Urteil des SozG Freiburg vom 14.06.2007

SozG Freiburg (rente, vollendung, erwerbsfähigkeit, kläger, auslegung, eintritt des versicherungsfalls, kürzung, obiter dictum, bundesrepublik deutschland, vorschrift)

SG Freiburg Urteil vom 14.6.2007, S 6 R 886/07
Erwerbsminderungsrente - Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres - Rentenabschlag -
Verfassungsmäßigkeit
Leitsätze
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind nach § 77 SGB VI auch für Rentenbezugszeiten vor Vollendung
des 60. Lebensjahres nach einem geminderten Zugangsfaktor, also mit Abschlag zu gewähren (entgegen BSG,
Urteil vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R - SozR 4-2600 § 77 Nr 2). Diese Auslegung verstößt nicht gegen Art. 3
und 14 GG
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch des Klägers auf Neuberechnung seiner Rente.
2
Der am ... 1962 geborene Kläger bezieht auf Grund des Bescheides der Beklagten vom 7.10.2002 seit
1.4.2002 von der Beklagten eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die persönlichen Entgeltpunkte, die
dieser Rente zugrunde liegen, sind nach einem um 0,048 auf 0,952 geminderten Zugangsfaktor berechnet, also
mit einem Abschlag von 4,8 % versehen.
3
Am 20.9.2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Berufung auf das Urteil des Bundessozialgerichts
vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R, SozR 4-2600 § 77 Nr 2) die Neufeststellung der Rente ohne Abschläge.
4
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.11.2006 mit der Begründung ab, der Rentenbescheid
sei rechtmäßig. Die zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts sei in einem Einzelfall ergangen. Darüber
hinaus könne die Beklagte ihm nicht folgen.
5
Auch der am 24.11.2006 erhobene Widerspruch des Klägers blieb im Widerspruchsbescheid der Beklagten
vom 8.2.2007 mit im Wesentlichen gleicher Begründung erfolglos.
6
Gegen die Ablehnung seines Antrags im Bescheid vom 20.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 8.2.2007 hat der Kläger am 14.2.2007 Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben, mit der er die
Verpflichtung der Beklagten zur Neuberechnung seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Abschläge
begehrt. Er ist der Auffassung, dass die vorgenommene Kürzung rechts- und verfassungswidrig sei.
7
Der Kläger beantragt,
8
den Bescheid der Beklagten vom 20.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
8.2.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 7.10.2002 über die
Rentengewährung und die Folgebescheide insoweit abzuändern, dass statt eines auf 0,952
geminderten Zugangsfaktors die Rente für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres unter
Zugrundelegung von nach einem Zugangsfaktor von 1,0 berechneten persönlichen Entgeltpunkten
festgestellt wird.
9
Die Beklagte beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11 Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Der Rentenbescheid sei rechtmäßig. Der 4. Senat des
Bundessozialgerichts stehe allein mit seiner Auffassung, bei vor Vollendung des 60. Lebensjahres bezogenen
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit seien nach geltendem Recht keine Abschläge zulässig.
12 Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten im Gerichts- und Verwaltungsverfahren sowie wegen der
Ergebnisse der Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen
Verwaltungsakten der Beklagten über den Kläger (1 Band Rentenakten zur Rentenversicherungsnummer ...)
verwiesen.
Entscheidungsgründe
13 Die Kammer konnte den Rechtsstreit gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche
Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
14 Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20.11.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8.2.2007 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des
Rentenbescheides vom 7.10.2002.
15 Die Aufhebung von Verwaltungsakten ist in den §§ 44–49 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch –
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) geregelt. Diese Vorschriften treffen für die
Aufhebung verschiedener Gruppen von Verwaltungsakten unterschiedliche Regelungen. Sie unterscheiden
nach von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsakten (§§ 44, 45 SGB X), von Anfang an und weiterhin
rechtmäßigen Verwaltungsakten (§§ 46, 47 SGB X) und Verwaltungsakten, in deren Entscheidungsgrundlage in
tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht eine Änderung eintritt (§ 48 SGB X). § 49 SGB X schließlich trifft
Sonderregelungen für die Aufhebung von Verwaltungsakten mit Doppelwirkung im Verfahren über Widerspruch
oder Klage eines von dem Verwaltungsakt betroffenen Dritten. Innerhalb der Gruppen der von Anfang an
rechtswidrigen und von Anfang an und weiterhin rechtmäßigen Verwaltungsakte unterscheidet das Gesetz
jeweils erneut zwischen nicht begünstigenden (§§ 44 und 46 SGB X) und begünstigenden (§§ 45 und 47 SGB
X) Verwaltungsakten.
