Urteil des SozG Fulda vom 08.11.2010

SozG Fulda: persönliche freiheit, bewährung, hauptsache, zusage, vorzeitige entlassung, wesentlicher nachteil, unnötige kosten, bedingte entlassung, rechtsschutz, rehabilitation

Sozialgericht Fulda
Beschluss vom 08.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Fulda S 3 R 250/10 ER
Hessisches Landessozialgericht L 5 R 486/10 B ER
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragssteller eine Zusage für
eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogentherapie zu erteilen.
2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
3. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung einer Kostenzusage für
eine Drogentherapie.
Der Antragsteller verbüßt zur Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten in der JVA B-Stadt
(im Folgenden JVA). Die zur Verurteilung führenden Straftaten standen, ausweislich der Mitteilung des Leiters der
JVA vom 23.09.2010, jeweils im Zusammenhang mit der langjährig bestehenden und behandlungsbedürftigen
Suchtproblematik des Antragstellers.
Bereits vor seiner Inhaftierung hatte sich der Antragsteller um eine Kostenzusage für eine stationäre Suchttherapie
bemüht und diese auch erhalten. Aufgrund der Inhaftierung konnte er diese Therapie nicht antreten. Die Durchführung
der Therapiemaßnahme unter Zurückstellung der Strafverfolgung gem. § 35 BtMG wurde abgelehnt, weil nicht alle zu
verbüßenden Straftaten in Kausalität mit der Drogensucht des Antragstellers standen.
Der Entlassungstermin bei Verbüßung der vollen Strafe wäre am 28.02.2012. Ab dem 11.12.2010 käme eine
vorzeitige Aussetzung der Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung gem. § 57 Abs. 1
StGB in Betracht.
In seiner diesbezüglichen Stellungnahme hat der Leiter der JVA Folgendes ausgeführt:
Vollstreckungslockerungen konnten ihm aufgrund der langjährig bestehenden, behandlungsbedürftigen Drogensucht
und der damit verbundenen Missbrauchs- und Rückfallgefahr nicht gewährt werden. ( ...) Nach Abwägung aller
Aspekte wird eine vorzeitige Entlassung gem. § 57 I nur im nahtlosen Übergang in eine stationäre Drogentherapie
befürwortet.
Am 19.07.2010 hat der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für einen Therapieplatz im Sinne
von §§ 9 ff. SGB VI in der Einrichtung Z in X-Stadt beantragt.
Mit Bescheid vom 26.07.2010 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag unter Hinweis auf § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI ab.
Eine Leistungsgewährung käme demnach für Versicherte, die sich im Vollzug einer Freiheitsstrafe befänden nicht in
Betracht.
Am 06.08.2010 hat der Antragsteller gegen den Bescheid vom 26.07.2010 Widerspruch erhoben. Zur Begründung hat
sich der Antragsteller dabei auf die in der Vergangenheit erteilte Kostenzusage der Antragsgegnerin berufen, welche er
nur deshalb nicht habe antreten können, weil seine Strafe nicht zurückstellungsfähig im Sinne von § 35 BtMG war und
er deshalb gezwungen war die Haft anzutreten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2010 – in dem die Antragsgegnerin, ausweislich des Tatbestandes, die
unterstützende Haltung der JVA registriert hat – hat sie den Widerspruch des Antragstellers zurückgewiesen. Zwar
habe der Antragsteller die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, jedoch scheide eine Leistungsgewährung
gem. § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI aus. Wörtlich heißt es im Widerspruchsbescheid:
Nach der Haftentlassung kann erneut ein Antrag auf Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung gestellt werden.
Mit Schreiben vom 18.10.2010 wandte sich der Antragsteller mit dem Ersuchen um einstweiligen Rechtsschutz an
das Sozialgericht Fulda. Am selben Tag erhob er auch Klage in der Hauptsache, welche unter dem Aktenzeichen S 3
R 251/10 geführt wird.
Der Antragsteller ist Auffassung, ihm stünde bereits zum jetzigen Zeitpunkt ein Anspruch auf eine Kostenzusage zu.
