Urteil des SozG Freiburg vom 04.11.2010

SozG Freiburg: ratio legis, beruf, körperpflege, ernährung, begriff, sozialhilfe, feststellungsklage, tod, zustand, befragung

Sozialgericht Freiburg
Urteil vom 04.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Freiburg S 12 R 978/07
1. Unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18.09.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
25.01.2007 wird festgestellt, dass die Klägerin vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege
von Frau M. H. gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI versicherungspflichtig war.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen notwendigen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt, die von ihr erbrachte Pflege ihrer Mutter vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 als Beitragszeit in der
gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. Die am xx.xx.1959 geborene Klägerin ist von Beruf Sozialarbeiterin
und war in der Seniorenberatung tätig. Im Klagezeitraum übte sie ihren Beruf in 60 % Teilzeit aus. Derzeit bezieht sie
eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die am xx.xx.1926 geborene Mutter der Klägerin, Frau M. H., verstarb am
xx.xx.2006, nachdem sie am 19.11.2005 gestürzt war und sich schwerwiegende Verletzungen zugezogen hatte,
derentwegen sie bis zu ihrem Tod fast ununterbrochen in vollstationärer Behandlung war.
Frau M. H. litt seit etwa ihrem 50. Lebensjahr an zahlreichen und schweren körperlichen Gebrechen. Im Dezember
2002 wurde ein Grad der Behinderung von 60 anerkannt, der kurz vor ihrem Tod noch auf 100 erhöht wurde. Eine
Untersuchung in der Uniklinik Freiburg vom 15.02.2004 ergab eine erheblich reduzierte Orientierung im Alltag und die
Diagnose Alzheimer. Das Gedächtnis, Orientierungsvermögen, Sprache, Rechtschreibung, Ablesen von Uhren,
Selbstversorgung und Körperpflege seien entsprechend eingeschränkt. Im streitigen Zeitraum standen folgende
weitere Beschwerden und Krankheitsbilder im Vordergrund: fortschreitende Demenz, Bluthochdruck, Harninkontinenz,
Schwerhörigkeit, Parkinson und Lumboischialgie aufgrund eines Bandscheibenvorfalls. Dieser war Grund für eine
stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25.08. bis 23.09.2003. Nach deren Abschluss wurde für die häusliche
Pflege ab 01.10.2003 Pflegegeld bewilligt und Frau M. H. in Pflegestufe 1 eingestuft. In der Folgezeit bis zu ihrem
schweren Sturz war Frau M. H. einmal wegen einer Reha-Maßnahme vom 08.12.2003 bis 12.01.2004 länger stationär
untergebracht. Ansonsten sorgte die Klägerin, die ihrem Beruf nur noch in Teilzeit nachging, überwiegend allein für die
häusliche Pflege ihrer Mutter, deren Ehemann bereits 1983 vorverstorben war. Außer der Klägerin hatte Frau M. H.
zwei weitere Kinder. Auf Anforderung der Beigeladenen hielt die Klägerin ihre pflegerischen und hauswirtschaftlichen
Tätigkeiten für ihre Mutter im Rahmen des Erstantrags auf Feststellung einer Pflegestufe für den 09.11.2003 sowie im
Rahmen des Folgeantrags für drei aufeinander folgende Tage (09.-11.09.2004) auf vier Pflegetagebögen fest. Danach
entfielen am 03.11.203 auf den Bereich der Körperpflege 46,5 Minuten, auf den der Ernährung ohne Trinken 60
Minuten und auf den der Mobilität der Gepflegten (ohne An- und Abfahrt der Klägerin) 60 Minuten, zusammen 166,5
Minuten. Am 09.09.2004 waren es 51,5 Minuten für Körperpflege, 67 Minuten für Ernährung einschließlich Trinken und
38 Minuten für Mobilität (ohne An- und Abfahrt), zusammen 156,5 Minuten. Am 10.09.2004 waren es 66,5, 66 und 39
Minuten (ohne An- und Abfahrt), zusammen 171,5 Minuten sowie am 11.09.2004 49,5, 66 und 46 Minuten (ohne An-
und Abfahrt), zusammen 161,5 Minuten. Hieraus ergibt sich ein täglicher Durchschnitt von 164 Minuten bzw. 19,13
Stunden pro Woche. Hinzu kam eine hauswirtschaftliche Versorgung am 03.11.2003 im Umfang von 175,7 Minuten,
am 09.09.2004 von 353 Minuten, am 10.09.2004 von 198 Minuten und am 11.09.2004 von 338 Minuten. Die
Beigeladene hatte Frau M. H. für die Prüfung der zu bewilligenden Pflegestufe am 06.11.2003 von einem Arzt der
Firma M. begutachten lassen. Dieser schätzte den täglichen Bedarf auf 48 Minuten für die Grundpflege und 45
Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung, zusammen 93 Minuten ein. Eine Folgebegutachtung am 06.10.2004
ergab einen Bedarf für die Grundpflege von 63 Minuten und die hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten,
zusammen 108 Minuten, sowie einen Mehrbedarf wegen erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz. Mit
Bescheid vom 18.09.2006 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Anerkennung ihrer Pflegetätigkeit als
versicherungspflichtige Zeit mit der Begründung ab, dass nach den Feststellungen der Beigeladenen der von der
Klägerin ausgeübte Umfang der Pflegetätigkeit unter 14 Stunden in der Woche liege und daher die gesetzlichen
Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Den Widerspruch der Klägerin vom 12.10.2006 wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 25.01.2007 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 19.02.2007 beim Sozialgericht Freiburg erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr
Begehren weiter verfolgt. Sie ist der Ansicht, für die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI sei
nicht allein auf den pflegeversicherungsrechtlichen Pflegebedarf abzustellen, sondern auf die tatsächlich erbrachte
Pflegetätigkeit.
