Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 13.11.2009

SozG Frankfurt: berufliche tätigkeit, anerkennung der krankenkasse, firma, hörgerät, kommunikation, telefon, versorgung, berufsausübung, rehabilitation, anforderung

Sozialgericht Frankfurt
Urteil vom 13.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 6 R 834/08
Hessisches Landessozialgericht L 2 R 36/10
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2008 wird
aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Anschaffung eines Hörgerätesystems "S." der Firma Y.
zu erstatten.
3. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für eine spezielle Hörgeräteversorgung im Rahmen von
Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Der 1958 in Vietnam geborene Kläger ist ausgebildeter Industrieelektroniker Gerätetechnik. Er leidet an einer
hochgradigen, an Taubheit grenzenden Innenohrschwerhörigkeit. Zurzeit steht er in einem unbefristeten
Arbeitsverhältnis als Produktionselektroniker bei der Firma K. GmbH in K.
Einen entsprechenden Kostenübernahmeantrag, mit welchem der Kläger auch einen ärztlichen Befundbericht und eine
Tätigkeitsbeschreibung seines Arbeitsplatzes vorlegte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20.08.2008 ab; sie
führte zur Begründung aus, die Versorgung mit Hörgeräten sei grundsätzlich dem Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenversicherung zuzuordnen. Eine Kostenübernahme im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
durch den Rentenversicherungsträger sei nur möglich, sofern dies ausschließlich berufsbedingt bzw. zur
Berufsausübung notwendig sei.
Der Kläger erhob am 10.09.2008 Widerspruch und trug vor, er benötige zur Berufsausübung ein spezielles
Hörgerätesystem. Der hohe Geräuschpegel am Arbeitsplatz würde ergänzt durch permanente Warnsignale des
fahrerlosen Transportsystems und weiteren akustischen Signalen bei Fehlern im Produktionsprozess; gleichzeitig sei
trotzdem eine reibungslose Kommunikation erforderlich, um den Produktionsprozess aufrecht erhalten zu können.
Hierbei sei jedoch vor allem die notwendige telefonische Kommunikation gestört, was ein besonderes
Hörgerätesystem berufsbedingt erfordere.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung
aus, die grundsätzlich bestehende Leistungspflicht der Krankenversicherung entfalle nur dann, wenn das Hilfsmittel
nicht lediglich die Funktionsstörung in medizinischer Hinsicht beseitige, sondern die Folgeerscheinungen der
Behinderung für eine bestimmte berufliche Verrichtung ausgleiche. Das beantragte Hörgerätesystem sei dagegen
nicht ausschließlich für die berufliche Tätigkeit als Elektroniker erforderlich. Die Hörgeräteversorgung sei als
medizinische Leistung von der
Krankenkasse zu erbringen – insbesondere, wenn die konkrete Berufstätigkeit, wie hier, ein normales Hörvermögen
und kein spezielles Hören – wie etwa bei einem Musiker – voraussetze.
Mit der am 14.11.2008 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und vertieft zur Begründung sein
bisheriges Vorbringen. Insbesondere trägt er vor, die erforderliche telefonische Kommunikation am Arbeitsplatz sei
ohne das spezielle Hörgerät für ihn nicht möglich. Das zurzeit auf dem Markt existierende Hörgerät, welches dies
ermögliche, heiße "S." der Firma Y., wobei die Anlage das Telefon und das Hörgerät verbinde. Die Anlage könne dann
nur mit dem Telefon in der Firma kommunizieren, jedoch nicht mit dem Telefon zuhause, woraus sich das
ausschließlich berufliche Erfordernis ergebe.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 20.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
27.10.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Versorgung mit einem Hörgerätesystem der
Marke "S." der Firma Y. zu übernehmen, hilfsweise, den entsprechenden Kostenantrag des Klägers unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie vertieft ihr bisheriges Vorbringen und führt ergänzend aus, mit der Anerkennung der Krankenkasse als
Kostenträger sei es im Falle der dortigen rechtmäßigen Festbetragsregelung nicht möglich, eine etwaige Differenz
zum tatsächlichen Aufwand zu erstatten (sogenanntes Aufstockungsverbot), da andernfalls die gesetzliche
Leistungsbegrenzung unzulässig umgangen würde.
Die Tätigkeit des Klägers als Elektroniker in der Fertigung erfordere kein, über das normale Maß im Berufsleben
herausragendes Hörvermögen, das heißt es bestehe kein besonderer, Arbeitsplatz bezogener Bedarf.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte
der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und sachlich auch begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten für die Anschaffung eines
Hörgerätesystems "S." der Firma Y. als Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben gem. §§ 9 ff. Sozialgesetzbuch, 6.
Buch (SGB VI).
Nach Rechtsauffassung der Kammer ist auf den entsprechend gestellten Kostenübernahmeantrag des Klägers keine
andere rechtmäßige Entscheidung der Beklagten denkbar, sodass das im Rahmen der Maßnahmeauswahl zur
beruflichen Rehabilitation im Erwerbsvermögen geminderter oder erheblich gefährdeter Versicherter grundsätzlich der
Beklagten durch den Gesetzgeber eingeräumte Auswahlermessen vorliegend auf Null reduziert ist und damit
eingeschränkt auf die Bewilligung der von dem Kläger begehrten Maßnahme in Form der Kostenübernahme zur
Anschaffung des genannten digitalen Hörgerätesystems.