Weil er selbst im Hinblick auf fehlendes Vermögen und Einkommen nicht zur Finanzierung eines
Drogentherapieplatzes in der Lage sei, müsse die Antragsgegnerin eine entsprechende Kostenzusage erteilen. Nur auf
der Basis dieser Kostzusage käme eine Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB in Betracht, weil der
zuständige Richter der Strafvollstreckungskammer einer Strafaussetzung zur Bewährung regelmäßig nur dann
zustimmen würde, wenn ein Verurteilter mit Suchtproblemen nahtlos von der Haft in eine Drogentherapie wechseln
könne.
Für die Antragsgegnerin stelle die Zusage auch kein finanzielles Risiko dar, weil für den Fall, dass sie die Zusage
erteilt und der zuständige Richter der Vollstreckungskammer die Aussetzung zur Bewährung ablehnt, keine Kosten
entstehen würden.
Schließlich verkenne der Antragsteller nicht, dass eine gewissenhafte Prüfung der Voraussetzungen für die in Rede
stehende Kostenzusage richtig und auch sinnvoll sei, um unnötige Kosten zu verhindern. Dies dürfe aber nicht zu
einer pauschalen Ablehnung von Kostenanträgen führen.
Endlich seien keine Gründe für eine Ablehnung, wie etwa ein bereits mehrfacher Therapieabbruch, ersichtlich.
Der Antragsteller beantragt: die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem
Antragsteller Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gem. § 9 ff. SGB VI in Form einer Kostenzusage für eine
Drogentherapie in der Einrichtung: Z in X-Stadt zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin beantragt: den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin hält den angegriffenen Bescheid vom 26.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27.09.2010 für rechtmäßig. Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf die begehrte Kostenzusage. Dabei beruft sich
die Antragsgegnerin weiterhin auf § 12 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI.
Ergänzend trägt die Antragsgegnerin vor, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb es einer gültigen Kostenzusage
bedürfe, um eine positive Entscheidung über die Aussetzung der Strafe zur Bewährung zu erreichen. Dem Gesetz
seien – im Gegensatz zu § 35 BtMG, dessen Voraussetzungen vorliegend aber nicht erfüllt seien – derlei
Voraussetzung nicht zu entnehmen.
Eine einstweilige Anordnung dürfe zudem grundsätzlich eine endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen.
Es bestünden zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass die Versagung des begehrten vorläufigen Rechtsschutzes für
den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Folgen führen würde, was ausnahmsweise ein Vorgriff auf die
Entscheidung in der Hauptsache rechtfertigen könnte.
Selbst wenn eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation angezeigt wäre, ergäbe sich noch kein Anspruch auf eine
Durchführung im Z in X-Stadt.
Bei einer Beurteilung, ob eine Maßnahme im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nötig sei, müsse das Gericht
die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abwägen. Sofern eine Klage keine Aussicht auf Erfolg habe, sei
ein Recht, welches geschützt werden müsse, nicht vorhanden. Nach § 13 Abs. 1 SGB VI bestimme der Träger der
Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit u.a. die
Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen.
Dementsprechend wäre eine Verurteilung nur dann möglich, wenn die Voraussetzungen für eine
Ermessensreduzierung auf Null vorlägen, was aber vorliegend nicht der Fall sei. So dass nur ein Anspruch des
Antragstellers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gesichert werden könnte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses
Eilverfahrens wie auch des Hauptsacheverfahrens S 3 R 251/10 sowie auf den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist auch im tenorierten Umfang begründet.
Der Antragsteller hat einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Gewährung der begehrten Zusage für eine
stationäre Drogentherapie.
Eingangs ist festzustellen, dass die Kammer das Rechtschutzersuchen des Antragstellers analog § 123 SGG
dahingehend versteht und auslegt, dass er die Zusage für eine Rehabilitationsleistung in Form einer stationären
Drogentherapie in X-Stadt begehrt.
Gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann, wenn – wie vorliegend – ein Fall eines Aussetzungsantrags nach § 86b Abs. 1
SGG nicht vorliegt, das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn und soweit eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die (summarische) Prüfung der Erfolgsaussichten in
der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten des
Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
Die Erfolgsaussichten der Hauptsache können unter Umständen aus verfassungsrechtlichen Gründen abschließend
zu prüfen sein. Ist eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, ist eine Folgenabwägung
vorzunehmen, welche insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1977 (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1977 – 2 BvR 42/76 = NJW 1978, S.
693 f.), vor der Einführung von § 86b Abs. 2 SGG, festgestellt, dass Art. 19 Abs. 4 GG es gebieten kann, zur
Vermeidung von schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen, im Wege des vorläufigen
Rechtsschutzes in Vornahmesachen Rechtsschutz zu gewährleisten.
Der Gesetzgeber hat sich bei der Abfassung des § 86b Abs. 2 SGG für das Merkmal wesentlicher Nachteil als
Voraussetzung für einen Anordnungsgrund entschlossen, was als Weniger in Bezug auf die Intensität des Nachteils
anzusehen ist. Mithin sichert die aktuell geltende Rechtslage nicht nur den verfassungsrechtlichen Mindeststandard
ab, welchen die vorbezeichnete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgelegt hat, sondern geht darüber
hinaus (a.A. wohl LSG Bayern, Beschl. v. 14.06.2005 – L 11 B 218/05 AS ER, juris Rn. 16, welches weiterhin den
engeren Maßstab der Entscheidung des BVerfG zu Grunde legt; DÜRING geht davon aus, dass sich die
Entscheidungspraxis zum Anordnungsgrund nach neuem Recht nur in Nuancen von der alten Rechtslage
unterscheiden wird, vgl. DÜRING, in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 26).
Gleichwohl folgt sowohl aus dem Gesetzeswortlaut, wesentlich, als auch aus dem Sinn und Zweck des einstweiligen
Rechtsschutzes, dass nicht jeder Nachteil zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigt. Einstweiliger
Rechtsschutz ist "nur" für die Fälle zu gewähren, in denen es dem Antragsteller nicht zumutbar ist eine Entscheidung
in der Hauptsache abzuwarten (vgl. BINDER, in: Lüdtke, HK-SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 37).
Das Gericht hat somit zunächst zu prüfen, welche nachteiligen Folgen der Antragsteller zu befürchten hat, wenn der
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt würde und sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass
der geltend gemachte Anspruch besteht. Die Gewichtung dieser Folgen ist verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4
S. 1 GG determiniert. Je schwerer die für den Antragsteller zu erwartenden Belastungen wiegen und je geringer die
Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können,
umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt
werden. Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn und soweit anderenfalls dem Antragsteller
eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten droht, welche durch die
Entscheidung in der Hauptsache nicht beseitigt werden kann (vgl. insoweit die Kommentierung zu § 123 VwGO,
KUHLA, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 123 Rn. 128 m.w.N.).
Am Maßstab des Vorstehenden war die begehrte Anordnung im tenorierten Umfang zu erlassen.
Gem. § 13 Abs. 1 SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze
der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen sowie die
Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Voraussetzung für eine Leistungsgewährung ist aber,
dass ein Versicherter die persönlichen (§ 10 SGB VI) und die versicherungsrechtlichen (§ 11 SGB VI)
Voraussetzungen erfüllt und kein Ausschlussgrund gem. § 12 SGB VI vorliegt.
Beim Antragsteller sind unstrittig die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung
einer Maßnahme der stationären Rehabilitation erfüllt.
Entgegen der Rechtsansicht der Antragsgegnerin scheitert eine Kostzusage auch nicht am Ausschlussgrund von § 12
Abs. 1 Nr. 5 SGB VI, wonach Leistungen zur Teilhabe nicht für Versicherte, die sich im Vollzug einer Freiheitsstrafe
befinden, erbracht werden.
Die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes liegen evident nicht vor. Der Antragsteller hat eindeutig klargestellt,
dass es ihm um eine Leistung im Anschluss an die Haft geht.
