Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 22.05.2006

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Sozialgericht Gelsenkirchen, S 10 U 144/05
Datum:
22.05.2006
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 10 U 144/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 17 U 137/06
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 02.05.2005 und der
Widerspruchsbescheid vom 17.08.2005 werden aufgehoben und die
Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger anlässlich des vor dem
13.02.2005 erlittenen Sturzes entstandenen Behandlungskosten zu
übernehmen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen
Kosten des Klägers.
Tatbestand:
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Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten, die ihm für
Behandlungsmaßnahmen entstanden sind nach einem Sturz, den er als Folge seines
früheren Arbeitsunfalls ansieht.
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Der Kläger erlitt bei einem Arbeitsunfall am 11.08.1978 ein schweres
Schädelhirntrauma. Am 29.09.1984 kam es zu einem ersten epileptischen Krampfanfall
bei chronischem Alkoholmissbrauch. Die Anfälle traten laut einem Gutachten von M vom
15.07.87 im Abstand von einigen Wochen auf. Laut dem Gutachten von C1 vom
19.03.96 kam es zu mindestens 6 - 8 nächtlichen Anfällen pro Monat. Entsprechend
diesem Gutachten bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 09.06.1996
höhere Verletztenrente entsprechend einer MdE um 70 v. H. Der Kläger gab etwa zu
dieser Zeit das Trinken auf und die behandelnden Ärzte C2 (Bl. 655 bis 660, 667, 669)
und ab 1998 L1 berichteten der Beklagten auf Anfrage über Anfälle und dabei erlittene
Sturzverletzungen. L berichtete der Beklagten am 02.04.1998 , dass Anfälle nahezu
täglich nachts auftreten würden und am 29.03.2001, dass die Anfälle nur noch selten
aufträten. L1 gab am 17.09.2001 an, dass der Kläger weitgehend anfallsfrei sei bei
optimal eingestellte Epilepsie. In der Folgezeit sprach L1 am 21.02.2002 von völliger
Anfallsfreiheit, am 17.09.2003 von Stabilisierung bei Anfallsfreiheit und am 16.02.2004
von einem gebesserten Allgemeinzustand ohne Anzeichen für erhöhte
Anfallsbereitschaft. Der Kläger sei anfallsfrei seit 24.12.2003. Dagegen ging I in seinem
Gutachten vom 27.03.2001 in der Streitsache S 00 U 000/00 von 2 bis 4 Anfällen pro
Woche aus. Der Bruder des Klägers informierte die Beklagte am 11.11.2002, dass der
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Kläger häufig gestürzt und bewusstlos aufgefunden worden sei. Am 23.12.2002 teilte er
mit, dass der Kläger dauernd "umkippt".
Am 13.02.2005 wurde der Kläger in seiner Wohnung nach einem zuvor erlittenen Sturz
bewusstlos aufgefunden und musste wegen Schädelhirntrauma längere Zeit stationär
behandelt werden. Der Kläger konnte keine Angaben über die Ursachen seines Sturzes
machen. X als behandelnder Arzt im Krankenhaus hielt einen Krampfanfall als Ursache
des Sturzes nicht für wahrscheinlich wegen vieler anderer denkbarer Möglichkeiten.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.05.2005 eine Kostenübername ab
mit der Begründung, dass die Ursache des Sturzes sich nicht habe feststellen lassen.
Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs gab der Kläger an, dass er
zuletzt einmal pro Woche einen Anfall gehabt habe und dass er aufgefunden worden sei
mit Tabletten neben sich, wie er sie bei Anfällen habe einnehmen sollen. L1 in seiner
Eigenschaft als Beratungsarzt der Beklagten hielt in einer Stellungnahme vom
30.06.2005 einen Unfallzusammenhang ebenfalls für unwahrscheinlich.
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Die Beklagte wies daraufhin den Rechtsbehelf des Klägers mit Widerspruchsbescheid
vom 17.08.2005 zurück.
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Hier gegen richtet sich die am 26.08.2005 erhobene Klage. Der Kläger beruft sich auf
das Ergebnis der vom Gericht durchgeführten Beweisaufnahme und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 02.05.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 17.08.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
die ihm anlässlich des vor dem 13.02.2005 erlittenen Sturzes entstandenen
Behandlungskosten zu übernehmen,
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Sie nimmt Bezug auf die Begründung ihrer Verwaltungsentscheidung sowie auf eine
von ihr vorgelegte nervenärztliche Stellungnahme von W vom 13.04.2006. Dieser Arzt
meint, dass die Epilepsie nur eine von mehreren in Betracht kommenden Ursachen sei.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholen eines neurologischen Gutachtens von
L2 aus S. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das den Beteiligten in
Abschrift übermittelten Gutachten vom 21.12.2005 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den
Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten. Alle
diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. Sie musste
auch in der Sache selbst zum Erfolg führen. Die angefochtene
Verwaltungsentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und der Kläger dadurch im
Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Der Kläger hat Anspruch auf Übernahme
der ihm für die Behandlung der Sturzfolgen nach dem 13.02.2005 entstandenen Kosten,
weil der Sturz Folge des Krampfanfallsleidens ist, welches als Folge des Arbeitsunfalls
vom 11.08.1978 anerkannt ist.
