Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 08.11.2005

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Sozialgericht Gelsenkirchen, S 12 RJ 123/04
Datum:
08.11.2005
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 12 RJ 123/04
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 und der Bescheid vom
27.10.2005 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Klägerin
in der Zeit vom 01.11.1999 bis zum 08.09.2004 gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a
SGB VI in der Rentenversicherung versicherungspflichtig war. Die
Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
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Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen die Beklagte Anspruch auf
Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson
hat.
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Die Klägerin pflegt ihren 1952 geborenen Sohn P, für den seit der Geburt die
Pflegestufe I anerkannt ist. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer
Begutachtung ihres Sohnes durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
(MDK) im Hinblick auf die Höhe der Pflegestufe stellte die Klägerin am 12.01.2000 bei
der Beigeladenen den Antrag auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen. Der
Gutachter des MDK war in diesem Gutachten vom 08.12.1999 zu dem Ergebnis gelangt,
dass bei dem Sohn der Klägerin insgesamt ein Hilfebedarf in Höhe von 92 Minuten am
Tag bestehe und dass der Hilfeaufwand mehr als 14 Stunden in der Woche betrage. Mit
formlosem Schreiben vom 19.01.2000 teilte die Beigeladene der Klägerin mit, dass sie
für die Zeit, in der sie die Pflege leiste, gesetzlich rentenversichert sei und die
Beigeladene sie deshalb zum 01.11.1999 bei ihrem Rentenversicherungsträger
angemeldet habe.
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Am 02.03.2004 wandte sich die Beigeladene erneut schriftlich an die Klägerin und teilte
ihr mit, dass sich bei einer hausinternen Überprüfung Differenzen zwischen der von ihr
in ihrem Antrag vom 12.01.2000 auf Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen
gemachten Angaben und den Feststellungen des MDK in seinem Gutachten vom
19.11.2001 ergeben habe. Bei dieser Begutachtung habe der Gutachter eine
Pflegeleistung von weniger als 14 Stunden wöchentlich festgestellt. Daher müsse die
Beitragszahlung für die Klägerin eingestellt werden.
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In ihrer schriftlichen Äußerung vom 22.03.2004 trug die Klägerin vor, dass ihre
Pflegeleistungen mehr als 14 Stunden pro Woche betrage.
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Die Beigeladene gab das Verwaltungsverfahren an die Beklagte zur Entscheidung über
die Rentenversicherungspflicht der Klägerin ab. Mit Bescheid vom 22.06.2004 teilte die
Beklagte der Klägerin mit, dass ihr Antrag bei der AOK auf Zahlung von
Rentenversicherungsbeiträgen als Pflegeperson für die Zeit ab 01.11.1999 abgelehnt
werde, da die Pflegetätigkeit unter 14 Stunden pro Woche liege.
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Mit ihrem Widerspruch vom 06.07.2004 machte die Klägerin im wesentlichen geltend,
dass sie Pflegeleistungen in Höhe von sieben Stunden täglich erbringe. Zur weiteren
Aufklärung zur Frage des zeitlichen Umfangs der von der Klägerin erbrachten Pflegelei-
stungen holte die Beigeladene auf Bitten der Beklagten ein weiteres Gutachten des
MDK ein. Der Gutachter C untersuchte den Sohn der Klägerin in seiner häuslichen
Umgebung und gelangte in seinem Gutachten vom 13.09.2004 zu der Feststellung,
dass im Bereich von Grundpflege und Hauswirtschaft insgesamt ein Hilfebedarf von 134
Minuten im Tagesdurchschnitt vorliege und dass die Pflegeleistungen weniger als 14
Stunden pro Woche betragen würden. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin
mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2004 mit der Begründung zurück, dass der
Pflegeaufwand weniger als 14 Stunden in der Woche betrage.
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Mit ihrer am 24.12.2004 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur
Begründung trägt sie vor, dass der wöchentliche Pflegeaufwand aufgrund des
Gutachtens des MDK vom 13.09.2004 wegen des täglichen Hilfebedarfs von 134
Minuten rechnerisch über 14 Stunden pro Woche liege. Zudem seien die in dem
Gutachten angegebenen Pflegezeiten und Pflegetätigkeiten nicht korrekt.
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Unter dem 27.10.2005 erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin einen weiteren
Bescheid, in dem sie feststellte, dass von der Beigeladenen in der irrtümlichen
Annahme der Versicherungspflicht von Entgelten Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung gezahlt wurden. Diese zu Unrecht entrichteten Beiträge seien nach
§ 26 Abs. 2 SGB IV zu erstatten. Dieser Bescheid würde gemäß § 96 SGG zum
Gegenstand des Klageverfahrens.
