Urteil des SozG Gelsenkirchen vom 02.10.2009

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Sozialgericht Gelsenkirchen, S 31 AS 174/09 ER
Datum:
02.10.2009
Gericht:
Sozialgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
31. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 31 AS 174/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig einen monatlichen Zuschuss zur
Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 306,16 EUR
für den Zeitraum vom 01.05.2009 bis 31.12.2009 zu zahlen. Die
Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
Antragstellerin.
Gründe:
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I.
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Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für die private Kranken- und
Pflegeversicherung der Antragsstellerin in voller Höhe.
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Die am 00.00.00 geborene Antragstellerin beantragte am 06.02.2009 bei der
Antragsgegnerin für sich und ihre 3 minderjährigen Kinder Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für
Arbeitssuchende (SGB II). Zum Zeitpunkt der Antragstellung war sie bei der D.
Krankenversicherung AG privat kranken- und pflegeversichert.
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Die Antragsgegnerin bewilligte der Antragstellerin und ihren Kindern mit Bescheid vom
13.03.2009 Leistungen für den Zeitraum vom 01.03.2009 bis 30.06.2009 in Höhe von
monatlich 641,09 EUR und für den Zeitraum vom 01.07.2009 bis 31.08.2009 in Höhe
von monatlich 600,09 EUR.
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Mit Schreiben vom 11.05.2009 beantragte die Antragstellerin die Übernahme der
vollständigen Kosten der privaten Krankenversicherung für den hälftigen Basistarif
sowie die Kosten der Pflegeversicherung. Laut einer Auflistung der
Krankenversicherung beliefen sich diese monatlich anfallenden Kosten auf insgesamt
306,16 EUR (BTN0: 284,82 EUR, PVN: 21,34 EUR).
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Mit Bescheid vom 14.07.2009 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten
der privaten Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 306,16 EUR ab. Nach den
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gesetzlichen Bestimmungen könne nur ein Zuschuss zur Zahlung der privaten
Krankenversicherung gewährt werden. Auf eine darüber hinaus gehende Übernahme
der Kosten für die private Krankenversicherung bestehe kein Rechtsanspruch.
Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin
bisher nicht entschieden hat.
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Mit Schreiben der D. Versicherung vom 25.06.2009 wurde die Antragstellerin darüber
informiert, dass aufgrund der aufgelaufenen Beitragsrückstände in Höhe von 336,98
EUR das Ruhen der Leistungen ab dem 01.07.2009 eintreten werde. Am 20.08.2009
betrug der Gesamtrückstand für den Zeitraum vom 01.05.2009 bis 01.08.2009 699,46
EUR.
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Die Antragstellerin hat am 07.08.2009 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung gestellt.
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Die Antragsgegnerin hat nach Vorlage der Versicherungsscheins der D. Versicherung
im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit den Änderungsbescheiden vom 01.09.2009
den ermäßigten Beitragssatz für den Zeitraum vom 01.03.2009 bis 28.02.2010 in Höhe
von monatlich 150,88 EUR (Krankenversicherungs-Zuschuss: 129,54 EUR und
Pflegeversicherungs-Zuschuss: 21,34 EUR) berücksichtigt.
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Die Antragstellerin hat dies als Teilanerkenntnis gewertet und hat daraufhin den
Rechtsstreit teilweise in Höhe von 150,88 EUR mtl. für erledigt erklärt. Sie führt zur
Begründung ihres Antrags im Übrigen an, es bestehe für sie auch nach Gewährung
eines Zuschusses zu den Beiträgen für die private Kranken- und Pflegeversicherung
eine Deckungslücke in Höhe von monatlich 155,28 EUR. Sie sei nicht in der Lage,
diesen Betrag aus ihren monatlichen Leistungen zu begleichen. Die Zahlung des
Restbeitrags sei Sache des Sozialleistungsträgers, denn dieser müsse gewährleisten,
dass eine Krankenversicherung finanziert werden kann. Die Eilbedürftigkeit bestehe, da
die Leistungen der Versicherung derzeit ruhten und eine Absicherung im Krankheitsfall
nicht gegeben sei.
