Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 26.02.2004

SozG Frankfurt: krankenversicherung, ärztliches gutachten, anerkennung, verbindlichkeit, seltenheit, bestandteil, klinikum, empfehlung, versorgung, krankenkasse

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Gericht:
SG Frankfurt 30.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 30/25 KR
2369/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Tenor
Der Bescheid vom 27. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 28. Juni 2002 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine Liposuktion dem Grunde nach zu
übernehmen.
Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für eine Liposuktion.
Die 1974 geborene Klägerin leidet an einer Aufquellung des Fettgewebes an
beiden Beinen, einem sog. Lipödem. Das Lipödem ist ein klinisches Syndrom,
gekennzeichnet durch Vermehrung des Unterhautfettgewebes mit orthostatischen
Ödemen, einhergehend mit einer Fettverteilungsstörung besonders an Ober- und
Unterschenkeln. Im fortgeschrittenen Stadium bildet sich in vielen Fällen ein
lympho-statisches Ödem. Über das Klinikum D. beantragte die Klägerin mit
Schreiben vom 9. Juli 2001 die Zusage der Kostenübernahme für eine Liposuktion,
da nur durch diese Methode eine dauerhafte Besserung des Krankheitsbildes
möglich sei.
Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Dr. L. (9. August 2001 und 26.
September 2001) ein ärztliches Gutachten. Dr. L. vertrat die Auffassung, unter
Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung könne die hier beantragte
ambulante Liposuktion sozialmedizinisch außerhalb klinisch kontrollierter Studien
derzeit nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung empfohlen werden.
Nachdem die Beklagte ein weiteres Gutachten bei Frau Dr. S. (12. November
2001) in Auftrag gegeben hatte und die Sachverständige ebenfalls die Auffassung
vertrat, dass eine sozialmedizinische Empfehlung der Kostenübernahme der
ambulanten Liposuktion zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
ausgesprochen werden könne, lehnte sie den Antrag mit Bescheid vom 27.
November 2001 ab.
Hiergegen legte die Klägerin am 10. Dezember 2001 Widerspruch ein. Sie machte
im Wesentlichen geltend, im Hinblick auf die in der Hautklinik in D. bei anderen
Patienten gesammelten Erfahrungen handele es sich um eine
Behandlungsmethode, deren Behandlungserfolg auch entsprechend gesichert sei.
Auf der Grundlage einer weiteren sozialmedizinischen Äußerung des Dr. L. vom 4.
April 2002, bei der der Arzt seinen Standpunkt beibehalten hatte, wies die
Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2002 als
unbegründet zurück. Auf den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.
Dagegen richtet sich die Klage vom 16. Juli 2002.
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Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, die hier geplante
Heilbehandlungsmaßnahme sei ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich. Mit
der üblichen Therapie, also dem Anlegen von Druckverbänden und manueller
Lymphdrainage sei auf Dauer keine Linderung ihrer Beschwerden zu erreichen.
Darüber hinaus stützt sich die Klägerin auf das Gutachten des Dr. O. vom 26. Mai
2003.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 27. November 2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2002 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, die Kosten für eine Liposuktion dem Grunde nach zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, dass es sich bei der begehrten Behandlung um keine
vertragsärztliche Leistung handele. Eine Kostenübernahme sei nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgeschlossen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Fachgutachtens bei Dr. O..
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 26. Mai
2003 verwiesen. Darüber hinaus hat das Gericht die Verwaltungsakte der
Beklagten beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und des
Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakte
sowie der Schriftsätze vom 14. Juli, 17. September, 31. Oktober sowie 4.
Dezember 2003 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG).
Sie ist auch begründet.
Der Bescheid vom 27. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 28. Juni 2002 erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin in ihren
Rechten, § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat dem Grunde nach einen Anspruch auf
Freistellung der Kosten für eine Liposuktion.