16 Der hier angefochtene Bescheid ist dabei an § 44 Abs. 1 SGB X zu messen. Soweit sich im Einzelfall ergibt,
dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht
erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X der
Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen.
17 Bei Erlass des Rentenbescheides vom 7.10.2002 ist – soweit er von der Beklagten zu überprüfen war – das
Recht nicht unrichtig angewandt und nicht von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich als unrichtig
erweist. Der Kläger hatte und hat keinen Anspruch auf Gewährung einer mit einem ungeminderten
Zugangsfaktor berechneten Rente wegen voller Erwerbsminderung.
18 Die Höhe einer nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung auszuzahlenden Rente bestimmt sich
nach § 64 des Sozialgesetzbuches – Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI). Danach
ergibt sich der Monatsbetrag der Rente, wenn (1.) die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten
persönlichen Entgeltpunkte, (2.) der Rentenartfaktor und (3.) der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei
Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Die persönlichen Entgeltpunkte für die Ermittlung des
Monatsbetrags einer Rente aus eigener Versicherung ergeben sich nach § 66 Abs. 1 SGB VI, indem die
Summe aller Entgeltpunkte für Beitragszeiten und beitragsfreie Zeiten, für bestimmte, in der Vorschrift
enumerativ genannte Zuschläge und Arbeitsentgelt aus nicht verwendeten Wertguthaben mit dem
Zugangsfaktor vervielfältigt wird.
19 Die Höhe des Zugangsfaktors bestimmt sich nach § 77 SGB VI, für Renten, die – wie hier – vor dem 1.1.2004
begannen, in Verbindung mit § 264c SGB VI. Er richtet sich gemäß § 77 Abs. 1 SGB VI nach dem Alter des
Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der
Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind.
20 Hiernach hat die Beklagte den der Rentenberechnung des Klägers zu Grunde zu legenden Zugangsfaktor
korrekt für alle maßgeblichen Entgeltpunkte mit 0,952 bestimmt.
21 Der Zugangsfaktor ist nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von
persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden
Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in
Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0.
22 Der Kläger hatte bei Rentenbeginn das 63. Lebensjahr noch nicht vollendet. Daher musste die Beklagte nach §
77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI den Zugangsfaktor niedriger als mit 1,0 zu Grunde legen.
23 Zu Recht hat die Beklagte dabei nur eine Kürzung für 16 Monate zu Grunde gelegt. Denn zwar begann die
Rente des Klägers mehr als 16 Monate vor Ablauf des Monats der Vollendung des 63. Lebensjahres des
Klägers. Der Kläger hatte aber bei Rentenbeginn auch das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet.
24 Nach den Sätzen 2 und 3 des § 77 Abs. 2 SGB VI ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des
Zugangsfaktors maßgebend, § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI.
25 Nach der Übergangsregel in § 264c SGB VI ist bei der Ermittlung des Zugangsfaktors für Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor dem 1.1.2004 beginnen, anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres
die Vollendung des in Anlage 23 angegebenen Lebensalters maßgebend. Für einen Rentenbeginn am 1.4.2002
sieht Anlage 23 zum SGB VI als maßgebliches Lebensalter ein Lebensalter von 61 Jahren und 8 Monaten vor.
Zwischen dem Kalendermonat der Vollendung des 61. Lebensjahres und 8. Lebensmonats und dem
Kalendermonat der Vollendung des 63. Lebensjahres liegen 16 Monate.
26 Hiernach hat die Beklagte zutreffend den Zugangsfaktor um 16 mal 0,003 niedriger als 1,0000, also mit 0,952
bestimmt.
27 Die Kammer folgt nicht der durch das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R,
SozR 4-2600 § 77 Nr 3; Randnummern im Folgenden beziehen sich auf die auf der Internetseite des
Bundessozialgerichts www.bundessozialgericht.de veröffentlichte Fassung) vorgenommenen Auslegung des §
77 SGB VI, nach der nach dem Gesetzeswortlaut eine Kürzung der vor Vollendung des 60. Lebensjahres
begonnenen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur für Bezugszeiten ab der Vollendung des 60.
