Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 19.01.2006

SozG Frankfurt: zusicherung, umzug, hauptsache, erlass, auszug, schichtdienst, mietzins, flughafen, gefahr, gerichtsakte

Sozialgericht Frankfurt
Beschluss vom 19.01.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 48 AS 21/06 ER
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Zusicherung zur Übernahme
derjenigen Mietaufwendungen zu erteilen, die der Antragstellerin seit 15. November 2005 und bis zum
frühestmöglichen Auszug aus der Wohnung in B. durch die Anmietung der Wohnung in N. entstehen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes von der Antragsgegnerin nach dem Zweiten
Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) die Übernahme von Kosten, die infolge doppelter Mietaufwendungen entstehen.
Am 25. Oktober 2005 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Übernahme jener Kosten als
"Trennungskostenbeihilfe" aus Anlass ihres Umzuges von B. nach N ... Hintergrund des Umzugsvorhabens ist die
Arbeitsaufnahme der Antragstellerin bei der Deutschen Z. AG zum 4. Oktober 2005 mit einer Arbeitszeit von 28
Stunden wöchentlich im Schichtdienst. Mit ihrem Antrag legte die Antragstellerin die Lohnabrechnung für Oktober
2005 in Kopie vor, aus der sich ergibt, dass der Nettoverdienst für den genannten Monat 775,36 Euro betrug. Ferner
legte die Antragstellerin Kostenvoranschläge zweier Umzugsunternehmen vom 21. Oktober 2005 vor sowie den am
27. Oktober 2005 von ihr unterzeichneten Mietvertrag betreffend die oben genannte Wohnung in N., nach dem jenes
Mietverhältnis am 15. November 2005 begann. Der von der Antragstellerin zu entrichtende Mietzins beträgt
ausweislich des genannten Vertrages 520,00 Euro zuzüglich 100,00 Euro Nebenkosten.
Durch Bescheid vom 10. November 2005 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin mit der
Begründung ab, dieser sei verspätet gestellt worden, da die Arbeitsaufnahme bereits am 4. Oktober 2005 gewesen sei
und Antragstellung grundsätzlich "vor Eintritt des Ereignisses" zu erfolgen habe. Dagegen legte die Antragstellerin am
5. Dezember 2005 Widerspruch ein und trug vor, sie habe vor ihrer Arbeitsaufnahme Arbeitslosengeld II bezogen und
sei alleinerziehend. Es sei ihr nicht möglich, den Umzug aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Einen Kredit könne sie
nicht aufnehmen, da sie wegen ihrer Schulden bereits eine eidesstattliche Versicherung abgegeben habe. Außerdem
sei es ein unzumutbarer Zustand, schon so lange von ihren Kindern getrennt zu sein. Sie wohne derzeit (in N.) in einer
leeren Wohnung und habe weder einen Tisch, an dem sie sitzen und essen noch ein Bett, in dem sie schlafen könne.
Die Wohnung in B., die auch bezahlt werden müsse, da sie nicht umziehen könne, sei bereits zum 30. November
2005 gekündigt worden. Da sie ihre Kinder nicht zu sich holen könne, würden diese dort weiter wohnen. Der von ihr im
Jahre 2004 unterzeichneten Mobilitätsverpflichtung, dem bundesweiten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, sei sie
voll und ganz nachgekommen. Schließlich gehe die Arbeitsaufnahme auf ihre Eigeninitiative zurück.
Den Widerspruch der Antragstellerin wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005
zurück und bezog sich in der Begründung im Wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid.
Am 5. Januar 2006 hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und vorgetragen, sie
arbeite seit 4. Oktober 2005 bei der Z. am Flughafen und habe vom 4. Oktober 2005 bis 15. November 2005 bei einer
Freundin gewohnt. Beginnend mit dem 15. November 2005 habe sie die Wohnung in N. angemietet. Diese stehe zur
Zeit noch leer, da sie sich es bisher nicht habe leisten können, ihre Möbel aus B. herbringen zu lassen. Hinsichtlich
der Eilbedürftigkeit merke sie an, dass ihre Kinder noch in B. seien und sie diese schnellstmöglich zu sich holen
wolle. Ohne die Gewährung einer "Trennungskostenbeihilfe" sei ihr das aber nicht möglich.