Aus § 9 Abs. 2 SGB VI ergibt sich, dass die Erbringung von Reha-Leistungen im Ermessen der Antragsgegnerin
steht. Grundsätzlich steht dem Versicherten daher kein konkreter Anspruch auf eine bestimmte Reha-Leistung zu.
Gem. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB I besteht aber ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung, wenn und soweit
die Voraussetzungen für eine Pflicht des Rentenversicherungsträgers zur Ermessensausübung erfüllt sind. Die
Ermessensbetätigungspflicht besteht, wenn der Versicherte die sogenannten Eingangsvoraussetzungen erfüllt,
welche i.d.R. als "Ob" der Reha bezeichnet werden und im Unterschied zum "Wie" der Reha der vollen gerichtlichen
Nachprüfung zugänglich sind. Hinsichtlich des "Ob" der Reha ist der Antragsgegnerin kein Ermessen eingeräumt (vgl.
insgesamt zum Vorstehenden KATER, in: Kasseler Kommentar, 66. Erg.-Lief. 2010, § 13 SGB VI, Rn. 4 ff.).
Bereits im Hinblick auf das Vorstehende erweist sich die Ablehnung der Zusage als ermessensfehlerhaft und damit
rechtswidrig.
Gleichwohl steht mit dieser Feststellung dem Antragssteller der begehrte Anspruch noch nicht zu. Zu berücksichtigen
ist insoweit, dass dem Antragsteller im Hinblick auf das "Wie" der Reha grundsätzlich nur ein Anspruch auf
pflichtgemäße Ermessensausübung zukommt.
Eine Überprüfung der Ermessensentscheidung scheitert diesbezüglich bereits deshalb, weil die Antragsgegnerin ihr
Ermessen im Hinblick auf das "Wie" der Reha (aus ihrer Sicht wohl folgerichtig), nicht ausgeübt hat.
Im Regelfall ist es dem Gericht auch im Hinblick auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache verwehrt, seine
Ermessensentscheidung an die Stelle der Antragsgegnerin zu stellen. Etwas anderes gilt nach der herrschenden
Meinung nur dann, wenn die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen (vgl. KELLER, in:
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; KRODEL, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2.
Aufl. 2008, Rn. 322). In den Fällen, in denen keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, soll (lediglich) ein
Anspruch auf Verpflichtung der Verwaltung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
bestehen (so KELLER, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; wohl auch HessLSG,
Beschl. v. 17.05.2005, L 2 R 106/05 ER, soweit ersichtlich nicht veröffentlicht).
Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Nachteile entstünden. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann
vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden,
zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG,
Beschl. v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02, juris, Rn. 7, vgl. SCHOCH, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
90. Erg.-Lief. 2009, § 80 Rn. 12 der zutreffend auf die hohe Bedeutung bei Vornahmesachen hinweist; ähnlich
PUTTLER, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123 Rn. 97 ff.; WEHRHAHN, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 1.
Aufl. 2008, § 86b Rn. 72 ff.).
Die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes führt vorliegend zu schweren und unzumutbaren Nachteilen für den
Antragsteller. Die Entscheidung der Antragsgegnerin über die angestrebte Drogentherapie durfte vorliegend nicht ohne
Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erfolgen. In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland hat
die persönliche Freiheit hohen Rang. Staatlich Organe haben allgemein die Pflicht, schützend und fördernd den
Schutz hoher und höchster Rechtsgüter sicherzustellen. Behördliche wie auch gerichtliche Verfahren müssen der im
Grundrecht auf persönliche Freiheit enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung hinreichend Rechnung
tragen (vgl. für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, BVerfG, Beschl. v. 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02, juris, Rn 9 m.w.N.).
Dem wird die angegriffene Entscheidung nicht im Ansatz gerecht. Die Antragsgegnerin hat ausweislich der
streitgegenständlichen Bescheide nicht zur Kenntnis genommen, dass ihre Entscheidung sich für den Antragsteller
grundrechtsrelevant auswirken kann.
Das BVerfG hat gerade bei Entscheidung über die vorzeitige Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 StGB die
überragende Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG herausgestellt (vgl. jüngst BVerfG, Beschl. v. 13.09.2010, 2 BvR
449/10, juris).