Lebensjahres möglich sei (wie hier: SG Saarbrücken, 8.5.2007 – S 14 R 82/07; SG Köln, 12.4.2007 – S 29 (25)
R 337/06; SG Altenburg, 22.3.2007 – S 14 KN 64/07; SG Aachen, 20.3.2007 – S 13 R 76/06; SG Aachen,
9.2.2007 – S 8 R 96/06; SG Bremen, 21.11.2006 – S 8 RA 180/03; ähnlich LSG Niedersachsen-Bremen,
13.12.2006 – L 2 R 466/06 ER; aus der Literatur wie hier: Bredt, NZS 2007, 192–195; Plagemann, jurisPR-
SozR 20/2006 Anm. 4; wie das Bundessozialgericht: SG Lübeck, 26.4.2007 – S 14 R 235/07; SG Lübeck,
26.4.2007 – S 14 R 191/07; SG Lübeck, 26.4.2007 – S 14 R 301/07; LSG Saarland, 9.2.2007 – L 7 R 40/06;
LSG Saarland, 9.2.2007 – L 7 R 61/06; wohl auch Schaller, SozSich 2006, 215–216). Gegen die vom
Bundessozialgericht vorgenommene Auslegung sprechen Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Systematik
der Norm.
28 So weisen von Koch und Kolakowski ( von Koch/Kolakowski, Der Zugangsfaktor bei Renten wegen
Erwerbsminderung, Die Sozialgerichtsbarkeit [SGb.] 2007, 71, 73) unter Bezugnahme auf die
Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 14/4230, S. 23 u. 24) zu Recht darauf hin, dass der Gesetzgeber entgegen der
Annahme des Bundessozialgerichts ( BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 30–37) durchaus davon ausging,
dass eine Kürzung der Rente durch Minderung des Zugangsfaktors auch für Rentenbezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres wirken sollte. Denn in den Materialien wird ausdrücklich auf einen Ausgleich
dieser Regelung durch die Höherbewertung der Zurechnungszeiten zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr
gegenüber dem Rechtszustand vor dem EM-ReformG eingegangen. Solche Zurechnungszeiten kommen aber
nur Versicherten zu Gute, bei denen der Versicherungsfall der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung oder
der Berufsunfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres eingetreten ist (§ 59 SGB VI). Typischerweise
(wenn auch wegen des Antragserfordernisses nicht zwingend) beginnt in diesen Fällen die Rente ebenfalls vor
Vollendung des 60. Lebensjahres. Auch die Bezugnahme auf Prof. Dr. Ruland in den Entscheidungsgründen
des Bundessozialgerichts (BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 35) geht, wie von Koch/Kolakowski (SGb.
2007, 71, 73 re. Sp.) nachweisen, fehl. Denn auch Prof. Dr. Ruland vom damaligen Verband Deutscher
Rentenversicherungsträger erwähnt unmittelbar vor der vom Bundessozialgericht zitierten Stelle die
Höherbewertung der Zurechnungszeit gegenüber dem früheren Rechtszustand als Ausgleich für die Kürzung
der Rente (Ausschuss-Protokoll des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung 14/57, S. 8, zitiert
nach von Koch/Kolakowski, SGb. 2007, 71, 73 re. Sp. bei Fn. 7 im Text).
29 Hinsichtlich des Wortlauts stellt das Bundessozialgericht (BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 26–29)
darauf ab, dass nach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI Zeiten des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60.
Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten. Hieraus entnimmt es,
dass während dieser Bezugszeit eine Kürzung nicht stattfinden dürfe. § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI stellt
vielmehr eine reine Rechenregel dar, die die Deckelung der Kürzung auf 36 Monate vornimmt (ebenso von
Koch/Kolakowski, SGb. 2007, 71, 73 li. Sp.).
30 Auch die Systematik des Gesetzes spricht gegen die Auslegung durch das Bundessozialgericht.
31 Zum einen nimmt das Bundessozialgericht (BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 37) – wenn auch in einem
obiter Dictum – an, dass bei seiner Auslegung die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bis zur
Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten mit einem ungeminderten Zugangsfaktor, ab Vollendung
des 60. bis zum Eintritt in die Altersrente dagegen mit einem geminderten Zugangsfaktor zu berechnen wäre.
