Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 18.01.2006

SozG Frankfurt: körperliche unversehrtheit, vorläufiger rechtsschutz, arzneimittel, hauptsache, krankenversicherung, verfügung, erlass, sachleistung, universität, krankenkasse

Sozialgericht Frankfurt
Beschluss vom 18.01.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 25 KR 958/05 ER
1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Dauer von zwölf Monaten das Arzneimittel
"Herceptin" im Rahmen der vertragsärztlichen Verordnung als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen wird
der Antrag abgelehnt.
2. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin zum Zwecke der
Nachbehandlung eines operierten Mammakarzinoms.
Die 1958 geborene Antragstellerin ist als Familienangehörige bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Am 12. Juni
2004 wurde in M. eine Primäroperation mit Brusterhaltender Therapie und Lymphonodektomie bei Mammakarzinom
links vorgenommen. Anschließend erfolgte von Juli 2004 bis November 2004 eine Chemotherapie mit einem Zyklus
EC und fünf Zyklen FEC. Im Dezember 2005 wurde eine Strahlentherapie abgeschlossen. Bei der Antragstellerin liegt
ein Mammakarzinom mit den folgenden Risikoparametern vor: negative Östrogen – und Progesteronrezeptoren, HER-
2/neu 3-fach positive Überexpression und junges Erkrankungsalter. Seit dem 31. Oktober 2005 unterzieht sich die
Antragstellerin einer adjuvanten Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin (Wirkstoff Trastuzumab). Für diese
adjuvante Therapie besitzt Herceptin weder die deutsche noch eine europaweite Zulassung. Herceptin ist bislang nur
für die Behandlung des metastasierenden Mammakarzinoms arzneimittelrechtlich zugelassen.
Unter Vorlage des Arztberichts des Klinikums der Universität M. vom 06. Juli 2004, eines Schreibens der Kliniken der
G. – Universität M. vom 18. Juli 2005 und des Arztberichts der Frauenklinik R. vom 11. November 2004 beantragte
die Antragstellerin am 21. Juli 2005 bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für eine einjährige
Herceptintherapie.
Nach Einholung eines Kurzgutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 25. Juli 2005 lehnte
die Antragsgegnerin mit Bescheid (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) vom 28. Juli 2005 die beantragte Kostenübernahme
mit der Begründung ab, dass die Wirksamkeit von Herceptin für eine Anwendung außerhalb der Zulassung noch nicht
wissenschaftlich nachgewiesen sei. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 20. September 2005 ist bislang
nicht entschieden.
Am 29. Dezember 2005 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main den Erlass einer einstweiligen
Anordnung beantragt. Sie ist der Ansicht, eine Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin sei aufgrund ihrer hohen
Risikosituation erforderlich, um Rezidive zu vermeiden und ihre Überlebenszeit zu verlängern. Die Kriterien für den
Zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (Off-Label-Use) seien erfüllt. Es läge eine schwerwiegende
Erkrankung ohne Therapiealternativen vor. Der Einsatz von Herceptin in ihrer Behandlungssituation entspreche dem
aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft und dem Konsens der einschlägigen Fachkreise. Qualität und
Wirksamkeit der adjuvanten Herceptintherapie sei in vier Studien nachgewiesen worden. Es bestehe die begründete
Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Sie sei nicht in der Lage, die notwendige Behandlung aus eigenen Mitteln
sicherzustellen.
Die Antragstellerin beantragt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr das
Arzneimittel Herceptin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als Sachleistung zur Verfügung zu
stellen, soweit ihr dieses vertragsärztlich verordnet wird.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch vorliegen. Wissenschaftlich
nachprüfbare Daten über die Wirksamkeit und den Nutzen der Therapie anhand von Phase III-Studien seien bisher
nicht veröffentlicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet, denn die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen
vor.
Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden
könnte (S. 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint (S. 2).
Vorliegend kommt eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG in Betracht, da die vorläufige Begründung
einer Rechtsposition begehrt wird. Eine solche Regelungsanordnung ist nur dann begründet, wenn ein
Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen und eine Abwägung der betroffenen Interessen zugunsten
des Antragstellers ausfällt. Ein Anordnungsanspruch ist dabei gegeben, wenn der zu sichernde Anspruch des
Antragstellers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht. Ein Anordnungsgrund liegt bei der Regelungsanordnung
vor, wenn eine Regelung entsprechend § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG zur Abwendung eines wesentlichen Nachteils nötig
erscheint.
Die vorstehend genannten Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, denn die Antragstellerin hat sowohl einen
Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch auf Kostenübernahme der Behandlung mit Herceptin glaubhaft
gemacht (§ 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO -).