Ergänzend hat die Antragstellerin dem Gericht auf fernmündliche Nachfrage am 16. Januar 2006 erklärt, sie habe
Arbeitslosengeld II bis zur Arbeitsaufnahme von der Antragsgegnerin bezogen. Sie arbeite Teilzeit in Schichtdienst
am Flughafen Y ... Die Probezeit laufe im März 2006 ab. Sie sei seit 1997 geschieden, alleinerziehend und habe drei
Kinder: Tochter N. (15 Jahre), Sohn A. (13 Jahre) und Sohn S.-C. (12 Jahre). Zur Zeit würden die Kinder in B. von
ihrer Mutter betreut werden. Dies geschehe allerdings, indem sich die Kinder noch in ihrer alten Wohnung aufhielten
und dort auch schliefen, hingegen ihre Mutter, die die Wohnung auf der gleichen Etage gegenüber bewohne, die Kinder
versorge. Ihre Mutter sei im Übrigen auch die Mieterin ihrer alten Wohnung. Sie selbst sei dort Untermieterin. Zwar sei
das Mietverhältnis zum 30. November 2005 gekündigt worden, die Wohnungsgesellschaft gestatte jedoch derzeit
noch die Weiternutzung. Den Mietzins zahle sie aber nicht. Hierfür werde "wohl" die hinterlegte Kaution herangezogen.
Dies regele zur Zeit ihre Mutter.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
die Zusicherung zur Übernahme derjenigen Mietaufwendungen zu erteilen, die ihr seit 15. November 2005 und bis zum
frühestmöglichen Auszug aus der Wohnung in B. durch die Anmietung der Wohnung in N. entstehen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Sie meint, die Antragstellerin habe nicht dargelegt, weshalb die einstweilige Anordnung erforderlich sei, um schwere
unzumutbare, nicht wieder gutzumachende Nachteile abzuwenden. Auch werde die Sache im Hauptsacheverfahren
keine Aussichten auf Erfolg haben.
Ein Mitarbeiter des Jugendamtes B. teilte dem Gericht auf Nachfrage am 16. Januar 2006 mit, die Betreuung der
Kinder der Antragstellerin in B. durch deren Großmutter, die diese aber in der alten Wohnung der Antragstellerin
weitgehend sich selbst überlasse, sei nur noch kurzfristig tragbar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte
sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen
ist.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Denn die Antragstellerin hat einen
Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Übernahme doppelter Mietaufwendungen als Wohnungsbeschaffungskosten.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in
Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen
Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege
des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund nämlich einen Sachverhalt,
der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch stehen insoweit
in Wechselbeziehung zueinander als die Anforderungen an die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (den
Anordnungsanspruch) mit zunehmender Eilbedürftigkeit und schwere des drohenden Nachteils (dem
Anordnungsgrund) sinken und umgekehrt.
Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige
Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht
vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die
Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung
stattzugeben.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -
i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG). Dabei sind, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die
Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen
(vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005, Aktenzeichen: 1 BvR 569/05). Nach dieser
Rechtsprechung müssen sich die Gerichte im Übrigen stets schützend und fördernd vor die Grundrechte des
Einzelnen stellen.
Bereits die summarische Prüfung führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin die
Übernahme der von der Antragstellerin geltend gemachten Mietaufwendungen durch Bescheid vom 10. November
2005 zu Unrecht abgelehnt hat.
Zwar sind jene Mietaufwendungen nicht als "Trennungskostenbeihilfe" zu übernehmen, da hier freilich nicht das Dritte
Buch des Sozialgesetzbuches (SGB III) anzuwenden ist (vgl. dort § 53 Abs. 2 Nr. 3 c), sondern das SGB II. Denn die
Antragstellerin hat bis zu ihrer Arbeitsaufnahme von der Antragsgegnerin Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende bezogen (Alg II).
Die von der Antragstellerin geltend gemachten Mietaufwendungen sind von der Antragsgegnerin allerdings als
Wohnungsbeschaffungskosten i. S. d. § 22 Abs. 3 SGB II zu übernehmen.
Dem steht im vorliegenden Fall weder entgegen, dass nach § 22 Abs. 3 SGB II eine vorherige Zustimmung der
Antragsgegnerin erforderlich ist, noch, dass nach Satz 1 der genannten Vorschrift von dieser eine
Ermessensentscheidung zu treffen ist. Insbesondere aber kann keine Rede davon sein, dass der Antrag der
Antragstellerin vom 25. Oktober 2005 etwa verspätet gestellt worden wäre wie die Antragsgegnerin meint.
Diesbezüglich ist nämlich der Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme der Antragstellerin gar nicht maßgebend.