Eine solche Änderung der Grundlagen der Rentenberechnung ist dem Recht der gesetzlichen
Rentenversicherung fremd. Die Rente wird aus mehreren Faktoren berechnet. Davon ist in aller Regel nur ein
einziger – der aktuelle Rentenwert, vom Bundessozialgericht Kurswert genannt – während der Bezugszeit
variabel, die anderen Faktoren – persönliche Entgeltpunkte, Rentenartfaktor, rentenartspezifische Zuschläge –
bleiben demgegenüber regelmäßig konstant. Durchbrechungen dieses Prinzips sind jeweils ausdrücklich
geregelt: Bei Hinterbliebenenrenten sehen beispielsweise § 67 Nr. 5 und 6 SGB VI Absenkungen des
Rentenartfaktors nach Ablauf einer bestimmten Zeit nach dem Tod des Versicherten vor, Zeiten nach
Rentenbeginn werden gemäß §§ 75, 76b SGB VI als Zuschläge an Entgeltpunkten berücksichtigt, Zu- oder
Abschläge nach Versorgungsausgleich werden gemäß § 101 Abs. 3 SGB VI wirksam. Da der Gesetzgeber
eine solche ausdrückliche Regelung in § 77 SGB VI nicht getroffen hat, kann das Prinzip der gleichbleibenden
Berechnungsfaktoren nicht durchbrochen werden.
32 Zudem widerspricht die Absenkung derselben Rente während ihrer Bezugszeit einem anderen, in § 88 SGB VI
niedergelegten Strukturprinzip der gesetzlichen Rente. Nach dieser Vorschrift werden für Folgerenten – nach §
88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI auch für Renten, die auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit folgen –
mindestens die der früheren Rente zu Grunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte zu Grunde gelegt. Dies hat
zur Folge, dass eine Folgerente – gleichen Rentenartfaktor und aktuellen Rentenwert vorausgesetzt – stets
mindestens ebenso hoch ist wie eine zuvor bezogene Rente. Hiermit lässt sich die Annahme, die einer Rente
zu Grunde zu legenden persönlichen Entgeltpunkte und damit bei gleichbleibenden übrigen Faktoren die
Rentenhöhe könnte sich während des Bezugs dieser Rente vermindern, in keiner Weise in Einklang bringen:
Wenn in § 88 SGB VI schon das Vertrauen des Versicherten in die Höhe einer Folgerente geschützt ist, dann
muss erst recht das Vertrauen in die Höhe der gleichen, weiterhin bezogenen Rente geschützt sein.
33 Zum anderen beraubt die durch das Bundessozialgericht vorgenommene Auslegung von § 77 SGB VI die
Vorschrift des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI weit gehend ihres Anwendungsbereichs. In § 77 Abs. 3 Satz 1
SGB VI ist vorgesehen, dass grundsätzlich eine einmal wirksam gewordene Kürzung durch Minderung des
Zugangsfaktors auch in eine Folgerente übernommen wird: Für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage
von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, bleibt der frühere Zugangsfaktor maßgebend.
Dies gilt jedoch nach § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI unter anderem nicht für Entgeltpunkte, die Versicherte
bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor kleiner als 1,0 nach Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung des
63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben. In diesen Fällen wird der verminderte Zugangsfaktor
nach § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI wieder erhöht. Folgte man der Auslegung des Bundessozialgerichts,
hätte diese Vorschrift nur Auswirkungen für die praktisch sehr seltenen Fälle, in denen eine vom Versicherten
bezogene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach Vollendung von dessen 60. Lebensjahr endete, vor
Erreichen der Regelaltersgrenze jedoch eine neue Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit begänne. Bei der
Auslegung, die die Kammer der Vorschrift beigibt, erfasst § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI alle Fälle, in denen
irgendwann vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezogen
worden ist und nach deren Ende, jedoch vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine neue Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit beginnt.
34 Die Kammer hält die von ihr vorgenommene Auslegung des § 77 SGB VI auch – anders als das
Bundessozialgericht – nicht für verfassungswidrig.