Die Kammer bejaht einen Anordnungsgrund für eine vorläufige Regelung. Die Leistungsträger im Bereich der
gesetzlichen Krankenversicherung haben den Versicherten zu gewährleisten, dass die normierten Sach- und
Dienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V -)
zur Verfügung gestellt werden. Die Grundentscheidung, jedem Versicherten die zur Erhaltung, Wiederherstellung oder
Besserung des Gesundheitszustandes erforderlichen Dienste oder Heil- und Hilfsmittel zu verschaffen, dient dem
Schutz der Mehrheit der Kassenmitglieder. Deren verfügbares, für die Lebensführung verwendbares (Erwerbs-
)Einkommen reicht in der Regel nicht aus, Arzneien, Heil- oder Hilfsmittel zusätzlich zum Beitrag in mehr als
geringem Umfang vorzufinanzieren (Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 16. Dezember 1993, 4 RK 5/92, BSGE
73, 271, 275 = SozR 3-2500 § 13 Nr. 4). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass den Versicherten regelmäßig
erhebliche finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere für die
Beschaffung von notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06. Dezember 2005, 1
BvR 347/98, Absatz-Nr. 52) Das gesetzliche Naturalleistungsgebot schließt dementsprechend grundsätzlich auch die
Selbstbeschaffung von Diensten oder Sachen aus. Gerade bei schwerwiegenden Erkrankungen, wie hier, kann die
Leistungserbringung im Rahmen der Sachleistung dann nicht in Frage gestellt werden, wenn Heilung oder Besserung
der Krankheit nicht von vorneherein gänzlich auszuschließen sind. Jede Krebserkrankung ist lebensbedrohlich und
beeinträchtigt die Betroffenen nachhaltig und erheblich in der Lebensqualität. In dieser Situation ist es der
Antragstellerin, die zudem zwei minderjährige Kinder zu versorgen hat, nicht zuzumuten, einen Großteil des
monatlichen Einkommens für die Beschaffung des hier streitigen Präparats, dessen Kosten sich auf durchschnittlich
2600 EUR monatlich belaufen, aufzuwenden.
Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB
V ist eine Krankenkasse zur Versorgung des bei ihr versicherten Mitglieds mit den für eine Krankenbehandlung
notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Anspruch eines versicherten Mitglieds unterliegt jedoch den sich aus § 2
Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst hiernach nur solche Leistungen, die
zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Der Gesichtspunkt der Gewährleistung optimaler Arzneimittelsicherheit
gebietet es aber, dass Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, also die Einhaltung der Mindestsicherheits- und
Qualitätsstandards in einem dafür vorgesehenen Verfahren nachgewiesen worden sind (BSG, Urteil vom 18. Mai 2004
- B 1 KR 21/02 R; SozR 4-2500 § 31 Nr. 1 = BSGE 93, 1). Eine solche abschließende Studie fehlt für die vorliegend
umstrittene adjuvante Therapie noch, worauf die Antragsgegnerin zu Recht hinweist. Gleichwohl schließt dies nicht
generell eine vorläufige Regelung zur Frage der Leistungserbringung aus. Die erkennende Kammer stellt hierzu auf
eine Folgenabwägung ab. Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1
Grundgesetz (GG) in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie aus Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgt, dass eine
Folgenabwägung vorzunehmen ist, welche die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Antragstellerin
hinreichend zur Geltung bringt. Dabei sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt
hat, wenn von der Entscheidung in einem gerichtlichen Verfahren mittelbar Lebensgefahr für den Einzelnen ausgehen
kann (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22.11.2002, 1 BvR 1586/02, NJW 2003, 1236; Beschluss vom 19.
März 2004, 1 BvR 131/04, NJW 2004, 3100). Danach sind die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen
Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der
Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das
Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der
Anspruch nicht bestand.
Diese Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen,
die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer
vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Auch bei
Verpflichtungs- beziehungsweise Vornahmesachen ist jedenfalls dann vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn
ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 25. Oktober 1988, 2 BvR 745/88, BVerfGE 79, 69; zuletzt Beschluss vom 19. März 2004, 1 BvR
131/04, NJW 2004, 3100). Solche anders nicht abwendbare Nachteile können bei dem bestehenden Krankheitsbild
einer Krebserkrankung der Antragstellerin ersichtlich nicht hinweggedacht werden. Für die vorliegende Entscheidung
ist zu berücksichtigen, dass in der medizinischen Diskussion zu diesem Krankheitsbild weitgehend Einigkeit darüber
bestehen dürfte, dass in bestimmten Versorgungs- und Therapiebereichen auf einen die Zulassungsgrenzen
überschreitenden Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden kann, wenn dem Patienten eine dem
Stand neuester medizinischer Erkenntnisse entsprechende Behandlung nicht vorenthalten werden soll (vgl. dazu die
Nachweise in BSG, Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R -; SozR 3-2500, § 31 Nr. 8 = BSGE 89, 184;
Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 13. April 2005 - L 8 KR 38/05 ER -). Sollte die erst genannte
Alternative erfüllt sein, d. h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so
entstünden der Antragstellerin schwerwiegende Nachteile. Im Wege der Therapie mit Herceptin könnte ihre
Erkrankung dann jedenfalls nicht mehr behandelt werden. Sie würde damit einem erhöhten Rezidiv- und
Mortalitätsrisiko ausgesetzt. Die – möglicherweise rechtswidrige - Haltung der Antragsgegnerin könnte dazu führen,
dass sich für die Antragstellerin eine Rechtsschutzlücke auftäte, die nach den oben genannten Kriterien vor dem
Hintergrund einer möglichen Verletzung von Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht
hingenommen werden darf. Demgegenüber wiegen die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen
Anordnung zum Nachteil der Antragsgegnerin eintreten, weniger schwer. Zwar entstünde der Antragsgegnerin im
diesem Falle ein finanzieller Schaden. Sie könnte ihn nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 945 ZPO von der
Antragstellerin ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der Hauptsache herausstellen sollte, dass
der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis nicht begründet war. Selbst wenn ein solcher
Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar wäre, führt dennoch die Abwägung eines bloßen finanziellen
Schadens der Antragsgegnerin auf der einen Seite, des Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit der
Antragstellerin auf der anderen Seite zu der aus dem Tenor ersichtlichen Entscheidung.
