Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 30.03.2011

SozG Gelsenkirchen: soziale sicherheit, leistungsausschluss, gleichbehandlungsgebot, erlass, hauptsache, aufenthalt, ausländer, heizung, unterkunftskosten, sozialhilfe

Sozialgericht Gelsenkirchen
Beschluss vom 30.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Gelsenkirchen S 27 AS 667/11 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom
22.03.2011 bis zum 31.05.2011 vorläufig monatlich 364,00 EUR zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt 50 % der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers. Gründe:
Tatbestand:
Der Antragsteller, welcher die griechische Staatsangehörigkeit besitzt und am 00.00.00 geboren ist, begehrt im Wege
der einstweiligen Anordnung die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Er ist im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 des Gestzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern –
Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) und reiste am 00.00.0000 in die Bundesrepublik ein.
Er sprach zunächst am 14.03.2011 sowie am 15.03.2011 bei der Antragsgegnerin vor. Am 18.03.2011 sprach er dann
erneut bei der Antragsgegnerin vor und stellte einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Im Rahmen der
Vorsprachen gab er u.a. an, dass er bei einem Bekannten wohnen und Arbeit suchen würde. Miete müsse er für die
Unterkunft nicht zahlen, aber Nebenkosten. Eine konkrete Höhe gab er insofern nicht an.
Mit Bescheid vom 18.03.2011 lehnte die Antragsgegnerin die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab. Die
gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen würden nicht vorliegen, da der Antragsteller
lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland habe.
Mit seinem am 22.03.2011 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgt der Antragsteller sein
Begehren weiter. Er habe bis zum Sommer 2010 als Dozent an einer Privaten Kollegschule in U. gearbeitet. Das
Arbeitsverhältnis sei befristet gewesen. Er sei dann am 26.02.2011 nach Deutschland gekommen, weil es hier in der
Musikbranche mehr Unternehmen geben würde und er in Griechenland keine Arbeit bekommen habe. Man habe ihn
am 15.03.2011 ohne Herausgabe der Antragsformulare mit den Worten "No money, no money" weggeschickt. Auf
Grund der vorgelegten Freizügigkeitsbescheinigung sei dann der Antrag abgelehnt worden. Einen neuen Termin habe
man mit ihm auch nicht machen wollen, da die Ablehnung der Leistungen ja schon raus sei. Die Ablehnung sei aber
unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Europäischen
Fürsorgeabkommen (EFA) rechtswidrig.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für die Zeit ab dem 22.03.2011
Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, dass die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II rechtmäßig sei. Der Antragsteller sei
nach seinem eigenen Vortrag zur Arbeitsuche nach Deutschland gekommen. Während der ersten drei Monate bestehe
aber der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II. Dieser Ausschlussgrund bestehe auch für Bürger der
europäischen Union, welche von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen würden. Die Rechtsprechung des
BSG sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da es in dem vom BSG entschiedenen Fall um Bürger von
Vertragsstaaten des EFA gegangen sei, welche sich länger als drei Monate in der Bundesrepublik aufgehalten hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Leistungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 erster Halbsatz
Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nur zum Teil begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die hier begehrte Regelungsanordnung nach § 86 b Abs.
2 S. 2 SGG setzt erstens das Bestehen eines streitigen Rechtsverhältnisses voraus, aus dem der Antragsteller
eigene Rechte - insbesondere Leistungsansprüche - ableitet (Anordnungsanspruch). Zweitens ist erforderlich, dass die
besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) vorliegen.
Ob dies beides der Fall ist, ist im Wege einer summarischen Prüfung zu bestimmen. Die Tatsachen, aus denen sich
das geltend gemachte streitige Rechtsverhältnis und der besondere Eilbedarf für den Anordnungsgrund ergeben, sind
glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die, eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde, Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im summarischen Verfahren (Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 29.07.2003 - 2 BVR 311/03). Drittens darf durch die Regelungsanordnung grundsätzlich die endgültige
Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweggenommen werden.
Der Antragsteller hat bezüglich des Regelbedarfs in Höhe von 364,00 EUR für die Zeit ab dem 22.03.2011 sowohl
einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (Punkt 1.). Bezüglich der Bedarfe für
Unterkunft und Heizung fehlt es jedoch bereits an einem Anordnungsgrund, so dass die Frage eines
Anordnungsanspruches insoweit offen bleiben kann (Punkt 2.).
1.
Der Antragsteller ist nach der durchgeführten summarischen Prüfung entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin
gemäß § 7 SGB II in der zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht "noch" gültigen Fassung vom 23.12.2007
leistungsberechtigt. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15.
Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr. 1), die erwerbsfähig (Nr. 2) und
hilfebedürftig (Nr. 3) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).
Der Antragsteller ist am 00.00.0000 geboren und damit zur Zeit 31 Jahre alt. Anhaltspunkte, welche gegen eine
Erwerbsfähigkeit des Antragstellers i.S.v. § 8 SGB II sprechen, sind nach der summarischen Prüfung nicht
ersichtlich.
Er hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern kann vorliegend offen
bleiben, ob der an den tatsächlichen Umständen zu messende Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bei Ausländern
durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird (ablehnend insofern Spellbrink in: Eicher /
Spellbrink, SGB II, Kommentar, 2. Aufl. 2008, § 7 Rdz. 11 m.w.N.; offen gelassen BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14
AS 23/10 R). Da der Antragsteller über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt, ergibt sich
bereits hieraus die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Antragstellers.
