Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 27.08.2008

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Sozialgericht Gelsenkirchen, S 10 U 160/07
Datum:
27.08.2008
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 10 U 160/07
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten wegen der Veranlagung des Klägers zum Gefahrtarif 2007 der
Beklagten und der Höhe der Beiträge für das Jahr 2007.
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Der Kläger ist ein in der Rechtsform des eingetragenen Vereins betriebener
Zusammenschluss von Mietern und Pächtern. Gemäß seiner Satzung ist der Verein
parteipolitisch und konfessionell neutral und bezweckt: 1.Den Zusammenschluss aller
Mieter und Pächter mit dem Ziel, die Mitglieder vor Benachteiligung in Mietwohnungs-
und Pachtrecht zu schützen und für das gesamte Miet,- Wohnungs,- und Pachtwesen
die Wahrnehmung der rechtlich verbürgten Interessen zu gewährleisten; 2.Die
Vertretung der berechtigten Belange der Mitglieder im Rahmen dieser Satzung
gegenüber Haus- und Wohungseigentümern, Verwaltern, Verpächtern, auch vor
Behörden und Gerichten, vor Gericht jedoch nur im Rahmen der Vorstandsbeschlüsse
und sofern eine Vertretung durch den Verein zulässig ist; 3.Die Schaffung von
Einrichtungen, die der Information, Beratung und Betreuung der Mitglieder dienen; 4.Die
Einwirkung auf die gesetzgebenden Organe und die öffentliche Meinung zur Förderung
der Ziele der Vereine insbesondere einer sozialen Wohnungswirtschaft.
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Mit Bescheid vom 27.06.2007 veranlagte die Beklagte den Kläger im Rahmen des ab
01.01.2007 geltenden neuen Gefahrtarifs entsprechend der Gefahrtarifstelle 15
(Unternehmensart: Zusammenschluss zur Verfolgung gemeinsamer Interessen) mit der
Gefahrklasse 1,36.
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Den von dem Kläger hiergegen eingelegten Widerspruch vom 02.10.2007 begründete
er damit, dass sein Unternehmen nicht der Gefahrtarifstelle 15 (Zusammenschluss zur
Verfolgung gemeinsamer Interessen), sondern der Gefahrstelle 8 (rechts- und
wirtschaftsberatende Unternehmen) unterfällt, sodass die Gefahrklasse nicht auf 1,36,
sondern auf 0,44 festzusetzen sei.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.2007 wies die Beklagte den Widerspruch des
Klägers zurück unter Hinweis darauf, dass der Gefahrtarifstelle 15 Unternehmen
zugeordnet seien, die der Wahrnehmung und Förderung insbesondere ideeller und
persönlicher Interessen dienen, bei denen der wirtschaftliche Erfolg nicht im
Vordergrund stehe.
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Hiergegen richtet sich die am 24.12.2007 beim Sozialgericht Gelsenkirchen
eingegangene Klage des Klägers, mit der der Kläger seinen Anspruch weiter verfolgt. Er
ist der Auffassung, dass die Beklagte nicht nachvollziehbar belegt habe, auf welchen
Einzelkriterien die Entscheidung beruhe. Das System der Berufsgenossenschaften sei
im Hinblick auf europarechtliche Normen überdies äußerst fraglich und scheine die
Grenzen zur Verfassungswidrigkeit überschritten zu haben. Die Kriterien der Bewertung
bei der Einstufung müssten bekannt sein. Hier geschehe das nicht. Insbesondere sei
nicht einzusehen, aus welchem Grunde Zusammenschlüsse von Arbeitnehmen oder
Bürgern einer bestimmten politischen Gruppe (Gewerkschaften bzw. Parteien) in die
Gefahrtarifstelle 11 eingestuft werden, wobei gerade diese Zusammenschlüsse in erster
Linie in der Öffenlichkeit auftreten und gerade hier auch massiv körperlich - z. B. bei
Protestaktionen - tätig seien. Aufgrund der rechtsberatenden Tätigkeit der Mietervereine
müsse auch eine Gleichstellung bei der Einordnung in Gefahrtarifstellen
Berücksichtigung finden.
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Ungeachtet des Hinweises der Kammer zur Stellung eines sachgerechten Antrags in
der mündlichen Verhandlung stellt der Vertreter des Klägers den Antrag,
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unter Aufhebung des Bescheides vom 27.06.2007 in der Form des
Widerspruchsbescheides vom 26.11.2007 die Beklagte zu verurteilen, den Gefahrtarif
2007 mit der Gefahrklasse 1,36 insgesamt aufzuheben und den Kläger erneut zu
bescheiden; hilfsweise den Kläger in die Gefahrtarifstelle 11 (wirtschaftliche und
politische Interessenvertretung) zu veranlagen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass ihr Bescheid der Sach- und Rechtslage entsprechend
rechtmäßig sei.
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Das Gericht hat den Gefahrtarif 2007 der Beklagten in seiner vollständigen Fassung
beigezogen. Im übrigen nimmt das Gericht auf den Inhalt der Gerichts- und
Verwaltungsakten und der vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten, die sämtlich
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug.