Die Klägerin beantragt zuletzt:
Unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18.9.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
25.1.2007 wird festgestellt, dass die Klägerin vom 1.10.2003 bis 19.11.2005 wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege von
Frau M. H. gem. § 3 S. 1 Nr. 1 a SGB VI versicherungspflichtig war.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Beklagte ist ebenso wie die Beigeladene der Ansicht, dass es für die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz 1
Nr. 1 a SGB VI allein auf die im Rahmen der Festsetzung der Pflegestufe getroffenen Feststellungen ankomme. Der
darüber ergangene Bewilligungsbescheid entfalte für den streitigen vorliegenden Sachverhalt Tatbestandswirkung.
Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 04.11.2010 eingehend zu Art und Umfang ihrer
pflegerischen und hauswirtschaftlichen Tätigkeit für ihre Mutter und deren Hilfebedarf befragt. Insoweit wird auf das
Protokoll verwiesen. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die
Gerichtsakte und die die Klägerin betreffenden Akten der Beklagten und der Beigeladenen, die das Gericht
beigezogen hat, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Klage ist
zulässig und begründet. 1. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Als Adressatin eines belastenden
Verwaltungsakts ist die Klägerin befugt, Anfechtungsklage zu erheben. Für den weiteren Feststellungsantrag ist eine
Verpflichtungsklage nicht vorrangig, weil das festzustellende Rechtsverhältnis, die Rentenversicherungspflicht der
Klägerin im bezeichneten Zeitraum, unmittelbar aus dem Gesetz folgt. Das für eine Feststellungsklage nach § 55
SGG notwendige besondere Feststellungsinteresse liegt aufgrund der durch ablehnende Bescheide manifestierten
abweichenden Rechtsauffassung der Beklagten vor.
2. Die Klägerin unterlag in der Zeit vom 01.10.2003 bis 19.11.2005 der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht. Dies
gilt gemäß § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI für Personen in der Zeit, in der sie einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14
des Elften Buches nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen
(nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen), wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der sozialen
oder einer privaten Pflegeversicherung hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt:
a) Unstreitig hatte die gepflegte Mutter der Klägerin im streitigen Zeitraum Anspruch auf Leistungen aus der privaten
Pflegeversicherung bei der Beigeladenen und war daher Pflegebedürftige im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI.
b) Die Klägerin war im streitigen Zeitraum unstreitig eine nicht erwerbsmäßige Pflegeperson im Sinne des § 3 Satz 1
Nr. 1a SGB VI. Auch fand die Pflege in häuslicher Umgebung statt, da der einzige längere stationäre Aufenthalt im
Klagezeitraum zeitlich nicht ins Gewicht fällt.
c) Auch die Voraussetzung einer Pflege im Umfang von mindestens 14 Stunden wöchentlich ist erfüllt.
