Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 16.10.2009

SozG Frankfurt: anspruch auf bewilligung, eintritt des versicherungsfalles, berufsunfähigkeit, altersrente, rentenanspruch, kündigung, arbeitsmarkt, arbeitsvermittlung, krankheit, versicherungsschutz

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 16.10.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 6 R 407/08
Hessisches Landessozialgericht L 2 R 23/10
Der Bescheid der Beklagten vom 21.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2008 wird
aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilet, der Klägerin Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.05.2008 bis
31.10.2008 in gesetzlichem Umfang zu bewilligen.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Bewilligung einer Versichertenrente wegen Erwerbsminderung.
Die Klägerin ist 1948 geboren und ausgebildete Medizinisch-Technische Assistentin. Als solche war sie
versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt dauerhaft seit 01.01.1999 in Teilzeittätigkeit mit 4 Stunden täglich an 5
Tagen pro Woche. Seit 01.04.2004 ist die Klägerin arbeitslos.
Sie stellte am 29.10.2007 bei der Beklagten Rentenantrag.
Diese holte eine Auskunft bei dem letzten Arbeitgeber, der Klinik JL., vom 20.12.2007 ein sowie medizinische
Berichte der behandelnden Ärzte und bewilligte sodann eine Rehabilitationsmaßnahme, welche von der Klägerin
jedoch im August 2007 aus gesundheitlichen Gründen abgesagt wurde.
Nach Einholung der medizinischen Berichte und eines sozialmedizinischen Gutachtens der Ärztlichen
Untersuchungsstelle vom 09.01.2008 ergab sich die Diagnose einer Somatisierungsstörung sowie eines
unbefriedigend eingestellten Hypertonus sowie einer Wirbelsäulen-Fehlhaltung mit der Folge, dass bei der Klägerin
sozialmedizinisch nur noch ein 3- bis unter 6-stündiges tägliches Leistungsvermögen für leichte Arbeiten unter
qualitativen Einschränkungen bestehe, dies sowohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als auch im zuletzt erlernten
und ausgeübten Hauptberuf.
Mit Bescheid vom 21.01.2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, da die Klägerin nach den medizinischen
Feststellungen nicht voll Erwerbsgemindert sei. Auch ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
bestehe nicht, da die Klägerin ihre zuletzt verrichtete Teilzeittätigkeit im bisherigen zeitlichen Umfang weiter ausüben
könne. Von dem hiervon auszugehenden bisherigen zeitlichen Umfang der Tätigkeit, dass heißt von der den
maßgebenden Hauptberuf darstellenden Teilzeittätigkeit, sei die Klägerin auch nicht berufsunfähig gemäß § 240 SGB
VI.
Die Klägerin erhob am 29.01.2008 Widerspruch und machte geltend, auf die seit einigen Jahren durchgeführte
Teilzeitbeschäftigung dürfe bei der Beurteilung nicht abgestellt werden; grundsätzlich sei eine Vollzeittätigkeit, die sie
auch ihr Leben lang überwiegend ausgeübt habe, als Maßstab zugrunde zu legen. Wegen des festgestellten
eingeschränkten Leistungsvermögens von 3 bis unter 6 Stunden täglich beantrage sie eine Ausgleichsrentenzahlung.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2008 zurück und wiederholte die
Begründung aus dem Ausgangsbescheid; insbesondere lasse sich trotz eingeschränkten Leistungsvermögens die
Feststellung von teilweiser Erwerbsminderung nicht rechtfertigen, da die Klägerin die zuletzt verrichtete
Teilzeittätigkeit im bisherigen Umfang und unter den üblichen Bedingungen weiter ausüben könne, was auch die
Annahme von Berufsunfähigkeit ausschließe, da von einem "Teilzeit-Hauptberuf" auszugehen sei.