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Nachdem sich die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung bereit erklärt hat
festzustellen, dass die Klägerin ab dem 09.09.2004 gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI in
der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist und die Klägerin dieses
Teilanerkenntnis angenommen hat, beantragt die Klägerin nunmehr nur noch,
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den Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
24.11.2004 und den Bescheid vom 27.10.2005 aufzuheben und festzustellen, dass sie
ab dem 01.11.1999 bis zum 08.09.2004 gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1a SGB VI in der
Rentenversicherung rentenversicherungspflichtig war.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist bei ihrer im Verwaltungsverfahren vertretenen Auffassung verblieben und
verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 24.11.2004.
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Die Beigeladene beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen der Versicherungspflicht nicht erfüllt
sind, da der Umfang der Pflegetätigkeit nicht regelmäßig wenigstens 14 Stunden
wöchentlich ausmache.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 22.06.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 und der Bescheid vom 27.10.2005 sind
rechtswidrig und die Klägerin wird durch sie beschwert, da die Klägerin in der
gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a des Sechsten Buches des
Sozialgesetzbuches (Gesetzliche Rentenversicherung) – SGB VI –
versicherungspflichtig ist.
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1. Die Klägerin wendet sich zum einen gegen den Bescheid vom 22.06.2004 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.11.2004 in dem festgestellt wird, dass
ihre Versicherungspflicht gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI in der Rentenversicherung
ab 1999 nicht bestand. Für die Frage der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides
kommt es entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten und der Beigeladenen nicht
auf die Frage an, ob die Klägerin ihren Sohn mehr als 14 Stunden in der Woche pflegte
und deswegen gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI Anspruch auf Anerkennung ihrer
Versicherungspflicht hat. Der angegriffene Bescheid ist vielmehr schon deswegen
rechtswidrig, weil die Versicherungspflicht der Klägerin bereits bestandskräftig
festgestellt ist. Vorliegend ergibt sich die Versicherungspflicht der Klägerin aus dem
Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000, in dem diese ihr mitgeteilt hat, dass sie
für die Zeit, in der sie Pflege leistet, gesetzlich rentenversichert ist. Dieses Schreiben hat
eine entsprechende rechtliche Position der Klägerin begründet. Denn ein subjektives
öffentliches Recht (wie hier die Anerkennung als versicherungspflichtige Pflegeperson)
kann auch durch einen Verwaltungsakt begründet werden. Dies ergibt sich aus § 45
Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (Sozialverwaltungsverfahren und
Sozialdatenschutz) – SGB X –. Das Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000 stellt
einen solchen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X dar. Es handelt sich dabei um
eine einseitige hoheitliche Regelung durch einen Hoheitsträger zur Regelung eines
Einzelfalles. Eine Regelung in diesem Sinne ist jede Begründung, Aufhebung,
Änderung oder bindende Feststellung eines bindenden Rechts oder einer Pflicht des
Betroffenen (Schroeder-Printzen in Schroeder-
Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, Sozialgesetzbuch, Verwaltungsver-
fahren – SGB X, Kommentar, 3. Auflage 1996, § 31, Rdn. 20). Eine Regelung liegt dabei
nur vor, wenn die Behörde auch den Willen hat, verbindlich festzulegen, was für den
Einzelnen Rechtens sein soll (Schroeder-Printzen, a.a.O.). Ist zweifelhaft, ob ein solcher
Regelungswille der Verwaltung vorliegt, ist das fragliche Schriftstück unter
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entsprechender Anwendung der Grundsätze über die Auslegung von
Willenserklärungen auszulegen, wobei maßgeblich auf den Empfängerhorizont
abzustellen ist (BSG, SozR 4100, § 117 Nr. 21; Krasney in Kasseler Kommentar, § 31,
Rdn.11; Schroeder-Printzen, a.a.O.). Maßgeblich ist, ob nach dem Erklärungswert der
Maßnahme eine hoheitliche Regelung gewollt ist. Die Qualifikation einer Erklärung
einer Behörde als Verwaltungsakt ist danach zu bestimmen, wie der Empfänger der
Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles zu deuten