aa) Diese Voraussetzung des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI wird von § 19 SGB XI lediglich wiederholt und um die
Rechtsfolge ergänzt, dass Leistungen zur sozialen Sicherung nach § 44 SGB XI erfolgen. Beide Ausgangsnormen
verweisen zur Konkretisierung des Begriffs "pflegen" oder (der Wortlaut ist insoweit offen) des Begriffs der
"pflegebedürftigen Person" gleichermaßen auf § 14 SGB XI. Aus der Blickrichtung des § 3 SGB VI auf die
Pflegeperson als potentiellen Rentner ist allerdings zu schließen, dass die Verweisung in erster Linie der Erläuterung
des Begriffs "pflegen" dient. Demgegenüber findet die gepflegte Person und ihr Zustand in § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI
lediglich im angefügten Konditionalsatz ausdrückliche Erwähnung, dessen Voraussetzungen vorliegend unstreitig
erfüllt sind. § 14 SGB XI definiert anknüpfend an näher bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen grundlegend
sämtliche pflegerischen und hauswirtschaftlichen Bedarfe in qualitativer Hinsicht und verweist in quantitativer Hinsicht
vollständig auf § 15 SGB XI, der den Pflegebedarf der zu pflegenden Person bestimmten Pflegestufen zuordnet und
damit die Grundnorm schlechthin für die Bestimmung von Leistungsansprüchen aus der gesetzlichen
Pflegeversicherung ist. Weder § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI noch § 19 SGB XI erwähnen diese Schlüsselnorm der
gesetzlichen Pflegeversicherung, sondern verweisen – dem oben erläuterten Verweisungszweck folgend –
ausschließlich auf § 14 SGB XI.
bb) Diese Gesetzessystematik untermauert den Wortlaut ("pflegt") des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI, demzufolge es für
die Rentenversicherungspflicht maßgeblich auf die (tatsächliche) pflegerische Tätigkeit der Pflegeperson und nicht auf
den (normativen) Bedarf des Gepflegten ankommt. Letzterer spielt lediglich mittelbar für die weitere Frage eine Rolle,
ob und zu welchem Teil die Pflegetätigkeit noch krankheits- oder behinderungsbedingt ist, oder ob und gegebenenfalls
inwieweit sie auf eine Betreuung in sonstigen Lebenslagen hinausläuft, beispielsweise zur Freizeitgestaltung oder
aufgrund gesteigerter Komfortansprüche (dazu unten dd) (2)). Eine – wie von der Beklagten vorgenommene –
Gleichsetzung von pflegerischem Bedarf des Gepflegten (im Sinne der Einstufung nach § 15 SGB XI) und
pflegerischer Tätigkeit der Pflegeperson würde daher dem Gesetzeswortlaut ("pflegt"), der Gesetzessystematik
(Verweis nur auf § 14 SGB XI) und der ratio legis (Verweisungszweck und Perspektive des § 3 SGB VI auf die in
Bezug genommene Norm § 14 SGB XI) widersprechen. Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die
Mindeststundenzahl nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI nicht nur aus der Arbeitszeit zu errechnen ist,
die auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung im Sinne des § 14 SGB XI entfällt, sondern auch aus der
Zeit, die für die ergänzende Pflege und Betreuung im Sinne des § 4 Absatz 2 Satz 1 SGB XI benötigt wird. Bei
familiärer, nachbarschaftlicher oder sonst ehrenamtlicher Pflege und Betreuung dürfte der zu berücksichtigende
Pflegeaufwand daher erheblich weiter zu fassen sein, als der für die Feststellung der Pflegestufe maßgebliche Bedarf
(ebenso Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 19 SGB XI Rn. 13 unter Verweis auf Udsching,
SGB XI, 2. Aufl. § 19 Rn. 14). Denn die Pflegeversicherung muss und kann lediglich eine Grundversorgung leisten.
Davon ist die Frage völlig unabhängig, ob § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI nicht zumindest rentenversicherungsrechtlich
diejenigen Nachteile abmildern soll, die nicht erwerbsmäßigen Pflegepersonen regelmäßig entstehen. Solche
Pflegepersonen stammen typischerweise aus dem engsten Verwandten- oder Bekanntenkreis der zu pflegenden
Person und wollen oder müssen aus verständlichen und guten Gründen mehr leisten, als die gesetzliche
Pflegeversicherung zu finanzieren vermag. Damit gehen typischerweise hohe persönliche und oftmals berufliche Opfer
einher, die letztlich auch der Versichertengemeinschaft zu Gute kommen. Diese Frage braucht vorliegend jedoch nicht
entschieden zu werden, weil die Klägerin die Mindeststundenzahl bereits durch Grundpflege überschritten hat (dazu
unten dd).