Mit der am 02.06.2008 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und macht geltend, sie habe ihre
Arbeitszeit ab dem 01.01.1999 wegen betriebsbedingter Umstrukturierungen um 50 % reduzieren müssen, was gegen
ihren Willen zur Abwendung von Arbeitslosigkeit erfolgt sei. Sie habe sich hierauf eingelassen, da ihr andernfalls die
Kündigung ausgesprochen worden wäre. Zum 01.04.2004 sei dann durch den Arbeitgeber die betriebsbedingte
Kündigung erfolgt, da das Labor, in welchem die Klägerin gearbeitet habe, aus wirtschaftlichen Gründen aufgelöst
worden sie. Die Klägerin selbst habe immer Vollzeit arbeiten wollen. Diese Entwicklung könne ihr nicht angelastet
werden.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 21.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
06.05.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung,
hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Beginn der Altersrente am 01.11.2008 in gesetzlichem Umfang
zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf den Widerspruchsbescheid und hält nach wie vor an der Rechtsauffassung fest, die Teilzeittätigkeit,
die die Klägerin zuletzt vom 01.01.1999 bis 31.03.2004 ausgeübt habe, sei bei der Beurteilung sowohl des
quantitativen Leistungsvermögens der Klägerin als auch der Frage der Verweisbarkeit auf zumutbare Tätigkeiten und
der Frage nach etwaiger Berufsunfähigkeit zugrunde zu legen. Die Klägerin habe sich dauerhaft einer Teilzeittätigkeit
zugewandt, die nun auch im zeitlichen Umfang als Hauptberuf und Verweisbarkeitsmaßstab gelten müsse und
zugrunde zu legen sei.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten bei dem Neurologen Dr. E., dem Hausarzt und
Internisten Dr. C., dem Internisten Dr. P., sowie der Orthopädin Dr. D ...
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte
der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und sachlich auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 21.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2008 ist rechtswidrig
und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bewilligung einer Versichertenrente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend
von einem Versicherungsfall mit Rentenantragstellung am 29.10.07 und damit einem Rentenbeginn mit dem 7.
Kalendermonat, d. h. ab dem 01.05.2008 bis 31.10.2008. Hierbei ergibt sich das Ende der Rentenbewilligung aufgrund
der Tatsache, dass die Klägerin seit 01.11.2008 vorzeitige Altersrente erhält; der Rentenbeginn folgt aus §§ 102 Abs.
2 Satz 1, § 101 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, 6. Buch (SGB VI).
Zur Überzeugung steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass bei der Klägerin aufgrund ihres
Krankheitsbildes nur noch ein drei- bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen gegeben ist – dies sowohl im
Hauptberuf der medizinisch-technischen Assistentin als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Einschätzung
zum Leistungsvermögen wird auch aus Sicht der Beklagten geteilt, ist gewissermaßen zwischen den Beteiligten
unstreitig und ergibt sich schlüssig aus den dokumentierten und beigezogenen medizinischen Berichten. Eine
Veranlassung zu weiterer medizinischer Sachaufklärung sieht das Gericht unter Hinweis auf die aktuell im
Klageverfahren eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte nicht.
Allerdings sind die rechtlichen Schlüsse, die die Beklagte aus den Feststellungen zum quantitativen
Leistungsvermögen der Klägerin zieht, völlig unzutreffend.
Die Rechtsauffassung der Beklagten, wonach für die Frage der Leistungsfähigkeit und zumutbaren Verweisbarkeit
sowie Prüfung einer Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI als auszugehendem Beurteilungsmaßstab nicht nur von
Inhalt und Qualifikation der Beschäftigung, sondern auch deren zeitlichem Umfang auszugehen sei (Teilzeit-
Hauptberuf), ist schlichtweg unzutreffend und nicht haltbar und die Aufrechterhaltung dieses Rechtsstandpunkts für
das Gericht nicht nachvollziehbar.
Die genannte Rechtsauffassung findet weder im Gesetz (§§ 43, 240 Sozialgesetzbuch, 6. Buch) eine rechtliche
Grundlage noch eine Stütze in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts oder entsprechender
Landessozialgerichte, was der Beklagten auch bekannt sein dürfte. Denn auch die Beklagte konnte hierzu auf
Nachfrage weder eine rechtliche Grundlage benennen noch eine entsprechende als maßgeblich anzusehende
Rechtsprechung eines anderen Gerichts; eine solche war auch von Seiten des Gerichts nicht zu ermitteln, sodass
davon auszugehen ist, dass die Beklagte diese abseits jeder herrschenden Rechtsausübung liegende rechtliche
Handhabe der §§ 43, 240 SGB VI einer höchstrichterlichen Prüfung offensichtlich nicht zugeführt hat.