Der Antragsteller ist entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von den Leistungen
nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland
Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre
Familienangehörigen für die ersten drei Monate des Aufenthaltsrechts (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II) und Ausländer,
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und deren Familienangehörigen (§ 7 Abs. 1
S. 2 Nr. 2 SGB II), von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.
Zwar ist der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben allein zum Zweck der Arbeitsuche in die Bundesrepublik
eingereist und hat auch nur zu diesem Zweck hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, so dass dem Wortlaut
nach der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II gelten würde. Der Leistungsausschluss ist auf den
Antragsteller allerdings deswegen nicht anwendbar, weil sich der Antragsteller als griechischer Staatsangehöriger auf
das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA berufen kann, welches neben der Bundesrepublik Deutschland auch
Griechenland unterzeichnet hat (vgl. hierzu ausführlich BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R).
Der Antragsteller ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts
von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Auch dieser dreimonatige Leistungsausschluss des § 7 Abs.
1 S. 2 Nr. 1 SGB II ist zur Überzeugung des Gerichts unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots des Art.
1 EFA, wonach der Aufnahmestaat den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden "in gleicher Weise wie
seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und
Gesundheitsfürsorge zu gewähren" hat, auf den Antragsteller als griechischem Staatsangehörigen nicht anwendbar.
Einen automatischen dreimonatigen Leistungsausschluss für deutsche Staatsangehörige gibt es nach dem SGB II
nicht, so dass dem Antragsteller zur Überzeugung des Gerichts diese Beschränkung seines Anspruchs auf
Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II auf den Zeitraum nach drei Monaten des Aufenthalts
nicht entgegengehalten werden kann.
Der Anwendbarkeit des EFA stehen auch keine anderen europarechtlichen Regelungen entgegen.
So steht Richtlinie 2004/38 EG und dort insbesondere Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG der Anwendbarkeit des
EFA für die ersten drei Monate nicht entgegen. Danach ist abweichend von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 EG
der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen,
denen dieser Status erhalten bleibt, und deren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts
oder ggf. während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2004/38 EG einen Anspruch auf
Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur
Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Gemäß Art. 37 der Richtlinie
2004/38 EG lässt diese Richtlinie jedoch Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten, die für die in den
Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Personen günstiger sind, unberührt. Da es sich bei dem EFA um seit
dem 01.09.1956 unmittelbar geltendes Bundesrecht handelt (vgl. hierzu BGBl. II 564) und nach Art. 37 der Richtlinie
2004/38 EG die Richtlinie günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften unberührt lässt, kann die Richtlinie 2004/38
nicht zu einer eingeschränkten Anwendbarkeit des EFA und damit für den Antragsteller nachteiligen Folge führen.
Auch die seit dem 01.05.2010 geltende Verordnung (VO) (EG) Nr. 883/2004 vom 29.04.2004 und die dazu gehörige
Durchführungsverordnung VO (EG) Nr. 987/2009 vom 16.09.2009 steht der Anwendbarkeit des EFA zur Überzeugung
des Gerichts nicht entgegen. Zwar tritt nach Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 die VO an die Stelle aller zwischen
den Mitgliedsstaaten geltenden Abkommen über die soziale Sicherheit. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über
die soziale Sicherheit, die von den Mitgliedsstaaten vor Beginn der Anwendung dieser VO geschlossen wurden, gelten
jedoch fort, sofern sie für den Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben
und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Diese Bestimmungen müssen im Anhang II der VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten
sein. Zwar ist das EFA nicht im Anhang II der VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten. Allerdings sprechen insbesondere die
Erwägungen zu der VO (EG) Nr. 883/2004 nicht dafür, dass mit dieser VO ein internationales Fürsorgeabkommen
außer Kraft gesetzt werden sollte. Es geht vielmehr um die Klärung des Verhältnisses zwischen Koordinationsrecht
und den Sozialversicherungsabkommen, so dass die VO als Sekundärrecht der Europäischen Union der
Anwendbarkeit des EFA nicht entgegensteht.
Es bedarf auf Grund der Anwendbarkeit des EFA und dem aus Art. 1 EFA folgenden Gleichbehandlungsgebot in dem
vorliegenden Fall daher zur Überzeugung des Gerichts keiner Entscheidung, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II gegen
das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der VO (EG) 883/2004 i.V.m. Art. 70 der VO (EG) 883/2004 und Anhang X
dieser VO verstößt.
Der Antragsteller ist nach der durchgeführten summarischen Prüfung auch hilfebedürftig i.S.d. § 9 SGB II in der seit
dem 01.01.2011 gültigen Fassung. Anhaltspunkte dafür, dass er über Einkommen oder ausreichendes Vermögen zur
Deckung seines Bedarfes verfügt, sind nicht ersichtlich.
Der Antragsteller hat in Bezug auf den Regelbedarf des § 20 SGB II auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Es ist ihm mangels anderweitigem Einkommen bzw. Vermögen zur Überzeugung des Gerichts nicht zuzumuten, eine
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
2.
Sofern der Antragsteller darüber hinaus die Gewährung von Unterkunftskosten begehrt, kann offen bleiben, ob er einen
Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. Er hat jedenfalls einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen
(NRW), dass ein Anordnungsgrund, soweit die Kosten der Unterkunft und Heizung betroffen sind, nur dann
angenommen werden kann, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der Anordnung ernsthaft die Kündigung des
Mietverhältnisses oder die Räumungsklage und damit Wohnungslosigkeit droht (vgl. LSG NRW, Beschluss vom
27.03.2007 – Az: L 9 B 46/07 AS ER; Beschluss vom 13.12.2006 – Az: L 9 B 43/06 SO ER; Beschluss vom
11.02.2009 – Az: L 7 B 329/08 AS ER; Beschluss vom 12.05.2009 – Az: L 12 B 5/09 ER). Dafür bestehen vorliegend
keinerlei Anhaltspunkte. Dass zur Zeit Wohnungslosigkeit droht ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.
Zudem hat der Antragsteller noch nicht einmal vorgetragen, in welcher Höhe die Unterkunftskosten anfallen.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.