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Die Antragstellerin beantragt,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der
Antragstellerin vorläufig einen monatlichen Zuschuss zur Kranken- und
Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 306,16 EUR für den Zeitraum ab dem
01.05.2009 zu zahlen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Sie ist der Auffassung, eine Übernahme der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge
über den gewährten Zuschuss hinaus komme nicht in Betracht. Bei Personen, die in den
Baisistarif eingestuft sind und die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge zu tragen
haben, bestehe trotz Gewährung des ermäßigten Beitragssatzes regelmäßig eine
Deckungslücke, die diese selbst tragen müssten. Es handele sich hierbei um einen
redaktionellen Fehler des Gesetzgebers. Eine Umgehungslösung bestehe darin, die
nicht gedeckten Beiträge vom Erwerbseinkommen des Hilfebedürftigen abzusetzen. Da
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die Antragstellerin nicht über Erwerbseinkommen verfüge, müsse sie die Differenz zur
tatsächlichen Höhe der Beiträge selbst tragen.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der
Antragsgegnerin.
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II.
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Der zulässige Antrag ist begründet.
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Gemäß § 86 b Abs 2 S 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige
Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine derartige Anordnung muss ergehen, wenn
durch das Vorbringen des Antragstellers erkennbar wird, dass das Begehren in der
Sache überwiegende Aussicht auf Erfolg hat (Anordnungsanspruch) und die Anordnung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Anordnungsgrund). Diese
Voraussetzungen müssen von dem Antragsteller glaubhaft gemacht werden (vgl §§ 86 b
Abs 2 SGG, 920 Abs 3 der Zivilprozessordnung (ZPO)).
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Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das erkennende
Gericht ist nach Durchführung einer summarischen Prüfung zu dem Ergebnis
gekommen, dass der Antragstellerin die Kosten für die Kranken- und
Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 316,16 EUR durch die Antragsgegnerin zu
gewähren sind.
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Der Anspruch der Antragstellerin in dieser Höhe ergibt sich aus einer analogen
Anwendung des § 26 Abs. 2 Nr. 2 Halbsatz 1 SGB II (i. d. F. des GKV-
Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007, BGBl. I Seite 378 / GKV-WSG). Nach
dieser Vorschrift wird für Bezieher von Arbeitslosengeld II, die in der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht versicherungspflichtig und nicht familienversichert sind und
die für den Fall der Krankheit freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung
versichert sind, für die Dauer des Leistungsbezugs der Beitrag übernommen.
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Diese Voraussetzungen liegen bei der Antragstellerin vor. Die Antragstellerin ist nicht
gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V versicherungspflichtig. Denn unmittelbar vor dem
Bezug von Arbeitslosengeld II war sie bei der D. Krankenversicherung privat
krankenversichert. Anhaltspunkte für eine Familienversicherung nach § 10 SGB V
bestehen nicht.
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Die Antragstellerin ist zwar entgegen dem Wortlaut des § 26 Abs. 2 Nr. 2 Halbsatz 1
SGB II nicht freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert, sondern privat
krankenversichert; diese Regelung ist aber analog anwendbar.
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Hätte der Gesetzgeber die Regelungslücke - die hier zu einer systemwidrigen Belastung
mit einem Teil der Krankenversicherungsbeiträge führt - erkannt, hätte er die
Übernahme der Beiträge von Beziehern von Arbeitslosengeld II, die bei einem privaten
Krankenversicherungsunternehmen versichert sind, mutmaßlich ähnlich geregelt wie
bei Beziehern von Arbeitslosengeld II, die freiwillig in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind; denn die Interessenlage ist bei beiden
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Personengruppen gleich. Dies rechtfertigt eine analoge Anwendung des § 26 Abs. 2 Nr.
2 Halbsatz 1 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird für Bezieher von Arbeitslosengeld II, die
freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, für die Dauer des
Leistungsbezugs "der Beitrag übernommen". Anders als § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m.
