Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 18.06.2002

SozG Gelsenkirchen: berufliche tätigkeit, belastung, kausalität, bandscheibenschaden, berufskrankheit, wahrscheinlichkeit, bandscheibenvorfall, unfallversicherung, anerkennung, kausalzusammenhang

Sozialgericht Gelsenkirchen, S 13 U 83/00
Datum:
18.06.2002
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 U 83/00
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Tatbestand:
1
Streitig ist, ob die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK)
nach Nr.2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anzuerkennen
und zu entschädigen ist.
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Der am 00.00.1956 geborene Kläger war von 00.1978 bis 00.1983 und von 00.1984 bis
00.1995 als Schmied (Hammerführer) tätig.
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Im November 1995 zeigte der behandelnde Arzt des Klägers, Dr. B-E, eine
Wirbelsäulenerkrankung an, die von dem Kläger auf seine starke körperliche Belastung
zurückgeführt werde. Bezüglich des Verdachts auf das Vorliegen einer BK 2108 zog die
Beklagte eine Arbeitgeberauskunft sowie Vorerkrankungsverzeichnisse des Klägers bei
und holte eine Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes ein. Dieser ging
davon aus, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK 2108 nicht erfüllt
seien.
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Mit Bescheid vom 17.09.1996 lehnte die Beklagte den Anspruch des Klägers auf
Anerkennung und Entschädigung einer BK 2108 ab. Der gegen diesen Bescheid
eingelegte Widerspruch wurde nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des
Technischen Aufsichtsdienstes mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.1997
zurückgewiesen.
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Der Kläger hat am 06.06.1997 Klage erhoben. Seiner Auffassung nach sind die
Voraussetzungen der BK 2108 wegen seiner beruflich schweren körperlichen Belastung
gegeben. Im übrigen habe er an der Halswirbelsäule (HWS) und Brustwirbelsäule
(BWS) zu keiner Zeit Beschwerden gehabt.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.09.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 23.05.1997 zu verurteilen, ihm anlässlich der
Berufskrankheit Nr.2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung Leistungen
nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen
Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 vorliegen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben zunächst durch Beiziehung der medizinischen
Gutachten aus dem Rentenverfahren des Klägers und durch Einholung von Auskünften
des Arbeitgebers des Klägers. Nach Auswertung letzterer ist der Technische
Aufsichtsdienst der Beklagten weiterhin davon ausgegangen, dass die
arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK 2108 nicht erfüllt seien. Anschließend
hat das Gericht den Orthopäden Dr. N um die Erstattung eines Gutachtens zur Frage
des Kausalzusammenhangs zwischen Berufstätigkeit und bandscheibenbedingter
Erkrankung der Lendenwirbelsäule gebeten. Dr. N ist in seinem Gutachten vom
07.01.2001 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei Abwägung der zu diskutierenden
Faktoren ein Zusammenhang verneint werden müsse. Insbesondere sei ein
Bandscheibenschaden bereits 1981, also nach kurzer beruflicher Belastung und in
jungem Alter aufgetreten. Darüber hinaus seien BWS und HWS des Klägers
gleichermaßen wie die Lendenwirbelsäule von degenerativen Veränderungen betroffen.
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Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ist im folgenden Dr. T mit der Erstellung
eines fachorthopädischen Gutachtens beauftragt worden. Dieser hat in seinem
Gutachten vom 29.03.2001 die Auffassung vertreten, dass die medizinischen
Voraussetzungen für die BK 2108 vorliegen würden. Zwar habe der Kläger frühzeitig an
Wirbelsäulenbeschwerden gelitten, jedoch sei ein Bandscheibenschaden erst 1993,
also nach langer beruflicher Belastung aufgetreten. Brust- und Halswirbelsäule des
Klägers seien nur mäßiggradig betroffen.
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Im Hinblick auf die einander widersprechenden Gutachten hat das Gericht Dr. T1 um die
Erstattung eines weiteren fachorthopädischen Gutachtens ersucht. Dieser hat in seinem
Gutachten vom 12.04.2002 das Ergebnis von Dr. N bestätigt und einen Zusammenhang
zwischen Berufstätigkeit und Wirbelsäulenleiden des Klägers verneint. Zur Begründung
hat er insbesondere darauf hingewiesen, dass der Beginn der Erkrankung 1981 zu
datieren sei. Soweit Dr. T anführe, dass ein Bandscheibenschaden erst 1993
aufgetreten sei, müsse bedacht werden, dass eine Bandscheibenerkrankung nicht mit
einem Bandscheibenvorfall, sondern bereits erheblich früher mit chronisch-
wiederkehrenden Schmerzen beginne. Im übrigen seien Brust- und Halswirbelsäule des
Klägers in gleichem Maße betroffen wie die Lendenwirbelsäule. Warum Dr. T hierzu
eine andere Auffassung vertrete, sei nicht ersichtlich, zumal die entsprechenden
bildgebenden Aufnahmen von Dr. T offensichtlich überhaupt nicht ausgewertet worden
seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten sowie der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten Bezug
genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 17.09.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 23.05.1997 nicht im Sinne des § 54 Abs.2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da diese Bescheide nicht rechtswidrig sind. Zu
Recht hat es die Beklagte abgelehnt, bei dem Kläger eine BK 2108 nach der Anlage 1
zur BKVO anzuerkennen.