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Entscheidungsgründe:
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Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der
Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert, weil dieser nicht
rechtswidrig ist (§ 54 Abs. 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz)). Im vorliegenden Fall bedarf
der vom Kläger gestellte Antrag der Auslegung, da der Kläger trotz eines
entsprechenden Hinweises des Gerichts an seinem Antrag festgehalten hat.
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Soweit der Kläger beantragt hat, den Gefahrtarif 2007 mit der Gefahrklasse 1,36
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insgesamt aufzuheben, ist dieser Antrag unzulässig. Eine Beschwer ist lediglich durch
den angefochtenen Verwaltungsakt gegeben, nicht jedoch durch die Existenz des
Gefahrentarifes mit der Gefahrklasse 1,36. Das Begehren des Klägers, den Gefahrtarif
insgesamt aufzuheben, stellt sich als ein unzulässiges Popularklagebegehren dar.
Soweit der Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 27.06.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26.11.2007 hilfsweise beantragt, ihn in die
Gefahrtarifstelle 11 (wirtschaftliche und politische Interessenvertretung) zu veranlagen,
bedarf der Antrag der Auslegung. Die Kammer legte den Antrag dahingehend aus, dass
der Kläger beantragen wollte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.06.2007 in der
Form des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2007 die Beklagte zu verurteilen, die
Einstufung des Klägers in die Gefahrtarifstelle 15 unter Berücksichtigung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. In diesem Sinne ist die Klage
zulässig, jedoch nicht begründet.
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Gem. § 157 SGB VII Abs. 1 Satz 1 setzt der Unfallversicherungsträger als autonomes
Recht einen Gefahrtarif fest. Als autonom gesetztes objektives Rechts ist der Gefahrtarif
nur darauf überprüfbar, ob er mit dem Gesetz, das die Ermächtigungsgrundlage
beinhaltet umd mit sonstigem höherrangigen Recht vereinbar ist. De
Unfallversicherungsträger hat im Rahmen der rechtlich zulässigen Regeln einen weiten
inhaltlichen Regelungsspielraum (BSG-E 27, 240 vgl. LSG NRW - Urteil vom
15.01.2003 - L 17 U 42/02 m.w.N.). Die Beklagte hat im vorliegenden Fall den ab 2007
geltenden Gefahrtarif unter Nennung ihrer Beschlussgrundlagen sowie der Richtlinien
zum Gefahrtarifstellenzusammensetzung unter Berücksichtigung des
versicherungsmäßigen Risikoausgleichs (vgl. § 157 Abs. 2 SGB VII) gebildet. Die
Überprüfungsbefugnis der Gerichte beschränkt sich insoweit auf die Übereinstimmung
des Gefahrtarifs mit den tragenden Grundsätzen der Beitragsberechnung in der
gesetzlichen Unfallversicherung. Nützlichkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen
spielen dabei keine entscheidende Rolle. Bei der Auslegung des Gefahrtarifs hat der
Versicherungsträger keinen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum, es sei denn, dass
dies ausdrücklich im Gefahrtarif so bestimmt ist (vgl. BSG SozR 2200 § 730 Nr. 2).
Rechtsgrundlage des Veranlagungsbescheides ist dabei § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB VII,
nach dem der Unfallversicherungsträger die Unternehmen für die Tarifzeit nach dem
Gefahrtarif zur Gefahrklasse veranlagt. Die in der gesetzlichen Unfallversicherung allein
von den Unternehmern aufzubringenden Beiträge berechnen sich dem Finanzbedarf der
Berufsgenossenschaften, den Arbeitsentgelten der Versicherten und dem in der
Gefahrklasse zum Ausdruck kommenden Grad der Unfallgefahr in den Unternehmen (§
153 Abs. 1, § 157 Abs. 2 Satz 2 SGB VII). Um eine Abstufung der Beiträge nach dem
Grad der Unfallgefahr zu ermöglichen, muss jede Berufsgenossenschaft einen
Gefahrtarif aufstellen und diesen nach Tarifstellen gliedern, denen jeweils einen aus
dem Verhältnis der gezahlten Leistungen zu den Arbeitsentgelten errechnete
Gefahrklasse zugeordnet ist. In den Tarifstellen sind unter Berücksichtigung eines
versicherungsmäßigen Risikoausgleichs Gruppen von Unternehmen oder
Tätigkeitsbereichen mit gleich oder ähnlichen Gefährdungsrisiken zur
Gefahrengemeinschaft zusammenzufassen (§ 157 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Die Beklagte
hat diese gesetzlichen Vorgaben in dem Gefahrtarif 2007 in der Weise umgesetzt, dass
sie als Anknüpfungspunkt für die Bildung von Gefahrtarifstellen Unternehmensarten
zusammengefasst hat, für die ein ausreichend stabiles Gefährdungsrisiko bestimmt