hatte (BSG, SozR 5755, Art. 2, § 1, Nr. 3), wobei die äußere Form der Maßnahme
mitentscheidend ist, z. B. die Bezeichnung eines Schreibens als "Bescheid" oder die
Mitteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung (Schroeder-Printzen, a.a.O., Rdn. 22, BSGE
10, 263; 19, 124). Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Beigeladene
mit Schreiben vom 19.01.2000 den Willen zum Ausdruck gebracht hat, die
Versicherungspflicht der Klägerin verbindlich festzustellen. Denn bis zur Entscheidung
des Bundessozialgerichts vom 22.03.2001, Az.: B 12 P 3/00 R sind die
Rentenversicherungsträger, die Träger der Pflegeversicherung und nicht zuletzt die in
diesen Rechtsfragen erkennenden Sozial- und Landessozialgerichte davon
ausgegangen, dass die Beigeladene zur Entscheidung über die Versicherungspflicht
befugt ist. Jedenfalls musste die Klägerin das Schreiben der Beigeladenen so
verstehen, dass diese verbindlich ihre Versicherungspflicht feststellen wollte. Denn sie
hatte eine Woche zuvor, nämlich am 12.01.2000, mit ihrem Antrag auf Zahlung der
Beiträge gerade diese Rechtsfolge herbeiführen wollen. Unschädlich ist, dass die
Mitteilung der Beigeladenen formlos und ohne Rechtsbehelfsbelehrung erfolgte. Aus
diesem Umstand musste die Klägerin nicht schließen, dass sich die Beigeladene
rechtlich nicht binden wollte. Denn ihrem Antrag war in vollem Umfang stattgegeben
worden, so dass eine Rechtsbehelfsbelehrung sinnentleert gewesen wäre. Vielmehr
wies das Schreiben der Beigeladenen vom 19.01.2000 den gleichen Aufbau und die
gleichen Formulierungen auf wie das Schreiben vom 28.12.1999, mit dem dem Sohn
der Klägerin das Pflegegeld bewilligt wurde: Zunächst stellte die Beigeladene fest, dass
die Voraussetzungen für die Pflegestufe I vorliegen bzw. dass die Klägerin gesetzlich
rentenversichert ist. Dann wird mitgeteilt, dass das Pflegegeld bzw. die Beiträge gezahlt
werden.
Dieser die Versicherungspflicht der Klägerin begründete Verwaltungsakt ist auch
wirksam. Gemäß § 39 Abs. 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und
soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch
Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Es ist somit unschädlich, dass für die
Entscheidung über die Versicherungspflicht nicht die Beigeladene, sondern die
Beklagte zuständig ist, denn auch ein formell rechtswidriger Bescheid kann in
Bestandskraft erwachsen. Der Verwaltungsakt der Beigeladenen ist auch nicht
deswegen gemäß § 39 Abs. 3 SGB X unwirksam, weil er nach der Vorschrift des § 40
SGB X nichtig ist. Zwar hat nicht die für die Feststellung der Versicherungspflicht
eigentlich zuständige Beklagte, sondern die Beigeladene den die Versicherungspflicht
begründenden Verwaltungsakt erlassen. Dieser Fehler ist jedoch nicht im Sinne des §
40 Abs. 1 SGB X bei verständiger Würdigung offenkundig. Denn bis zur Entscheidung
des Bundessozialgerichts vom 22.03.2001, Az.: B 12 P 3/00 R sind die
Rentenversicherungsträger, die Träger der Pflegeversicherung und nicht zuletzt die in
diesen Rechtsfragen erkennenden Sozial- und Landessozialgerichte davon
ausgegangen, dass die Beigeladene zur Entscheidung über die Versicherungspflicht
befugt ist.
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a) Der Verwaltungsakt der Beigeladenen vom 19.01.2000 wurde nicht durch den
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Bescheid vom 22.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
24.11.2004 aufgehoben. Laut Verfügungssatz wurde in diesen Bescheiden durch die
Beklagte lediglich festgestellt, dass der Antrag vom 01.11.1999 abgelehnt wird, weil die
Versicherungspflicht nicht bestehe. Diese Verwaltungsakte treffen jedoch keine
Aussage darüber, dass die bereits bestehende Versicherungspflicht entfallen soll. b) Die
Feststellung der Versicherungspflicht der Klägerin verliert ihre Wirksamkeit auch nicht
durch den Bescheid der Beklagten vom 27.10.2005. Denn auch dieser Bescheid enthält
keinen Verfügungssatz, dass die bereits bestehende Versicherungspflicht aufgehoben
wird.
2. Auch der gemäß § 96 SGG Teil des Verfahrens gewordene Bescheid der Beklagten
vom 27.10.2005 ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 des Vierten
Buches des Sozialgesetzbuches (Gemeinsame Vorschriften über die
Sozialversicherung) – SGB IV – nicht vorliegen. Wie bereits ausgeführt lag die
Versicherungspflicht der Klägerin aufgrund des Verwaltungsaktes der Beigeladenen
vom 19.01.2000 vor, so dass die Beiträge jedenfalls nicht zu Unrecht geleistet wurden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den § 193 SGG.
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