35 Das Bundessozialgericht sieht in der von der Kammer vorgenommenen Auslegung von § 77 SGB VI einen
Verfassungsverstoß. Da das Bundessozialgericht in seinem Urteil keine Norm des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland (GG) ausdrücklich nennt, die es als verletzt ansieht, kann die Kammer nur
vermuten, dass es die Art. 3 und 14 GG verletzt sieht. Dies folgert die Kammer daraus, dass das
Bundessozialgericht einerseits an mehreren Stellen von einer Rechtfertigung für eine „Durchbrechung des
Prinzips der ‚leistungsbezogenen Rente‘ “ (BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 17; Anführungszeichen im
Zitat vom Bundessozialgericht), andererseits davon spricht, dass eine bestimmte Gruppenbildung objektiv
willkürlich sei (BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 22).
36 Die Kammer ist davon überzeugt, dass ihre Auslegung von § 77 SGB VI im konkreten Fall Art. 14 GG nicht
verletzt.
37 Nach Art. 14 Abs. 1 GG werden das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet. Inhalt und Schranken werden
durch die Gesetze bestimmt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können
grundsätzlich auch öffentlichrechtliche Ansprüche und Anwartschaften auf Leistungen aus der gesetzlichen
Rentenversicherung unterfallen (seit BVerfG, 28.2.1980 – 1 BvL 17/77, 1 BvL 7/78, 1 BvL 9/78, 1 BvL 14/78, 1
BvL 15/78, 1 BvL 16/78, 1 BvL 37/78, 1 BvL 64/78, 1 BvL 74/78, 1 BvL 78/78, 1 BvL 100/78, 1 BvL 5/79, 1
BvL 16/79, 1 BvR 807/78 [Versorgungsausgleich I], BVerfGE 53, 257–313 = SozR 7610 § 1587 Nr 1, juris-Rn.
145–152; BVerfG, 16.7.1985 – 1 BvL 5/80, 1 BvR 1023/83, 1 BvR 1052/83, 1 BvR 1227/84 [beitragsfreie
Krankenversicherung], BVerfGE 69, 272–315 = SozR 2200 § 165 Nr 81, juris-Rn. 104; BVerfG, 18.2.1998 – 1
BvR 1318/86, 1 BvR 1484/86 [Hinterbliebenenrenten], BVerfGE 97, 271–297 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1, juris-
Rn. 58; BVerfG, 13.6.2006 – 1 BvL 9/00, 1 BvL 11/00, 1 BvL 12/00, 1 BvL 5/01, 1 BvL 10/04 [§ 22 Abs. 4
FRG], SozR 4-5050 § 22 Nr 5, juris-Rn. 79). Sie genießen Eigentumsschutz, wenn es sich um vermögenswerte
Rechtspositionen handelt, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig
zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und seiner
Existenzsicherung dienen ( BVerfG, 18.2.1998 – 1 BvR 1318/86, 1 BvR 1484/86 [Hinterbliebenenrenten],
BVerfGE 97, 271–297 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1, juris-Rn. 58 m. Nachw.). Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG
werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt.
38 Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der Intensität des Eigentumsschutzes danach differenziert,
inwieweit die erworbenen Anwartschaften auf Eigenleistungen des Versicherten beruhen. So hat es die
Begrenzung von Zeiten, die nicht auf Beiträgen des Versicherten beruhen, in weitem Maße für zulässig
gehalten ( BVerfG, 1.7.1981 – 1 BvR 874/77, 1 BvR 322/78, 1 BvR 324/78, 1 BvR 472/78, 1 BvR 543/78, 1
BvR 694/78, 1 BvR 752/78, 1 BvR 753/78, 1 BvR 754/78, 1 BvL 33/80, 1 BvL 10/81, 1 BvL 11/81
[Ausfallzeiten], BVerfGE 58, 81–136 = SozR 2200 § 1255a Nr 7; ebenso jüngst BVerfG, 13.6.2006 – 1 BvL
9/00, 1 BvL 11/00, 1 BvL 12/00, 1 BvL 5/01, 1 BvL 10/04 [§ 22 Abs. 4 FRG], SozR 4-5050 § 22 Nr 5, juris-Rn.
