Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 10.11.2009

SozG Frankfurt: befreiung von der versicherungspflicht, compliance, rechtsberatung, kontrolle, vertragsverhandlung, outsourcing, form, hessen, gerichtsakte, unternehmen

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 10.11.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 25 KR 121/06
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 19/10
1. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Dezember 2005
wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2006 nach § 6 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen. Im Übrigen haben die Beteiligten einander
keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung für ihre von Januar 2005 bis März 2006 bei der Beigeladenen ausgeübten Beschäftigung.
Die 1971 geborene Klägerin wurde im November 2004 als Rechtsanwältin zugelassen. Mit der Zulassung wurde sie
Pflichtmitglied in der Rechtsanwaltskammer A-Stadt sowie seit 17. November 2004 im Versorgungswerk der
Rechtsanwälte im Lande Hessen. Auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags vom 14. Dezember 2004, wegen dessen
Inhalt auf Blatt 53 bis 57 der Gerichtsakte Bezug genommen wird, war die Klägerin vom 1. Januar 2005 bis 31. März
2006 als Compliance Managerin bei der P-Gesellschaft für Wertpapieranlagen mbH (seit 1. Januar 2007 X-GmbH - im
Folgenden Beigeladene genannt -) angestellt. Aufgrund dieser Beschäftigung war die Klägerin bei der Beklagten
pflichtversichert.
Am 18. März 2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Befreiung von der Versicherungspflicht in der
gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche
Rentenversicherung (SGB VI). Unter Punkt 4. des Antragsvordrucks bestätigte die Beigeladene am 1. März 2005,
dass die Klägerin als Rechtsanwältin in ihrem Unternehmen tätig sei.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Juli 2005 die Befreiung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI mit der
Begründung ab, dass es sich bei der Beschäftigung bei der Beigeladenen nicht um eine berufsständische anwaltliche,
sondern um eine berufsfremde Beschäftigung handele.
Hiergegen legte die Klägerin am 11. August 2005 Widerspruch ein und machte geltend, dass sie rechtsberatend und
rechtsvertretend für die Beigeladene in der Abteilung Risk Management & Compliance tätig sei. Ihre Tätigkeit bestehe
unter anderem im Erstellen von Geldwäscheanzeigen nach dem Geldwäschegesetz, der Vertragserstellung,
Vertragsverhandlung und die Kontrolle bestehender Verträge unter juristischen Aspekten sowie in der Sicherstellung
der Einhaltung der entsprechenden gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen (Bankenaufsichtsrecht,
Kreditwesengesetz, Wertpapierhandelsgesetz). Ferner betreue sie alle weiteren relevanten juristisch anfallenden
Fragen, die im Zusammenhang mit Wertpapierkunden stehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung ihrer
Entscheidung führte sie im Wesentlichen aus, eine Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 SGB VI für die abhängige Beschäftigung der Klägerin als Compliance Managerin bei der Beigeladenen sei nicht
zulässig, weil es sich hierbei um keine berufsständische (anwaltliche) Tätigkeit handele. Diese Beschäftigung führe
nicht zur Pflichtmitgliedschaft in der Berufskammer und im Versorgungswerk der Rechtsanwälte. Eine nicht
anwaltliche, sonstige juristische Tätigkeit könne nicht zu einer Befreiung von der Versicherungspflicht zur
gesetzlichen Rentenversicherung führen (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2003 - L
10 RA 2154/02; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. März 2004 - L 4 RA 12/03;
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. August 2005 - L 3 RA 72/04). Auch die Ausnahmeregelung
des § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI könne keine Anwendung finden.
Am 27. Januar 2006 hat die Klägerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Sie ist der Auffassung,
dass die Befreiungsvoraussetzungen gegeben sind, da die Merkmale der anwaltlichen Tätigkeit erfüllt seien. Die
Klägerin hat vorgetragen, in der Abteilung Risk Management & Compliance mit dem Outsourcing Management und
dem Outsourcing Controlling beschäftigt gewesen zu sein. In diesen Bereich falle die Vergabeentscheidung im
Rahmen einer Due Dilligence Prüfung für einen externen Vertragspartner und die Erstellung von Verträgen sowie die
Kontrolle der externen Dienstleister. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liege im Vertragsmanagement, das die
Vertragserstellung, Vertragsverhandlung und die Überprüfung bestehender Verträge unter juristischen
Gesichtspunkten beinhalte. Des Weiteren gehöre die Entwicklung, Implementierung und fortlaufende Aktualisierung
von Verfahren und Kontrollen zur Verhinderung von Geldwäsche, Bearbeitung von Geldwäsche-Verdachtsmeldungen
und dem Erstellen von Verdachtsanzeigen zu ihren Aufgaben. Inbegriffen sei auch die Rechtsberatung, rechtliche
Erwägungen würden von ihr in einem geschäftlichen und strategischen Rahmen integriert. Zu ihren Tätigkeiten hätten
ebenso die Rechtsgestaltung, d. h. die Anwendung von gesetzlichen Regelungen auf den konkreten Sachverhalt, und
die Rechtsvermittlung in Form mündlicher und schriftlicher Darstellung von abstrakten Regelungskomplexen gehört.