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Der geltend gemachte Anspruch des Klägers richtet sich nach den bis zum 31.
Dezember 1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) und
der Anlage 1 zur BKVO, da die von ihm geltend gemachte Berufskrankheit vor dem
Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01. Januar 1997
eingetreten ist (Art.36 des Unfallversicherungs-Einordungsgesetzes, § 212 SGB VII).
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Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des
Arbeitsunfalls nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere
Verletztenrente (§§ 580, 581 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs.1 Satz 1
RVO auch eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind nach § 551 Abs.1 Satz 2 RVO
die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540
und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach Nr.2108 der Anlage 1 zur
BKVO in der hier anwendbaren Fassung der 2. ÄndVO gehören zu den
Berufskrankheiten auch "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige
Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das
Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".
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Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als BK 2108 der Anlage 1
zur BKVO muss bei dem Versicherten mithin eine bandscheibenbedingte Erkrankung
der LWS vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen
schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung ("arbeitstechnische Voraussetzungen") entstanden ist. Die
Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten
herbeigeführt haben, und als Konsequenz aus diesem Zwang muss die Aufgabe der
Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein (BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 16/00 R).
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Für das Vorliegen des Tatbestandes der BK ist ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits
(haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der
Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen
die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden
Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für
den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der
nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung
zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings
die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG, a.a.O., m.w.N.).
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Zweifelhaft ist bereits, ob der Kläger während seiner Berufstätigkeit in den Jahren 1978
bis 1983 und 1984 bis 1995 in hinreichendem Maße einer schädigenden Exposition
ausgesetzt war. Dies ist vom Technischen Aufsichtsdienst der Beklagten verneint
worden.
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Die Frage, ob eine haftungsbegründende Kausalität vorliegt, kann jedoch letztlich offen
bleiben. Es steht nämlich unter Zugrundelegung der Gutachten von Dr. N und Dr. T1 zur
Überzeugung der Kammer fest, dass die haftungsausfüllende Kausalität verneint
werden muss. Wenn auch bei dem Kläger eine primäre bandscheibenbedingte
Erkrankung der LWS vorliegt und damit ein Krankheitsbild besteht, wie es die BK 2108
voraussetzt, so ist nicht wahrscheinlich gemacht, dass diese Erkrankung ursächlich auf
die berufliche Tätigkeit zurückzuführen wäre. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist erst
dann gegeben, wenn nach geltender medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr
für als gegen den Zusammenhang spricht und ernste Zweifel an einer anderen
Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände
müssen danach die gegenteiligen deutlich überwiegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens,
Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 Rdnr. 10.1 m. w. N.; LSG NRW, Urteil vom
10.05.2000, L 17 U 296/97).