79). Grenze des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers sei insoweit die Verhältnismäßigkeit (
BVerfG, 1.7.1981 – 1 BvR 874/77, 1 BvR 322/78, 1 BvR 324/78, 1 BvR 472/78, 1 BvR 543/78, 1 BvR 694/78,
1 BvR 752/78, 1 BvR 753/78, 1 BvR 754/78, 1 BvL 33/80, 1 BvL 10/81, 1 BvL 11/81 [Ausfallzeiten], BVerfGE
58, 81–136 = SozR 2200 § 1255a Nr 7, juris-Rn. 112).
39 Zudem hat es festgestellt, dass „Gegenstand des Schutzes des Art. 14 GG der Anspruch oder die
Anwartschaft [sind], wie sie sich insgesamt aus der jeweiligen Gesetzeslage ergeben (vgl. BVerfGE 53, 257
(293))“ ( BVerfG, 1.7.1981 – 1 BvR 874/77, 1 BvR 322/78, 1 BvR 324/78, 1 BvR 472/78, 1 BvR 543/78, 1 BvR
694/78, 1 BvR 752/78, 1 BvR 753/78, 1 BvR 754/78, 1 BvL 33/80, 1 BvL 10/81, 1 BvL 11/81 [Ausfallzeiten],
BVerfGE 58, 81–136 = SozR 2200 § 1255a Nr 7, juris-Rn. 99). Eine Beschränkung der Betrachtung allein auf
eine bestimmte Regelungsänderung, ohne dass die Auswirkungen dieser Änderung auf die Renten oder
Rentenanwartschaften insgesamt an Art. 14 Abs. 1 GG gemessen werden, hält es für unzulässig.
Schutzobjekt der Vorschrift sei die rentenversicherungsrechtliche Position insgesamt ( BVerfG, 1.7.1981 – 1
BvR 874/77, 1 BvR 322/78, 1 BvR 324/78, 1 BvR 472/78, 1 BvR 543/78, 1 BvR 694/78, 1 BvR 752/78, 1 BvR
753/78, 1 BvR 754/78, 1 BvL 33/80, 1 BvL 10/81, 1 BvL 11/81 [Ausfallzeiten], BVerfGE 58, 81–136 = SozR
2200 § 1255a Nr 7, juris-Rn. 99).
40 Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung durch die Kammer ist zunächst, dass § 77 SGB VI in der
bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung unzweifelhaft mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar war. Nach dem
damaligen Recht waren für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Abschläge nicht vorgesehen. Diese
Abschläge, technisch durch die Minderung des Zugangsfaktors verwirklicht, wurden erst durch das EM-
ReformG mit Wirkung vom 1.1.2001 eingeführt. Gleichzeitig wurde die Bewertung der zwischen dem 55. und
60. Lebensjahr des Versicherten liegenden Zurechnungszeiten um ein Drittel erhöht. Dies geschah
ausdrücklich, um die Folgen der Einführung der Abschläge auch für Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit abzumildern (BT-Druck. 14/4230, S. 26). Für Renten, die vor dem 1.1.2004 begannen, sieht §
264c SGB VI eine gestufte Übergangsregelung vor, nach der die Kürzungsvorschriften nur gestuft in Kraft
gesetzt werden. Parallel dazu sieht § 253a SGB VI eine gestufte Übergangsregelung vor, nach der die
Höherbewertung der Zurechnungszeiten gestuft in Kraft gesetzt werden.