Der zeitliche Umfang der bisherigen täglichen bzw. wöchentlichen Arbeitszeit eines Versicherten bedingt keine
Begrenzung eines Rentenanspruchs derart, dass die im Einzelfall bei untervollschichtig eingeschränktem
Leistungsvermögen tatsächlich gegebene Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes unbeachtlich wäre, wenn der
Versicherte vor Eintritt des Leistungsfalles dauerhaft lediglich eine untervollschichtige Tätigkeit ausgeübt hat. Die
Beklagte geht offensichtlich – jedoch ohne jegliche Rechtsgrundlage – davon aus, dass in einem derartigen Fall keine
durch Rentenleistung auszugleichende Einkommensminderung gegeben sei (lediglich ein Aufgabentatbestand der
Arbeitsvermittlung?), insoweit auch kein rentenversichertes Risiko eingetreten sei.
Für diese Rechtseinschätzung findet sich keine gesetzliche Grundlage, die es rechtfertigt, den gesetzlich normierten
Rentenanspruch entgegen §§ 43, 240 SGB VI derart zu beschränken. Unter welchen Voraussetzungen teilweise
Erwerbsminderung gegeben ist und zu einem Rentenanspruch führt, hängt nach dem Gesetz allein davon ab, ob
Versicherte "wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein" (§ 43 Abs.1
Satz 2 SGB VI). Dass dies auch davon abhänge, dass die Versicherten zuvor dauerhaft vollschichtig
versicherungspflichtig beschäftigt waren, sagt das Gesetz nicht. So würde etwa andernfalls die Regelung des § 5
Abs.2 Satz 2 SGB VI ad absurdum geführt oder leer laufen, nach welcher geringfügig Beschäftigte durch schriftliche
Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber auf die Versicherungsfreiheit bindend verzichten können, um sich so einen
Versicherungsschutz aufzubauen; da geringfügig Beschäftigte nicht vollschichtig tätig sind, stellte sich damit die
Frage eines überhaupt möglichen Renteanspruchs wegen Erwerbsminderung, da sie - die Rechtsauffassung der
Beklagten zu Grunde gelegt – auf eine geringfügige Beschäftigung verwiesen werden müssten.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht vorliegend fest, dass – wie auch die Beklagte bereits im
Rentenantragsverfahren festgestellt hat und zwischen den Beteiligten unstreitig ist – bei der Klägerin lediglich ein
noch 3 bis unter 6-stündiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten unter qualitativen Einschränkungen, auch im
letzten Hauptberuf der medizinisch-technischen Assistentin vorliegt.
Es ist damit davon auszugehen, dass die Klägerin zumindest seit Rentenantragstellung gesundheitlich nur noch in der
Lage ist, untervollschichtig Arbeiten leichten Inhalts unter gewissen qualitativen Einschränkungen zu erbringen.
Da der Klägerin ein entsprechender Teilzeitarbeitplatz weder zur Verfügung steht noch von der zuständigen
Arbeitsagentur im Rahmen eines Jahres nach Rentenantragstellung vermittelt werden konnte, ist vorliegend eine
Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes gegeben. Der Klägerin ist daher entsprechend der geltenden Rechtslage
eine Erwerbsminderungsrente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit mit Beginn des 7. Kalendermonats nach Eintritt
des Versicherungsfalles und damit ab dem 01.05.2008 in gesetzlichem Umfang zu bewilligen. Dieser Rentenanspruch
ist – wie oben bereits ausgeführt – mit Beginn der Altersrente am 01.11.08 beendet. Der Klage war daher
stattzugeben.
Warum es trotz der hier rechtlich und tatsächlich eindeutig gegebenen Sachlage zu einem Klageverfahren kommen
musste, ist für das Gericht nicht erklärlich. Allerdings sieht die sozialgerichtliche Verfahrensordnung in derartigen
Fällen nichts anderes vor, als der Behörde die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Dies ist vorliegend auch
geschehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §193 Sozialgerichtsgesetz.