Mit Blick hierauf war im Rahmen der Folgenabwägung bei der angestrebten Behandlung der Antragstellerin auch
darauf abzustellen, dass die Antragstellerin, die an einer schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankung leidet,
unwidersprochen vorgetragen hat, eine Behandlungsalternative besteht nicht. Eine solche wurde ihr von der
Antragsgegnerin auch nicht benannt. Zwar sind abschließende wissenschaftliche Daten über die Wirksamkeit und den
Nutzen der Therapie bisher noch nicht veröffentlicht. Jedoch deuten die von der Antragstellerin vorgelegten Berichte
über die bislang durchgeführten Studien und die Veröffentlichung im New England Journal of Medicine vom 20.
Oktober 2005 (NEJM 2005; 353: 1659 – 1672) sowie das in ihrem Auftrag erstellte Gutachten des Privatdozenten Dr.
U., Leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe G., zur Behandlungssituation
der Antragstellerin darauf hin, dass bei einer Behandlung mit Herceptin sowohl die Rezidivrate als auch das
Mortalitätsrisiko deutlich geringer ist als bei der alleinigen Chemotherapie. Es besteht die realistische Aussicht auf
Verbesserung der Heilungs- bzw. zumindest längerer Überlebenschancen. In diese Richtung weisen auch
Informationen des Deutschen Krebsforschungszentrums vom Mai 2005, wonach sich in Studien im Frühsommer 2005
andeute, dass auch Frauen profitieren würden, die keine Metastasen hätten, aber unter einer vielleicht aggressiveren
Form von Brustkrebs leiden würden (vgl. www.krebsinformation.de/fragen-und-antworten/herceptin.htm). Das
Deutsche Ärzteblatt hat in seiner Online - Ausgabe vom20.Oktober2005(http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?
p=Herceptin&src=suche&id=21773) ebenfalls über die HERA – Studie berichtet, aufgrund deren Ergebnisse es
feststehen dürfte, dass Herceptin demnächst auch eine Zulassung für die Behandlung beim operablen Karzinom ohne
Metastasen erhält. Die Antragstellerin kann sich außerdem auf positive Bewertungen der Fachgesellschaften, u.a. der
Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie, berufen. Sämtlichen medizinischen Fachartikeln ist zu
entnehmen, dass der voraussichtliche Behandlungsvorteil von Herceptin in Fällen einer Überexpression von HER 2 –
neu in der nicht metastasierenden Erkrankungssituation aufgrund der vorliegenden Phase III – Studien inzwischen
fachwissenschaftlichen Konsens bildet. Die Erkenntnisse über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels Herceptin
in dem neuen Anwendungsgebiet lassen demnach erste wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über einen
voraussichtlichen Nutzen auch in der adjuvanten Krebstherapie zu. Mit Blick hierauf sprechen gewichtige Gründe
dafür, dass auch im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von
Herceptin bejaht werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 06. Dezember 2005 (1
BvR 347/98) entschieden, es sei mit Art. 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip
nicht vereinbar, einen Versicherten, der an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung
leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten
Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode
eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen.
Vor diesem Hintergrund war deshalb im Rahmen der Folgenabwägung zunächst ein Behandlungszyklus von zwölf
Monaten zuzusprechen, der ggf. verlängert werden kann.
Der hier bejahte Anordnungsanspruch verstößt nicht gegen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes (AMG). Die für
Deutschland fehlende Verkehrsfähigkeit des Präparats Herceptin schließt die Behandlung nicht aus, weil die
unmittelbare Anwendung am Patienten keine Abgabe (eines Heilmittels) im Sinne des AMG darstellt. Der einzelne
Arzt ist weder arzneimittelrechtlich noch berufsrechtlich gehindert, bei seinen Patienten auf eigene Verantwortung ein
auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einzusetzen (BSG, Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00
R -, SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 = BSGE 89, 184). Wegen eines zeitlich begrenzten Therapieversuchs besteht nicht die
Gefahr, dass die hier ausgesprochene Verpflichtung faktisch eine Markteinführung bewirkt und so die Vorschriften des
AMG unterläuft (vgl. dazu Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. April 2005, L 8 KR 38/05 ER).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.