Die Antragstellerin hat vielmehr glaubhaft gemacht, dass ihr aus Gründen, die die Antragsgegnerin zu vertreten hat,
zusätzliche Mietaufwendungen dadurch entstehen, dass sie seit 15. November 2005 über die Kosten für die
Mietwohnung in B. hinaus auch Aufwendungen für die Wohnung in N. hat. Zwar hat die Antragstellerin angegeben, die
Wohnung in B. sei zum 30. November 2005 gekündigt worden, gleichwohl entstehen ihr fortlaufend zumindest
Nutzungskosten, weil sich die Wohnungseinrichtung der Antragstellerin noch vollständig dort befindet, sich deren
Kinder weiterhin dort aufhalten und nicht davon auszugehen ist, dass der dortige Vermieter die Weiternutzung
unentgeltlich gestattet. Hat die Antragstellerin doppelte Mietaufwendungen seit ihrer Arbeitsaufnahme in Y. am 4.
Oktober 2005 noch vermieden, weil sie zunächst bei einer Freundin wohnte, so ist diese Sachlage mit der Anmietung
der Wohnung in N. ab 15. November 2005 eingetreten.
Das Entstehen doppelter Mietaufwendungen hat die Antragstellerin jedoch zumutbar nicht abwenden können, denn
dies ist darauf zurückzuführen, dass die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für den durch die
Arbeitsaufnahme der Antragstellerin bedingten Umzug von B. nach N. rechtswidrig verweigert hat, so dass die
Antragstellerin bislang daran gehindert war, den Umzug durchzuführen. Diesbezüglich wird Bezug genommen auf die
Gründe des Beschlusses des erkennenden Gerichts vom 17. Januar 2006 (Az.: S 48 AS 19/06 ER).
Die Antragsgegnerin ist deshalb verpflichtet, die Zusicherung zur Übernahme der Mietaufwendungen der
Antragstellerin für die Wohnung in N. als Wohnungsbeschaffungskosten bis zu dem Zeitpunkt zu erteilen, von dem an
der Antragstellerin die Durchführung des Umzuges von B. nach N. frühestens möglich sein wird. Denn können bei
einem notwendigen Wohnungswechsel die Mietzeiträume wegen der Kündigungsfristen oder notwendiger
Renovierungsarbeiten nicht nahtlos aufeinander abgestimmt werden, so können zumutbar nicht abwendbare doppelte
Mietaufwendungen ("Überschneidungskosten") bei der gebotenen weiten Auslegung der Normen nach vorheriger
Zustimmung als Wohnungsbeschaffungskosten übernommen werden (vgl. Berlit in LPK - SGB II § 22 Rd.-Nr. 66 mit
Hinweisen auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung). Die Übernahme solcher "Überschneidungskosten" ist erst
recht dann geboten, wenn - wie hier - bei einem durch auswärtige Arbeitsaufnahme bedingten notwendigen
Wohnungswechsel der Leistungsträger durch rechtswidrige Verweigerung der Übernahme zustehender Umzugskosten
die Entstehung doppelter Mietaufwendungen erst verursacht.
Bei derartigen Konstellationen liegt freilich hinsichtlich der Übernahme als Wohnungsbeschaffungskosten ein Fall der
Ermessensreduzierung i. S. d. § 22 Abs. 3 Satz 2 SGB II vor und entfällt das Erfordernis der "vorherigen"
Zusicherung schon weil der tatsächliche Geschehensablauf eine solche nicht zulässt. Zudem ist das Erfordernis
vorheriger Zusicherung bereits in Fällen treuwidriger Verzögerung einer fristgerecht möglichen Entscheidung
verzichtbar, was erst recht dann zu gelten hat, wenn zustehende Leistungen rechtswidrig vorenthalten werden (vgl.
zum vorstehenden Berlit in LPK - SGB II § 22 Rd.-Nr. 58).
Nach alledem wäre eine Klage der Antragstellerin in der Hauptsache offensichtlich begründet, so dass die
Anforderungen an dem Anordnungsgrund gering sind (s. o.) und dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung
stattzugeben war schon weil der Antragstellerin fortlaufend doppelte Mietaufwendungen entstehen, solange ihr Umzug
nicht erfolgt ist. Freilich obliegt der Antragstellerin dabei die Verpflichtung, den Umzug von B. nach N. zu dem ihr
frühestmöglichen Zeitpunkt durchzuführen, sobald die Antragsgegnerin auf den Beschluss des erkennenden Gerichts
vom 17. Januar 2006 (Aktenzeichen S 48 19/06 ER) die Zusicherung zur Übernahme der angemessenen
Umzugskosten erteilt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.