Des Weiteren hat die Klägerin geltend gemacht, dass zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung noch andere
Voraussetzungen für die Befreiung von der Versicherungspflicht gegolten hätten.
Seit 1. April 2006 ist die Klägerin bei der Y Bank in der Abteilung Compliance/Geldwäschebekämpfung beschäftigt.
Für diese Tätigkeit befreite die Beklagte mit Bescheid vom 28. Juni 2007 die Klägerin von der Versicherungspflicht in
der gesetzlichen Rentenversicherung.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.
Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Renteversicherung für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2006 nach § 6 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die anwaltliche Tätigkeit werde durch die vier Kriterien
Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsvermittlung und Rechtsgestaltung charakterisiert. Die Beigeladene habe
der Klägerin zwar die Aufgabenfelder Rechtsberatung, vermittlung und –entscheidung bestätigt, jedoch sei weiterhin
nicht nachgewiesen, dass die Klägerin zum selbständigen Führen von Vertrags- und Entscheidungsverhandlungen mit
den verschiedensten Partnern des Arbeitgebers befugt gewesen sei.
Das Gericht hat mit Beschluss vom 28. August 2008 die X-GmbH zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladene hat
vorgetragen, dass die Klägerin in ihrer Funktion als Compliance Officerin die Kriterien der Rechtsberatung,
Rechtsentscheidung, Rechtsvermittlung und Rechtsgestaltung erfüllt und somit eine anwaltliche Tätigkeit in ihrem
Hause ausgeübt habe. In weiteren Schriftsätzen vom 15. Januar 2009, 20. März 2009 und 31. August 2009 hat die
Beigeladene die Tätigkeit der Klägerin im Einzelnen beschrieben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung
war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte über die Klage auch in Abwesenheit der Beigeladenen aufgrund mündlicher Verhandlung
entscheiden, da sie auf diese Möglichkeit in der schriftlichen Terminsladung hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1
Satz 2, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet. Der Bescheid vom 14. Juli
2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Dezember 2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung, denn sie war von Januar 2005 bis März 2006 bei der Beigeladenen als Rechtsanwältin
beschäftigt.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI in der bis 30. April 2007 geltenden und vorliegend anzuwendenden Fassung
werden unter bestimmten Voraussetzungen (Nr. a bis c) auf Antrag Angestellte und selbständig Tätige für die
Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz
beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung
ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich Kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied
einer berufsständischen Kammer sind, von der Versicherungspflicht befreit. Die Befreiung von der gesetzlichen
Versicherungspflicht setzt eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit voraus, die in der gesetzlichen
Rentenversicherung die Versicherungspflicht von Gesetzes wegen oder auf Antrag begründet hat und nimmt unter den
Voraussetzungen der Zugehörigkeit zum Personenkreis des § 6 Abs. 1 und eines Antrags nach § 6 Abs. 2 SGB VI
die von ihr erfassten Sachverhalte von der Versicherungspflicht aus. Die Regelung soll den betroffenen
Berufsangehörigen die Verpflichtung nehmen, Beiträge zu zwei weitgehend funktionsgleichen Sicherungssystemen
zahlen zu müssen. Die Befreiung ist nicht Personen-, sondern Tätigkeitsbezogen. Die Befreiung erfolgt nur wegen der
jeweiligen Beschäftigung, aufgrund derer eine Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung
besteht (Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 22. Oktober 1998 - B 5/4 RA 80/97 R - SozR 3 - 2600 § 56 Nr. 12).
Die Befreiung setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Berufsangehörigen, für die
Versicherungsbefreiung in Anspruch genommen wird und dem Versicherungsschutz durch die berufsständische
Versorgungseinrichtung voraus. Versicherungsbefreiung kann nur dann in Anspruch genommen werden, wenn sich die
Tätigkeit des Mitglieds der Versorgungseinrichtung, die von der Versicherungspflicht befreit werden soll, als
berufsspezifisch darstellt. Die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht sind demnach getrennt
nach den einzelnen sie begründenden Beschäftigungen oder selbständigen Tätigkeiten zu ermitteln. Sie erfasst in
derselben Person nicht weitere Beschäftigungen oder Tätigkeiten, für die nicht die Befreiung von der
Versicherungspflicht ausgesprochen ist oder auf die sich die ausgesprochene Befreiung nicht nach § 6 Abs. 5 Satz 2
SGB VI erstreckt (BSG, Urteil vom 22. Oktober 1998, B 5/4 RA 80/97 R - SozR 3 - 2600 § 56 Nr. 12).