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Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus den Darlegungen des
Gerichtssachverständigen L2 in seinem Gutachten von 21,12. 2005. Danach kommt als
einzige Sturzursache ein Krampfanfall im Rahmen der posttraumatischen Epilepsie in
Betracht. Zwar ist der genaue Hergang, der zu dem hier fraglichen Sturzereignis führte,
nicht bekannt, weil es dafür keine Zeugen gibt. Nach der Lebenserfahrung besteht für
das Gericht aber kein Anlass daran zu zweifeln, dass der Kläger einen Krampfanfall
erlitten hat, der zu dem Sturz führte. Denn bereits vorher hatte sich der Kläger bei
zahlreichen Krampfanfällen häufiger verletzt, so dass die Vorgeschichte dafür spricht,
dass der Kläger vor dem Auffinden am 13.02.2005 wieder einmal einen Krampfanfall
erlitten hatte. Gegen eine Krampfanfall spricht auch nicht, dass der Kläger nach
mehreren Berichten seines behandelnden Arztes L1, der zugleich als Beratungsarzt für
die Beklagte fungiert, schon längere Zeit anfallfrei war. Es spricht alles dafür, dass es
sich hier um eine Fehleinschätzung seiner eigenen Behandlungserfolge durch L1
handelt. Denn der Betreuer des Klägers hatte schon vor dem hier streitigen Ereignis
mehrfach gegenüber der Beklagten zum Ausdruck gebracht, dass die Epilepsie bei
seinem Halbbruder keineswegs optimal eingestellt sei. Stattdessen stürze der Kläger
häufig und er habe ihn öfter bewusstlos aufgefunden. Auch I war in seinem Gutachten
für die 13. Kammer des Sozialgerichts der optimistischen Einschätzung von L1 nicht
gefolgt und hatte eine Befundverbesserung verneint. Die Kammer geht daher davon
aus, dass auch im Jahr 2005 noch vereinzelte Krampfanfälle auftraten und dass der
Kläger vor seinem Sturz einen solchen Anfall erlitten hat.
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Die Beklagte kann dem nicht entgegen halten, dass auch andere Möglichkeiten als
Ursache des Sturzes in Betracht kommen würden. Denn bei der Abwägung, welche
Faktoren als Ursache in Betracht zu ziehen sind, dürfen nur solche Ursachen überhaupt
berücksichtigt werden, die mit Sicherheit, also zweifelsfrei nachgewiesen sind. Für eine
beim Kläger bestehende Sturzanfälligkeit wegen Alkoholkrankheit oder Alkoholentzug
oder wegen eines Herz-Kreislaufleidens mit Neigung zu Ohnmachtattacken gibt es aus
den vorliegenden Akten nicht den geringsten Anhaltspunkt. Der Kläger trinkt seit
mindestens 10 Jahren keinen Alkohol mehr und man darf nicht zu seinem Nachteil
unterstellen, dass er sich ausgerechnet vor seinem Sturz wohl betrunken hat.
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Es gibt auch keine Hinweis darauf, dass der Kläger damals übermüdet gewesen ist oder
dass wegen einer Gehbehinderung oder einer Sehbeeinträchtigung eine Neigung zum
Stolpern bestand. Die Argumentation von W in der von der Beklagten vorgelegten und
als Parteivortag zu wertenden Stellungnahme vom 13.04.2006 erweist sich als reine
Spekulation, die das Gericht nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen kann.
Dieser Arzt, der als Sachverständiger in der Sozialgerichtsbarkeit sehr renommiert ist,
benennt in seiner Stellungnahme keine einzige Alternativursache, die mit der hier zu
fordernden Sicherheit nachgewiesen ist. Bloß mögliche Alternativursachen müssen bei
der Abwägung des ursächlichen Zusammenhangs neben dem als Unfallfolge
anerkannten posttraumatischen Anfallsleiden jedoch unberücksichtigt bleiben.
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Die Kostenentscheidung der Klage beruht auf § 193 SGG.
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