüglich der bereits erhaltenen Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz.
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Ihrer Ansicht nach erfordert der Aktualitätsgrundsatz die von ihr vorgenommene
Kürzung, weil es nicht Aufgabe der Sozialhilfe sei, nachträglich Leistungen zu
erbringen, wenn der Bedarf nicht mehr bestehe.
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Neben den Gerichtsakten haben der Kammer die den Kläger betreffenden
Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der
Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie ist auch in
der Sache selbst begründet. Die angefochtene Verwaltungsentscheidung ist
rechtswidrig und die Klägerin ist dadurch im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG
beschwert. Die Beklagte hat zu Unrecht die der Klägerin in analoger Anwendung der
Vorschriften des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) zustehenden
Regelsatzleistungen nur gekürzt ausgezahlt.
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Der Streit über die Befugnis der Beklagten zur Kürzung bestimmter Regelsatzanteile
beruht auf missverständlichen Ausführungen des Bundessozialgerichts zum
"Aktualitätsgrundsatz". Das Bundessozialgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung
vom 17.06.2008 (B 8 AY 5/06) die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im
Asylbewerberleistungsrecht bejaht und hat zugleich unter Rdn. 16 betont, dass ggf
Bedarfe, die durch das SGB XII hätten gedeckt werden müssen, mittlerweile entfallen
sein könnten. In weiteren Entscheidungen vom 17.06.2008 (B 8/9b AY 1/07 R Rdn 19; B
8 AY 9/07 R Rdn 19; B 8 AY 11/07 R Rdn 15; B 8 AY 12/07 R Rdn 16; B 8 AY 13/07 R
Rdn 16) hat der 8. Senat darauf hingewiesen, dass der "Aktualitätsgrundsatz" zur Folge
hat, dass nicht mehr bestehende Bedarfe nicht mehr zu decken sind. Diese
Ausführungen sind von zahlreichen Verwaltungsträgern, vom LSG Berlin in seiner
Entscheidung vom 16.09.2009 (L 23 AY 8/09 B PKH) wie auch vom Vorsitzenden der
12. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen dahingehend missverstanden worden,
dass keine Nachzahlungen zu leisten seien, wenn ein Bedarf für bestimmte
Regelsatzbestandteile durch Zeitablauf entfallen war.
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Das Urteil des BSG vom 17.06.2008 (B 8 AY 5/06) enthielt allerdings bereits unter Rdn
16 den (wenig erhellenden) Satz: "Bei dem erforderlichen Vergleich ist ohne Bedeutung,
ob den Klägern nach den §§ 3 ff AsylbLG Einmalleistungen gewährt wurden, die bei
entsprechender Anwendung des SGB XII durch Pauschalleistungen abgegolten
würden." Was der 8. Senat des BSG damit sagen wollte, wurde auch noch nicht durch
seine Entscheidung vom 26.08.2008 in B 8 SO 26/07 R deutlich, wo er hinsichtlich
Grundsicherungsleistungen ausführte (Rdn 23), dass "sich vorliegend das Problem des
Bedarfswegfalls wohl nicht stellt, weil die Gewährung von Pauschalen nicht nur zum
aktuellen, sondern auch vergangenheitsbezogenen und zukunftsorientierten Haushalten
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zwingt". Mit seinem Urteil vom 29.09.2009 (B 8 SO 16/08 R) hat der 8. Senat des BSG
dann aber unmissverständlich seine Rechtsansicht zum Ausdruck gebracht, dass bei
pauschalierten Leistungen wie dem Regelsatz grundsätzlich nicht von einer
anderweitigen Bedarfsdeckung ausgegangen werden kann, es sei denn, dass der
Antragsteller inzwischen Einkommen erzielt oder Vermögen erworben hat.
Das BSG hat dazu unter Rdn 19 und 20 ausgeführt: "Besteht Bedürftigkeit iS des SGB
XII oder (inzwischen) des SGB II ununterbrochen fort, sind Sozialhilfeleistungen im
Wege des § 44 Abs. 4 SGB X (nachträglich) zu erbringen, weil der Sozialhilfeträger bei
rechtswidriger Leistungsablehnung nicht dadurch entlastet werden darf, dass der Bedarf
anderweitig gedeckt wurde. Die Sozialhilfe kann ihren Zweck noch erfüllen, weil an die
Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten
ist.
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Dabei bedarf es bei pauschalierten Leistungen, die - wie der Regelsatz - typisierend von
einer Bedarfsdeckung ausgehen und nicht nur die Höhe des nachzuweisenden Bedarfs
typisierend pauschalieren, nicht des Nachweises anderweitiger Bedarfsdeckung, wenn
sie nicht nur der Befriedigung eines aktuellen, sondern auch eines zukünftigen und
vergangenen Bedarfs dienen (vgl Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 40 RdNr 3f).
Diese Pauschalen ...sind bei fortdauernder Bedürftigkeit im Rahmen von § 44 Abs 4
SGB X nachzuzahlen."
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Unter Rdn 21 hat das BSG dann noch klargestellt, dass eine Nachzahlung bei
pauschalierten Leistungen allerdings dann abzulehnen ist, wenn die Bedürftigkeit bis
zur letzten Tatsacheninstanz entfallen ist, weil der Antragsteller entsprechendes
Einkommen erzielt oder Vermögen erworben hat.
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Die 12. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen schließt sich dieser Rechtsprechung
des 8. Senats des BSG an. Dieser Rechtsprechung ist zuzustimmen, weil sie das
Wesen von Pauschalleistungen angemessen berücksichtigt und zudem eine erhebliche
praktische Vereinfachung darstellt. Da die Klägerin derzeit nur Leistungen nach SGB II
bezieht, ist ihre Bedürftigkeit auch nicht durch erzieltes Einkommen oder durch
erworbenes Vermögen entfallen. Dementsprechend steht ihr die Nachzahlung in Höhe
des für sie geltenden Regelsatzes ungekürzt zu und die Beklagte war entsprechend zu
verurteilen.
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Die Kostenentscheidung der nach alledem begründeten Klage beruht auf § 193 SGG.
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