werden konnte und diese in eigene Tarifstellen eingruppiert hat. Darüber hinaus sind
entsprechend ihrem Gefahrtarif Gefahrtarifstellen möglich, die aus mehr als einer
Unternehmensform bestehen, um den versicherungsmäßigen Risikoausgleich
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sicherzustellen. Im Einzelnen verweist dazu das Gericht auf die dem Gefahrtarif
anliegenden Berechnungen der Beklagten in der die Entschädigungsleistungen und
Entgelt- und Versicherungssummen gegenüber gestellt worden sind. Im vorliegenden
Fall ist der Kläger in die Tarifklasse 15 zutreffend einstuft worden. Bei dem Mieterverein
handelt es sich ausweislich seiner Satzung um einen Zusammenschluss zur Verfolgung
gemeinsamer Interessen. Folglich ist dieser auch zutreffend etwa mit Elternverbänden,
Haus- und Grundeigentümern, Spitzenorganisationen des Sports,
Verbraucherschutzzentralen, Vertretung von Interessen politisch-gesellschaftlicher,
allgemein-gesellschaftlicher oder kultureller Art (Förderung von Wissenschaft und
Forschung, Erhaltung von Kulturgut, Bildungsförderung, usw.) eingestuft worden. Die
offensichlich von dem Kläger angestrebte Privilegierung von Mietervereinen ist nicht zu
rechtfertigen. Der Hinweis auf die Rechtsberatung geht fehl, da auch andere Vereine,
die in die Gefahrtarifstelle 15 eingestuft worden sind - wie Haus und Grund -
Rechtsberatung betreiben. Da der Verein aber ausweislich seiner Satzung auch über
die reine Rechtsberatung hinausgehende Zwecke verfolgt, ist eine Zuordnung zur
Gefahrtarifstelle, etwa der rechtsberatenden Berufe, nicht ermessensgerecht. Inwieweit
die Arbeit im Büro des Alptenvereins, bei Sportverbänden oder in Bürgerinitiativen
gefährlicher sein soll, als die Arbeit im Büro des Mietervereins erschließt sich der
Kammer nicht. Der Kläger hat nicht belegt, dass eine solche Arbeit gefahrengeneigter
wäre bzw. dass das Schadensaufkommen höher ist. Dafür gibt es nach Aufassung der
Kammer auch keinerlei Anhaltspunkte. In diesem Zusammenhang weist die Kammer
darauf hin, dass das BSG (vgl. Urteil vom 21.03.2006 - B 2 U 2/05 R) die Auffassung
vertritt, dass bei der Zuordnung eines einzelnen Unternehmens zu der betreffenden
Gefahrtarifstelle dessen spezielle Gefährdungssituation und die Zahl der von ihm
gemeldeten Unfälle sowie die Höhe der von der Berufsgenossenschaft tatsächlichen
Leistung irrelevant sind und dass die Rechtsmäßigkeit der Bildung einer anderen
Tarifstelle der das klagende Unternehmen nicht zuzuordnen ist - hier etwa die
Gefahrtarifstelle Gewerkschaft bzw. rechtsberatende Berufe - keine Auswirkung auf die
Rechtmäßigkeit der für das Unternehmen einschlägigen Tarifstellen hat.
Soweit der Kläger beanstandet, dass die Zwangsmitgliedschaft im Rahmen der
Beklagten im Hinblick auf europarechtliche Normen äußert fraglich sei und die Grenze
zur Verfassungswidrigkeit überschritten zu haben, hat er seine diesbezüglichen
Beanstandungen nicht konkretisiert. Die Kammer konnte schlüssige Argumente gegen
die Zwangsmitgliedschaft weder dem Vortrag des Klägers entnehmen, noch teilt sie im
Anschluss an die Rechtsprechung des EU-GH diese Bedenken. (vgl. EU-GH C-67/96
Urteil vom 21.09.1999).
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Die Beklagte hat in diesem Sinne schlüssig dargelegt, dass eine Einstufung des
Klägers in die Gefahrtarifstelle 11 (wirtschaftliche und politische Interessenvertretung)
nicht möglich ist, da diese überwiegend Unternehmen erfasst, die berufliche und
unternehmerische Tätigkeiten unterstützen, wobei auch öffentliche Aufgaben
beispielsweise die Abnahme von Prüfungen wahrgenommen werden (Innungen,
Kreishandwerkerschaften, Rechtsanwaltskammern, usw.). Solche öffentlichen Aufgaben
werden vom Kläger ebensowenig übernommen, wie von Haus und Grund oder
Sportvereinen, sie stellen lediglich Gemeinschaften zur Verfolgung gemeinsamer
Interessen dar und sind deshalb zutreffen in der Gefahrtarifstelle 15 erfasst, da sie
insbesondere ideelle Interessen verfolgen, wobei der wirtschaftliche Erfolg nicht im
Vordergrund steht, wie auch der Kläger selbst betont, wenn er ausführt, dass er
ausdrücklich widerspricht, falls die Beklagte der Auffassung sei, bei im stünden
wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Die Kammer konnte nicht feststellen, dass die
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Beklagte sich bei ihrer Differenzierung von rechtswidrigen Erwägungen hat leiten
lassen, auch liegt offensichtlich kein Verstoss gegen höherrangiges Recht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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