Nach den Vorschriften der §§ 9 ff. SGB VI gewährt der Rentenversicherungsträger auch Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen. Die Gewährung der Leistung liegt im
pflichtgemäßen Ermessen des Rentenversicherungsträgers, insbesondere was die Auswahl der näher zu
bezeichnenden Maßnahme und die wirtschaftliche Verwendung der Mittel angeht. Auf die Gewährung entsprechender
Maßnahmen besteht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen grundsätzlich ein Rechtsanspruch. Gemäß § 16
SGB VI erbringen die Träger der Rentenversicherung die Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den Vorschriften
der §§ 33 bis 38 Sozialgesetzbuch, 9. Buch (SGB IX).
Hierzu bestimmt § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch die Kosten für
Hilfsmittel umfassen, die wegen Art oder Schwere der
Behinderung zur Berufsausübung erforderlich sind, es sei denn der Arbeitgeber ist zur Bereitstellung der Hilfsmittel
verpflichtet oder solche Leistungen als medizinische Leistung erbracht werden können.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die originäre Versorgung eines entsprechend im Hörvermögen
geschädigten Versicherten mit einem Hörgerät eine medizinische Leistung im Sinne des § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX in
Verbindung mit § 33 Abs.1 SGB V darstellt, da dieses regelmäßig nicht ausschließlich für die Berufstätigkeit benötigt
und benutzt, sondern im gesamten täglichen Leben eingesetzt wird zur Befriedigung des Grundbedürfnisses des
Hörens (vgl. Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31.01.2006, Az.: L 2 R 268/05).
Unter alleiniger Zugrundelegung dieses Maßstabes käme eine Hörgeräteversorgung durch die Beklagten per se
niemals in Betracht, denn es ist kaum denkbar oder wirtschaftlich sinnvoll, dass ein einmal angeschafftes
Hörgerätesystem nicht in allen möglichen Bereichen des täglichen Lebens des Hörgeschädigten eingesetzt wird, so
auch der Gesetzgeber kein Gebot ausschließlich beruflicher Nutzung der zur beruflichen Rehabilitation eingesetzten
und angeschafften Hilfsmittel aufstellt.
Etwas anderes muss daher gelten, wenn die spezifische Berufstätigkeit des Versicherten ein nicht lediglich normales,
sozusagen umgangssprachlich ausreichendes Hörvermögen verlangt, sondern spezielle Anforderungen an das Hören
stellt – wie dies etwa im Falle eines Musikers oder möglicherweise auch eines Klavierstimmers anzuerkennen wäre.
Dabei kann nach Auffassung der Kammer ein Kostenübernahmeanspruch jedoch nicht auf derartige Fälle beschränkt
bleiben. Der berechtigte Personenkreis ist vielmehr auch auf den Fall zu erweitern, in welchem sich die spezifisch
erhöhte Anforderung an ein besonderes Hören nicht aus der beruflichen Tätigkeit an sich, wie etwa dem musizieren,
Klavier stimmen etc., ergibt, sondern aus den konkreten spezifischen Bedingungen des beruflichen Umfeldes, in
welchem die Tätigkeit des Versicherten ausgeübt werden muss.
So liegt der Fall hier. Der Kläger konnte zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft darlegen, dass die von ihm seit
August 2009 allein zu verrichtende Kontrolltätigkeit zum einen in einer maschinenbestückten Werkhalle mit
erheblichem Grundgeräuschpegel ausgeführt werden muss, ergänzt durch permanente Warnsignale eines fahrerlosen
Transportsystems sowie weiterer akustischer Signale bei Fehlgängen im Produktionsprozess. Der Kläger konnte zum
anderen glaubhaft darlegen, dass seine berufliche Tätigkeit gerade in der Kontrollaufgabe der Maschinenfunktionen
besteht und insbesondere darin, bei Fehlern im maschinellen Vorgang, welche automatisch durch akustisch lautstarke
Warnsignale dargestellt würden, den Beseitigungsvorgang der Fehlerquelle durch telefonische Kontaktaufnahme und
Klärung mit anderen Stellen zu veranlassen und durchzuführen, was entscheidender Teil seines Arbeitsinhaltes
darstellt.
Insoweit hegt die Kammer keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Schlüssigkeit des klägerischen Vortrages und
sieht sich zur weiteren Sachaufklärung oder Beweisaufnahme - etwa zu technischen Fragen der vorliegend gegebenen
beruflichen Gegebenheiten - nicht veranlasst.
Die erhöhte Anforderung an das spezifische Hörvermögen des Klägers ergibt sich vorliegend nicht aus den zu
verrichtenden Tätigkeiten an sich – insbesondere dem im Störfall erforderlichen telefonieren -, sondern aus dem
Umstand, dass diese Verrichtung, die bisher von einem oder mehreren anderen Mitarbeitern durchgeführt wurde bzw.
werden konnte, bei der gegebenen erhöhten Lärmbelästigung durch Maschinenlärm und Störsignale von dem Kläger –
ausschließlich im beruflichen Zusammenhang – nicht ausgeführt werden kann. Der Kläger kann damit ohne die
beantragte Hörgeräteversorgung seine wesentliche Arbeitsaufgabe nicht ausführen, sodass der Arbeitsplatz glaubhaft
gefährdet erscheint.
Eine andere rechtmäßige Entscheidung als die Kostenübernahme durch die Beklagte für das insoweit auf dem Markt
allein taugliche Hörgerätesystem ist nach Auffassung der Kammer im Rahmen der Ausübung des gesetzlich
eingeräumten Ermessensspielraumes bei der Auswahl der Mittel zur Erreichung der gesetzgeberischen Zielvorgabe,
nämlich der Gewährung effektiver und gebotener beruflicher Teilhabemaßnahmen, weder ersichtlich noch denkbar auf
der Grundlage des vorliegend bei dem Kläger gegebenen konkreten beruflichen und gesundheitlichen Sachverhaltes.
Der Klage war daher in vollem Umfang statt zu geben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.