cc) Auch sachlogische Gründe sprechen gegen eine Gleichsetzung der Pflegetätigkeit im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 1a
SGB VI mit dem Pflegebedarf nach § 15 SGB XI: Zum einen trifft der für die Einstufung in eine Pflegestufe nach § 15
SGB XI ermittelte Pflegebedarf nicht unbedingt eine Aussage über die Bedarfsdeckung. Auch eine hohe Pflegestufe
besagt nichts darüber, ob der Pflegeaufwand zu über 14 Stunden wöchentlich ehrenamtlich erfolgt. Zum anderen
liegen der zeitliche Grenzwert nach § 15 Absatz 3 SGB XI für Pflegestufe I eine halbe Stunde täglich unter und der für
Pflegestufe II eine Stunde täglich über dem Wert von 14 Stunden pro Woche. Da aber auch in Pflegestufe I ein
Überschreiten der Mindeststundenzahl durch nicht erwerbsmäßige Pflege vorgesehen ist (§ 3 Satz 1 Nr. 1a 2.
Halbsatz SGB VI), muss bei Pflegestufe I je nach Höhe des festgestellten Bedarfs ohnehin gesondert ermittelt
werden, ob die Mindeststundenzahl des § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI bzw. § 19 SGB XI abweichend vom Bedarf im
Sinne des § 15 Absatz 3 SGB XI erreicht wird.
dd) Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Mutter im streitigen Zeitraum mindestens 14 Stunden
wöchentlich aus Gründen gepflegt hat, die krankheits- und behinderungsbedingt sind. Hinzu kommen weitere, im
Umfang und der krankheits- und behinderungsbezogenen Notwendigkeit nicht gleichermaßen detailliert glaubhaft
gemachte Tätigkeiten der hauswirtschaftlichen Versorgung. Deren Umfang und rechtliche Notwendigkeit kann für die
vorliegende Entscheidung offen bleiben.
(1) Die Angaben der Klägerin in den vier Pflegetagebögen sind glaubhaft und stehen im unmittelbaren Zusammenhang
mit den unstreitigen Beschwerden der Gepflegten und ihren krankheitsbedingten, erheblichen Beeinträchtigungen in
der Alltagsbewältigung. Diese beruhen in erster Linie auf der Alzheimererkrankung. Die exemplarischen Angaben der
Pflegetagebögen werden durch das weitere Vorbringen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestützt. Die
Angaben auf den Pflegetagebögen spiegeln daher den Pflegeaufwand im gesamten streitigen Klagezeitraum wider.
Das Gericht hat sich insoweit durch umfassende Befragung der Klägerin auch zu den Begleitumständen ihrer
täglichen Hilfeeinsätze ein detailliertes Bild sowohl vom typischen Tagesablauf der Klägerin und ihrer Mutter als auch
von der Dauer dieser Hilfen über den gesamten Klagezeitraum verschafft. Auf kritische Nachfragen antwortete die
Klägerin spontan und kenntnisreich, räumte für körperlich schwere Tätigkeiten beispielsweise Hilfe durch den Nachbar
aber auch gelegentliche Unterstützung durch ihre Schwester ein. Die Angaben der Klägerin sind umso glaubhafter, als
die Klägerin auch über Schwierigkeiten berichtet hat, die Hilfen für ihre Mutter zeitlich mit den Anforderungen ihres
Berufs in Einklang zu bringen. Dass dies dennoch gelang, ist dem Umstand geschuldet, dass die Klägerin - ohnehin,
wie sie auf Nachfrage einräumte - in Teilzeit arbeitete und ihre Arbeitsstelle nur einen Kilometer von der Wohnung der
Mutter entfernt lag. Die Klägerin hat ihrer Darlegungslast genügt. Auch auf ausdrückliche Nachfrage in der mündlichen
Verhandlung hat weder die Beklagte noch die Beigeladene substantiierte Zweifel an den klägerischen Angaben
vorgebracht.
(2) Nach den ärztlichen Befundberichten und Schilderungen der Klägerin hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass
der von der Klägerin geschilderte Pflegeaufwand im vollen Umfang krankheits- und behinderungsbezogen war.