Die Antragsgegnerin kann in diesem Zusammenhang auch nicht damit gehört werden, dass es an einer zwingenden
gesetzlichen Voraussetzung fehle, welche die Entscheidung über die Drogentherapie für maßgeblich in Bezug auf die
Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung nach 2/3 der Haft ansehen. Insoweit verkennt die
Antragsgegnerin die offene Formulierung von § 57 StGB, welcher in Abs. 1 S. 2 gerade diverse Merkmale nennt, die
die Strafvollstreckungskammer bei der Entscheidung über die Reststrafaussetzung zur Bewährung zu beachten hat
(vgl. dazu FISCHER, StGB, 57. Aufl. 2010, § 57 Rn. 15 ff.; HUBRACH, in: Leipziger Kommentar, 3. Bd., 12. Aufl.
2008, § 57 Rn. 9). Die in § 57 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Gesichtspunkte sind hingegen nicht abschließend. Aus
dem Wort "namentlich" ergibt sich, dass es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt (GROß, in: MüKo-
StGB, Bd. 2/1, 1. Aufl. 2006, § 57 Rn. 18). Das Gericht hat keine Zweifel, dass der Entscheidung über eine
Drogentherapie überragende – wenn nicht gar maßgebliche – Bedeutung bei der Entscheidung über die
Strafaussetzung zur Bewährung nach 2/3 der Haftzeit zukommt.
An dieser Stelle bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob sich die begehrte Zusage zwingend auf die
Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB ausüben muss.
Im Hinblick auf die Empfehlung des Leiters der JVA, wonach eine Strafaussetzung zur Bewährung nur dann
empfohlen werden kann, wenn im direkten Anschluss an die Haft eine Therapie angetreten wird, erscheint eine
Entscheidung über das Aussetzungsersuchen des Antragstellers in seinem Sinne ohne eine entsprechende Zusage
praktisch ausgeschlossen. Zwar bindet die Beurteilung der JVA im Rahmen der Anhörung nach § 454 Abs. 1 S. 1
StPO die Strafvollstreckungskammer bei ihrer Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes nicht. Angesichts
der Prüfung der Aussetzungsvoraussetzungen nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2 StGB und der Tatsache, dass der
Antragsteller sich nicht im Rahmen von Vollzugslockerungen hat bewähren können, ist jedoch davon auszugehen,
dass eine bedingte Entlassung überhaupt nur dann in Frage kommt, wenn der nahtlose Übergang in eine
Therapieeinrichtung gesichert ist. Eine solche Entscheidung vereitelt indessen die Antragsgegnerin mit ihrer
Ablehnung.
An dieser Stelle bedarf es auch keiner Erörterung, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung möglicherweise aus
anderen Gründen scheitern kann. Diese Entscheidung ist der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorbehalten.
Kaum mehr nachvollziehbar ist es, wenn die Antragsgegnerin den Antragsteller auf eine bedingte Entscheidung des
Vollstreckungsgerichts verweisen will. Unabhängig von der Frage, ob eine solche Entscheidung überhaupt zulässig
wäre – was mehr als zweifelhaft erscheint – verweist die Antragsgegnerin den Antragsteller doch gerade auf eine
Antragstellung für die Zeit, wenn er aus der Haft entlassen ist. Warum sich daran etwas ändern soll, wenn die
Strafvollstreckungskammer eine bedingte Entscheidung getroffen hat, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die
insoweit vorgenommene Differenzierung erweist sich als willkürlich.
Dem Gericht ist es in Fällen wie dem vorliegenden nicht nur erlaubt sein Ermessen an die Stelle des behördlichen
Ermessens zu setzen, es ist vielmehr geboten, dass das Gericht ein eigenes Ermessen ausübt. Ein von der
Antragsgegnerin insoweit angenommenes Verbot ist mit der gesetzlich statuierten richterlichen Gestaltungsbefugnis
schlechterdings unvereinbar (vgl. SCHOCH, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 90. Erg.-Lief. 2009, § 123
Rn. 160).