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Nach den derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen sprechen im
Rahmen einer Individualanalyse folgende Kriterien für eine beruflich bedingte
Verursachung des Bandscheibenschadens (vgl. LSG NRW, a. a. o.; LSG Rheinland-
Pfalz, Urteil vom 09.05.2000, L 3 U 123/99; vgl. zu den Kriterien auch Mehrtens-
Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Handkommentar, M 2108):
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Ein deutlich altersvorauseilender Verschleiß bei röntgenologischem Vergleich mit der
Altersgruppe, ein Auftreten der Beschwerden nach einer beruflichen Belastung von
mehr als 10 Jahren, ein belastungskonformes Schadensbild mit von unten nach oben
abnehmenden Schäden der Lendenwirbelsäule, da im unteren LWS-Bereich der
Schwerpunkt der mechanischen Einwirkungen bei Hebevorgängen stattfindet. Gegen
eine berufliche Verursachung sprechen:
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Eine gleichmäßig starke oder stärkere Veränderung der Bandscheiben auch an HWS
bzw. BWS, ein Auftreten der Veränderungen vor Vollendung des 3. Lebensjahrzehnts,
konkurrierenden Ursachen aus dem privaten Bereich. Nach den Gutachten von Dr. N
und Dr. T1 ist ein Überwiegen der Umstände, die für einen Kausalzusammenhang
sprechen, nicht ersichtlich. Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses dieser Gutachten
hat die Kammer nicht. Bei Dr. N und Dr. T1 handelt es sich um bei der Beurteilung
berufsbedingter Wirbelsäulenerkrankungen erfahrene Fachärzte. Dr. N hat bereits in
einer Vielzahl von Fällen der 13. Kammer Gutachten zu den medizinischen
Voraussetzungen der BK 2108 erstattet, wobei sein Ergebnis bisher in allen Fällen
durch die gerichtliche Entscheidung bestätigt worden ist. Dr. T1 hat seine gutachterliche
Tätigkeit seit Aufnahme der BK 2108 in die Berufskrankheitenliste wesentlich auf die
Beurteilung deren medizinischer Voraussetzungen konzentriert und zahlreiche
Gutachten zu dieser Frage auch für das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
erstellt. Der hohe Fundus an Vergleichsmöglichkeiten und die intensive Beschäftigung
mit dieser Materie untermauern seine fachliche Kompetenz.
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Die Sachverständigen haben nachvollziehbar dargelegt, dass die Berufstätigkeit des
Klägers nicht als eine wesentliche Ursache für den Bandscheibenschaden an der LWS
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anzusehen ist. Gegen eine berufliche Verursachung spricht zunächst die Tatsache,
dass der exponierte Wirbelsäulenabschnitt der Lendenwirbelsäule nicht besonders
akzentuiert betroffen ist, sondern vielmehr auch an der Hals- und Brustwirbelsäule
Veränderungen bestehen, die sich in ihrem Ausmaß so gut wie nicht von dem
Verschleiß im Bereich der LWS unterscheiden. Nicht nachvollziehbar ist hier, wieso Dr.
T von einer geringeren Betroffenheit der degenerativen Veränderungen an Hals- und
Brustwirbelsäule des Klägers ausgeht, obwohl in seinem Gutachten die Auswertung
entsprechender Aufnahmen nicht dokumentiert ist. Hier ist der Auffassung von Dr. N und
Dr. T1 zu folgen, die ihre Meinung insoweit fundiert begründet haben, als Dr. N sich auf
ein eingeholtes röntgenologischen Zusatzgutachten bezogen und Dr. T1 die
maßgeblichen Aufnahmen zusätzlich selbst ausgewertet hat. Gegen einen
Ursachenzusammenhang spricht weiter die Tatsache, dass die Ersterkrankung bereits
1981 und damit in jungem Alter (vor Beendigung des 3. Lebensjahrzehnts) aufgetreten
ist. Soweit Dr. T demgegenüber ausführt, die Erstmanifestation der
Lendenwirbelsäulenerkrankung müsse auf das Jahr 1993 datiert werden, weil erst zu
diesem Zeitpunkt ein Bandscheibenvorfall aufgetreten sei, vermag diese Argumentation
nicht zu überzeugen. Grund hierfür ist, dass eine Bandscheibenerkrankung nicht mit
einem Bandscheibenvorfall beginnt, sondern - worauf Dr. T1 zu Recht hinweist - mit
dem hier seit 1981 dokumentierten Krankheitsbild chronisch-wiederkehrender
Schmerzen. Umstände, die für einen Ursachenzusammenhang sprechen, sind nicht
ersichtlich. So ließ sich nicht beurteilen, ob ein altersvorauseilender Verschleißzustand
der LWS besteht. Auch das Verteilungsmuster innerhalb der LWS war nur unspezifisch
und daher als Kriterium für einen Ursachenzusammenhang ungeeignet. Schließlich trat
die Ersterkrankung bereits nach lediglich kurzer Expositionsdauer von 3-4 Jahren auf.
Der diesbezüglich gegenteiligen Auffassung von Dr. T konnte aus den oben genannten
Gründen nicht gefolgt werden.
Soweit der Kläger zur Stützung seines Anspruchs ergänzend darauf hinweist, er habe
zu keiner Zeit Schmerzen im Bereich der Brust- und Halswirbelsäule gehabt, kann dies
nicht zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts führen. Das Ausmaß des
klinischen Befundes ist kein geeignetes Kriterium zur Beurteilung der Kausalitätsfrage,
zumal bekannt ist, dass der klinische und der radiologische Befund auseinanderfallen
und Bandscheibenprotrusionen und selbst ein Prolaps häufig klinisch stumm sein
können (LSG NRW, a.a.O.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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