§ 12 Abs. 1c Satz 5 und 6 VAG sieht § 26 Abs. 2 Nr. 2 SGB II also keine betragsmäßige
Begrenzung der Beitragübernahme vor. Ein sachlicher Grund für diese Differenzierung
ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist die Interessenlage von privat krankenversicherten und
freiwillig gesetzlich krankenversicherten Beziehern von Arbeitslosengeld II identisch:
Beide Personengruppen müssen mangels Versicherungspflicht oder
Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung selbst für den Fall der
Krankheit vorsorgen. Angesichts dessen erscheint es möglich und geboten, die - nach
ihrem Wortlaut auf freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung
zugeschnittene - Vorschrift des § 26 Abs. 2 Nr. 2 SGB II hier entsprechend anzuwenden
und auf diese Weise der Regelungsabsicht des Gesetzgebers
(Krankenversicherungsschutz der Bezieher von Arbeitslosengeld II ohne
Beitragstragung) gerecht zu werden. (vgl. zum Ganzen: Sozialgericht Karlsruhe, Urteil
vom 10.08.2009 - S 5 AS 2121/09 m.w.N.).
Es ist auch ein Anordnungsgrund dahingehend gegeben, dass der Antragstellerin nicht
zuzumuten ist, auf den Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden. Der
Versicherer hat infolge der Beitragsrückstände das Ruhen der Leistungen angeordnet.
Während der Ruhenszeit haftet der Versicherer ausschließlich für Aufwendungen, die
zur Behandlung akuter Erkrankung und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft
und Mutterschaft erforderlich sind. Zwar sieht § 193 Abs. 6 Satz 4 Alternative 2
Versicherungsvertragsgesetz (VVG) vor, dass das Ruhen beendet ist, wenn der
Versicherungsnehmer oder die versicherte Person hilfebedürftig im Sinne des Zweiten
oder Zwölften Buches wird. Dabei ist jedoch umstritten, ob diese Vorschrift auch für den
Fall gilt, dass jemand bereits im Leistungsbezug nach dem SGB II steht und dann durch
Beitragsschulden das Ruhen der Leistungen in Betracht kommt (vgl. Sozialgericht
Stuttgart, Beschluss vom 13.08.2009 - S 9 AS 5003/09). Da nach dem Schreiben der D.
Versicherung vom 25.06.2009 die Krankenversicherung derzeit ohne Rücksicht auf die
Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin ruht, ist bereits aus diesem Grund ein
Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit gegeben. Es ist der
Antragstellerin darüber hinaus nicht zuzumuten, gegebenenfalls gegen ihre
Krankenversicherung im Zivilrechtsweg vorzugehen, um die Auslegung des § 193 Abs.
6 Satz 4 Alternative 2 VVG feststellen zu lassen (vgl. Sozialgericht Stuttgart a.a.O.; a.A.:
Sozialgericht Dresden, Beschluss vom 18.09.2009 - S 29 AS 4051/09 ER).
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Das Gericht hat der Antragstellerin auch Leistungen für Zeiten vor der Antragstellung
(07.08.2009) zugesprochen, da nur so sichergestellt werden kann, dass die bisher
aufgelaufenen Beitragsrückstände in vollständiger Höhe beglichen werden können, um
den Zustand des Ruhens der Leistungen (§ 193 Abs. 6 Satz 4 Alternative 1 VVG) zu
beheben. Eine Gewährung von Leistungen für die Zeit vor dem Antrag kommt bei einem
Nachholbedarf in Betracht, d.h. wenn die Nichtgewährung in der Vergangenheit in die
Gegenwart fortwirkt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-
Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage, § 86b Rz. 35a). Die Dauer der einstweiligen
Anordnung war bis zum Jahresende zu befristen. Eine Anordnung über diesem
Zeitpunkt hinaus kommt nicht in Betracht, da sich die Höhe des Basistarifs im Jahr 2010
ändern kann (so auch Sozialgericht Stuttgart a.a.O.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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