Die Voraussetzungen für eine Befeiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI für die
abhängige Beschäftigung der Klägerin bei der Beigeladenen vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2006 sind gegeben. Die
Klägerin ist seit November 2004 Pflichtmitglied in der Rechtsanwaltskammer A-Stadt und damit auch seit 17.
November 2004 Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Hessen. Entgegen der Auffassung
der Beklagten ist die Beschäftigung der Klägerin als Compliance Managerin in der Abteilung Risk Management &
Compliance der Beigeladenen als anwaltliche Tätigkeit zu werten. Nach nunmehr wohl herrschender Meinung übt eine
anwaltliche Tätigkeit aus, wer rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd handelt
(vgl. Kilger/Prossliner, Die Rechtssprechung zum Recht der berufsständischen Versorgung seit dem Jahre 2004, NJW
2006 Seite 3108). Die Beklagte hat zugestanden, dass die Aufgabenfelder Rechtsberatung, Rechtsvermittlung und
Rechtsentscheidung von der Klägerin erfüllt werden. Nach Auffassung der Kammer war die Klägerin aber auch
rechtsgestaltend für die Beigeladene tätig. Die Klägerin hat sowohl in ihrer Widerspruchsbegründung als auch in ihrem
Klagevorbringen geltend gemacht, dass ihre Tätigkeit unter anderem in der Vertragserstellung, Vertragsverhandlung
und der Kontrolle bestehender Verträge bestanden habe. Zu ihrem Aufgabenbereich habe auch die
Vergabeentscheidung im Rahmen einer Due Dilligence Prüfung für einen externen Vertragspartner und die Erstellung
von Verträgen sowie die Kontrolle der externen Dienstleister gehört. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit habe im
Vertragsmanagement gelegen, das die Vertragserstellung, -verhandlung und die Überprüfung bestehender Verträge
unter juristischen Gesichtspunkten beinhalte. Die Beigeladene hat am 1. März 2005 unter Punkt 4. des
Antragsvordrucks bestätigt, dass die Klägerin als Rechtsanwältin in ihrem Unternehmen tätig sei. Mit Schriftsatz vom
13. November 2008 hat die Beigeladene attestiert, dass die Klägerin in ihrer Funktion als Compliance Officerin die
Kriterien der Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsvermittlung und Rechtsgestaltung erfüllt und somit eine
anwaltliche Tätigkeit in ihrem Hause ausgeübt habe. Darüber hinaus hat die Beigeladene in ihrer
Tätigkeitsbeschreibung vom 15. Januar 2009 auch das Aufgabenfeld der Rechtsgestaltung bestätigt. Sie hat nämlich
ausgeführt, dass im Rahmen von nationalen und internationalen Prüfungen und Kontrollen durch die
Aufsichtsbehörden und Wirtschaftsprüfer die Klägerin ebenfalls Ansprechpartnerin gewesen sei. In diesem
Zusammenhang habe sie den rechtlichen Standpunkt des Unternehmens auch im Konfliktfall erläutert und vertreten.
Bei der Vertragsgestaltung sowie sonstigen Vereinbarungen sei es zudem Aufgabe der Klägerin gewesen, dass
nationale und internationale gesetzliche sowie behördliche Auflagen und Bestimmungen auch eingehalten wurden.
Im Übrigen kann sich die Beklagte im Nachhinein nicht mehr darauf berufen, dass eine rechtsgestaltende Tätigkeit der
Klägerin für die Beigeladene weiterhin nicht nachgewiesen sei. Denn nachdem die Beklagte zunächst eine
Bearbeitung des Befreiungsantrages der Klägerin bis zu einem Besprechungsergebnis des Verbandes Deutscher
Rentenversicherungsträger vom 7. Juni 2005 ohne sachgerechten Grund zurückgestellt hatte, lehnte sie die
beantragte Befreiung durch Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.
Dezember 2005 ab, ohne den konkreten Sachverhalt durch eine Befragung der Beigeladenen überhaupt ermittelt zu
haben. Damit hat die Beklagte gegen ihre Amtsermittlungspflicht nach § 20 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) verstoßen. Zum damaligen Zeitpunkt hätten noch
Verantwortliche der Beigeladenen Auskunft erteilen können, die die Tätigkeit der Klägerin noch aus eigener
Anschauung beurteilen konnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.