(3) Eine abweichende Feststellungswirkung (zum Begriff Meyer-Ladewig, SGG § 141 Rn. 4) geht von der
Entscheidung der Beigeladenen über die Pflegestufe schon deshalb nicht aus, weil die dabei getroffenen
Feststellungen nach den obigen Ausführungen eine andere als die hier maßgebliche Tatsache betreffen. Im Übrigen
würde eine solche Bindung als Abweichung vom Grundsatz der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) einer ausdrücklichen
oder im Wege der Auslegung ermittelbaren gesetzlichen Grundlage bedürfen. § 62 SGB XII sieht für den Träger der
Sozialhilfe eine solche Bindung an die Entscheidung der Pflegekasse vor. Eine entsprechende Norm gibt es im
Zusammenhang von § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI jedoch nicht; § 44 SGB XI ist gerade nicht an die Träger der
Rentenversicherung, sondern an die Träger der der Pflegeversicherung als potentielle Beitragsschuldner der
gesetzlichen Rentenversicherung gerichtet. Aus Gründen der Gesetzessystematik kann eine Bindungswirkung auch
nicht im Wege der Auslegung in § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI hineininterpretiert werden. Vielmehr wäre vom
Gesetzgeber eine dem § 62 SGB XII ähnliche Regelung zu erwarten, würde er für denselben Sachverhalt
(Feststellungen der Pflegekasse) nicht nur den Träger der Sozialhilfe, sondern auch die Rentenversicherung binden
wollen. Eine solche Bindung kommt auch deshalb nicht in Betracht, weil die Rentenversicherungspflicht nach § 3 Satz
1 Nr. 1 a SGB VI konstitutiv aus dem Gesetz selbst folgt und vom Träger der Rentenversicherung lediglich
deklaratorisch nachvollzogen wird. Eine Bindung wie bei § 62 SGB XII liefe folglich auf ein – nicht mit Art. 20 Abs. 3
Grundgesetz (GG) zu vereinbarendes – Gegenteil des Gesetzesvorbehalts hinaus: die Bindung eines
Parlamentsgesetzes an eine Entscheidung der Pflegekasse bzw. des privaten Versicherungsunternehmens.
(4) Da die Sachverhalte aus diesem Grund nicht ausreichend vergleichbar sind, kann § 62 SGB XII auch nicht analog
zur Anwendung kommen.
(5) Der Einwand der Beklagten, wonach ihr Ermittlungsmöglichkeiten fehlen bzw. nicht in gleichem Maße zur
Verfügung stehen würden wie der Beigeladenen, so dass schon deshalb auf deren Ermittlungen zurückzugreifen sei,
geht aus mehreren Gründen fehl. Zum einen handelt es sich bei den Ermittlungen der Beigeladenen um
Feststellungen über andere als die hier maßgeblichen Tatsachen (s.o.). Zum anderen bedarf es für die relevanten
Ermittlungen keiner Expertise, die der Beigeladenen vorbehalten wäre: Zunächst wären – ggf. formularmäßig –
Angaben der potentiell rentenversicherungspflichtigen Person, die insoweit die Darlegungslast trifft, einzuholen
gewesen. Diese wären sodann auf Vollständigkeit, Schlüssigkeit und Glaubhaftigkeit zu prüfen gewesen.
Gegebenenfalls wäre weiter zu ermitteln gewesen, beispielsweise durch Pflegetagebögen oder Hausbesuche.
Medizinischer Sachverstand ist allein für die sich anschließende – vorliegend wohl gar nicht streitige – Frage
erforderlich, ob der erbrachte Pflegeaufwand zu mindestens 14 Stunden wöchentlich krankheits- oder
behinderungsbezogen ist. Auch insoweit ist allerdings nicht ersichtlich, warum der Beklagten, die einen eigenen
medizinischen Dienst unterhält, insoweit der erforderliche Sachverstand fehlen und ein Rückgriff auf die Ermittlungen
der Beigeladenen erforderlich sein sollte. Stattdessen hat die Beklagte gar keine eigenen Ermittlungen angestellt.
Außerdem hat sie - ebenso wie die Beigeladene - die tatsächlichen Angaben der Klägerin auf den vier
Pflegetagebögen ohne erkennbaren Grund überhaupt nicht berücksichtigt. Die Beklagte hat daher ihrer
Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X nicht genügt.
(6) Das Rechtsinstitut der Tatbestandswirkung (zum Begriff Meyer-Ladewig, SGG § 141 Rn. 4) steht entgegen der
Ansicht der Beklagten nach den obigen Ausführungen zum unterschiedlichen tatsächlichen Anknüpfungspunkt (oben
2. c) bb) ebenfalls nicht eigenen Sachverhaltsermittlungen und -feststellungen entgegen. Darüber hinaus kann die
Entscheidung der Beigeladenen auch gar keine Tatbestandswirkung entfalten, weil sie nicht gestaltender und
konstitutiv feststellender Natur ist. Die Entscheidung der Beigeladenen ist zudem gar kein Verwaltungsakt, so dass
eine Tatbestandswirkung auch deshalb nicht eintreten kann. Denn die Beigeladene konnte – obwohl Körperschaft des
Öffentlichen Rechts – hier als private Pflegeversicherung nicht hoheitlich handeln und hat dies vorliegend auch nicht
versucht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.