41 Ausgehend von den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäben ist festzustellen, dass die
Anwartschaft des Klägers auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung durch das EM-ReformG
nicht aufgehoben, sondern lediglich modifiziert wurde (vgl. zu den Modifikationen durch das HBeglG 1984 BSG,
27.2.1997 – 13 RJ 63/96, BSGE 80, 108–119 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 22). Dies gilt nicht nur im Hinblick auf
die Gesamtheit der Ansprüche des Klägers aus der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch im
Hinblick speziell auf die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Das EM-ReformG hat zwar einerseits die
genannten Abschläge eingeführt, andererseits aber – wie gezeigt – durch eine höhere Anrechnung fiktiver
Eigenleistungen des Versicherten einen Ausgleich geschaffen. Für Versicherte, bei denen – wie beim Kläger –
der Versicherungsfall der Erwerbsminderung vor Vollendung des 60. Lebensjahres liegt, führt dies praktisch
dazu, dass rechnerisch zwar ein Abschlag von der auszukehrenden Rente vorzunehmen ist, der vorher nicht
vorhanden war, dass sich andererseits aber bei der Rentenberechnung Zeiten stärker bemerkbar machen, die
nicht auf Eigenleistungen des Versicherten beruhen. Das bedeutet, dass die Einschnitte durch die Einführung
der Abschläge für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit letztlich umso leichter zu rechtfertigen sind, je
jünger der Versicherte bei Eintritt des Versicherungsfalls war. Denn je jünger der Versicherte zu diesem
Zeitpunkt ist, desto weniger beruht die ihm gewährte Rente auf seiner eigenen Leistung und desto weniger
greifen die Abschläge in diesen auf Eigenleistungen beruhenden Teil der Anwartschaft ein.
42 Zwar kommt dem Kläger die Höherbewertung der Zurechnungszeiten wegen der Übergangsregelung in § 253a
SGB VI nicht in vollem Umfang zu Gute. Andererseits trifft ihn die Minderungsregelung des § 264c SGB VI
aber nur in gemindertem Maße, sodass die Kammer dennoch in der Höherbewertung der Zurechnungszeiten
einen Ausgleich sieht.
43 Die Kammer kann dahinstehen lassen, ob die Regelung des § 77 SGB VI in der Fassung des EM-ReformG für
Rentner, die erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres erwerbsgemindert werden, verfassungsgemäß ist.
Denn der Kläger dieses Verfahrens gehört dieser Gruppe nicht an. Allerdings spricht einiges dafür, dass die
Einschränkung der in diesen Fällen vollständig auf Eigenleistungen beruhenden Anwartschaft durch den vom
EM-ReformG verfolgten Zweck gerechtfertigt sind, einem Ausweichen von Versicherten aus der vorzeitigen,
nur mit Abschlägen möglichen Altersrente in die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken.
44 Demgegenüber hat die Kammer keinerlei Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 77 SGB VI
in der Fassung des EM-ReformG für Rentner, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres erwerbsgemindert
werden. Denn für diese Rentner wird die in § 77 SGB VI vorgesehene Kürzung durch die Höherbewertung der
Zurechnungszeiten ausgeglichen. Zwar betrifft dies Rentner verschiedener Jahrgänge unterschiedlich stark.
Jedenfalls für den Fall des Klägers, der noch weit von der Vollendung des 60. Lebensjahres entfernt ist, stellt
sich die Regelung als verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung dar.
45 Die Kammer sieht weiter in ihrer Auslegung von § 77 SGB VI im konkreten Fall keinen Verstoß gegen Art. 3
Abs. 1 GG.
46 Nach dieser Vorschrift sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts folgt hieraus jedoch kein Verbot für den Gesetzgeber, Differenzierungen
vorzunehmen. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine
andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem
Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (st. Rspr., statt vieler BVerfG, 28.02.2007
– 1 BvL 5/03, FamRZ 2007, 529–531, juris-Rn. 31).
47 Zwar ist dem Bundessozialgericht ( BSG, 16.5.2006 – B 4 RA 22/05 R, Rn. 37) zuzugeben, dass das EM-
ReformG unterschiedliche Gruppen von Rentnern unterschiedlich stark trifft. So sind ältere Versicherte von der
Kürzung stärker in ihren auf Eigenleistungen beruhenden Teilen der Rentenanwartschaft betroffen als jüngere
Versicherte, für die ein Ausgleich geschaffen worden ist. Da der Kläger, der von der Vollendung des 60.
Lebensjahres noch weit entfernt ist, jedenfalls zu einer der besser behandelten Gruppen gehört, kann er sich
zur Begründung einer einschränkenden Auslegung von § 77 SGB VI, wie sie das Bundessozialgericht
vorgenommen hat, auf eine Schlechterbehandlung älterer Versicherter nicht berufen.
48 Da der Kläger erstmals Rente bezog, musste die Beklagte den verminderten Zugangsfaktor zur Ermittlung der
persönlichen Entgeltpunkte auf die Summe aller Entgeltpunkte anwenden.
49 Weitere Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sind weder vorgetragen noch
ersichtlich.
50 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.