In Fällen – wie dem vorliegenden – indem kein anderer wirksamer Rechtsschutz erreicht werden kann, muss bereits
von Verfassungs wegen eine konkrete Verpflichtung jedenfalls dann erfolgen, wenn eine überwiegende Entscheidung
dafür besteht, dass eine neue Ermessensentscheidung zugunsten des Antragstellers ausgehen würde. Dem steht
auch eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht entgegen (KOPP/SCHENKE, VwGO, 16. Aufl. 2010, § 123 Rn. 14;
SCHOCH, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 90. Erg.-Lief. 2009, § 123 Rn. 158; allgemein kritisch zum
Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache KUHLA, in: Posser/Wolff, VwGO, 1. Aufl. 2008, § 123 Rn. 150 ff.)
Vorliegend hat die Antragsgegnerin nicht im Ansatz dargetan, weshalb die Gewährung einer Leistung zur
medizinischen Rehabilitation in Form einer stationären Drogentherapie abzulehnen wäre. Die Antragsgegnerin hat
selbst ausgeführt, es sei eine Abwägung der Belange der Öffentlichkeit gegen die des Antragstellers vorzunehmen.
Es ist sind aber weder Gründe ersichtlich noch vorgetragen, welche es rechtfertigen könnten, dem Antragsteller die
begehrte Kostenzusage zu verwehren. Im Hinblick dessen, dass die Antragsgegnerin dieses Abwägungsgebot selbst
erkannt hat, ist es für die Kammer kaum mehr nachvollziehbar, weshalb die Antragsgegnerin der Bedeutung des
Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bei ihrer Entscheidung keinerlei Bedeutung beigemessen hat.
Nach dem Vorstehenden bestehen auch keinerlei Zweifel an der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund).
Die Kammer lässt es im Ergebnis offen, ob in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die eine
Regelungsanordnung mit Verwaltungsermessen betreffen, ein Bescheidungsbeschluss in Betracht zu ziehen ist (dafür
BINDER, in: Lüdtke, HK-SGG, 3. Aufl. 2008, § 86b Rn. 48; darauf Bezug nehmend KELLER, in: Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 30a; für die Parallelvorschriften der VwGO unter Hinweis auf §
114 VwGO HAPP, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 123 Rn. 66; für das Verfahren nach), oder ob dieser
Möglichkeit generell die im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG notwendige Effektivität abzusprechen ist. In
Anbetracht des bevorstehenden Zweidrittelzeitpunktes im Dezember 2010 war dem Antragsteller ein weiteres
Abwarten nicht mehr zumutbar.
Das Gericht verkennt bei seiner Entscheidung auch nicht, dass es nicht primärer Zweck des rentenrechtlichen
Rehabilitationsrechtes ist, dafür zu sorgen, dass eine vorzeitige Haftentlassung erreicht werden kann. Der vorliegende
Fall zeigt aber, dass sich die Bewilligung einer Drogentherapie de facto auf die Entscheidung über eine vorzeitige
Haftentlassung auswirkt. Die Stellungnahme des Leiters der JVA legt es nahe, dass eine Drogentherapie im
unmittelbaren Anschluss an die Haft conditio sine qua non für eine positive Entscheidung über die Strafaussetzung
zur Bewährung nach 2/3 der Haftstrafe ist. Mithin wirkt sich die Entscheidung für den Antragsteller
grundrechtsrelevant aus, was die Antragsgegnerin im Hinblick auf den grundlegenden objektiven Wertgehalt des Art. 2
Abs. 2 S. 2 GG auch zu beachten hat.
Gem. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche
Anordnungen zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind. Danach war die Antragsgegnerin zu verpflichten, die
begehrte Zusage für eine Drogentherapie zu erteilen. Nicht erforderlich war es jedoch, eine konkrete
Therapieeinrichtung zu benennen. Diese Auswahl kann der Antragsgegnerin vorbehalten bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dabei konnte es
unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller im Hinblick auf die konkrete Benennung einer Therapieeinrichtung
nicht erfolgreich war, denn der Kern seines Anliegens ist die Zusage als solche.