Einzige vorliegend in Betracht kommende Anspruchsgrundlage war § 13 Abs. 3
SGB V, laut dem eine Krankenkasse unter anderem Kosten für eine selbst
beschaffte Leistung zu erstatten hat, sofern sie die Leistung zu Unrecht abgelehnt
hat, dem Versicherten für die Selbstbeschaffung Kosten entstanden sind und die
Leistung notwendig gewesen ist. Diese auf die Erstattung vom Versicherten bereits
gezahlter Kosten zugeschnittene Bestimmung ist beim Vorliegen der sonstigen
Voraussetzungen entsprechend anzuwenden, wenn der Versicherte die
Verpflichtung einzugehen hat und hieraus ein Zahlungsanspruch gegen ihn
entsteht. Statt einer Erstattung kann er dann die Bezahlung seiner Schuld durch
den Versicherungsträger verlangen. Die Voraussetzungen dieses
Freistellungsanspruchs sind erfüllt. Der Klägerin werden Kosten durch eine selbst
zu beschaffende Leistung entstehen, denn die Behandlung im Klinikum D. belaufen
sich auf insgesamt circa 5.215,18 Euro, die analog der Gebührenordnung Ärzte
abgerechnet werden. Streitig war vorliegend insoweit lediglich, ob die Behandlung
im Sinne des SGB V notwendig gewesen ist, mit anderen Worten, ob es sich um
eine von der gesetzlichen Krankenversicherung zu finanzierende Leistung
gehandelt hat. Dies ist im Ergebnis der Fall.
Allerdings handelt es sich bei der Liposuktion - noch - nicht um eine allgemeine
Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Insoweit hat die Beklagte
grundsätzlich aus ihrer Sicht zu Recht die Erbringung der Leistung als Sachleistung
der gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt, denn hierfür gibt es - derzeit -
keine Anspruchsgrundlage im SGB V.
Denn gemäß § 135 Abs. 1 SGB V dürfen NUB in der vertragsärztlichen Versorgung
zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Bundesausschuss
der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung,
einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der
Krankenkassen in den NUB-Richtlinien, welche durch Beschluss vom 10. Dezember
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Krankenkassen in den NUB-Richtlinien, welche durch Beschluss vom 10. Dezember
1999 (Bundesanzeiger Nr. 56 vom 21. März 2000, S. 4602) nunmehr in Richtlinien
über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (BUB-
Richtlinien) umbenannt wurden, Empfehlungen unter anderem über die
Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen
Methode abgegeben hat. Mit anderen Worten darf der Vertragsarzt die Anwendung
einer NUB nur abrechnen, wenn sie in den sog. Positivkatalog - Anlage 1 der NUB-
Richtlinien oder nunmehr der Anlage A der BUB-Richtlinien - aufgenommen wurde.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95)
hat diese Vorschrift aus dem Leistungserbringerrecht unmittelbarer Auswirkungen
auf das Leistungsrecht der Gestalt, dass auch die Versicherten
Leistungsempfänger die Anwendung einer NUB zu Lasten der Krankenkassen - mit
Ausnahme von Fällen des „Systemversagens“ - nur beanspruchen können, wenn
eine positive Empfehlung in den Richtlinien vorliegt; der Einwand des Versicherten,
die Methode sei gleichwohl zweckmäßig oder in seinem konkreten Fall wirksam
gewesen, ist hiernach grundsätzlich unbeachtlich und für das Ergebnis nicht
relevant. Zur Begründung dieser Auffassung hat das BSG a. a. O. ausgeführt, bei
den NUB-Richtlinien handele es sich um untergesetzliche Rechtsnormen, was
verfassungsrechtlich unbedenklich sei. Diesen Erwägungen des BSG, an denen
sich durch die Umbenennung in BUB-Richtlinien nicht geändert hat, folgt auch das
erkennende Gericht ausdrücklich.
Zwar hätte die Beklagte hiernach den Anspruch der Klägerin zunächst zu Recht
abgelehnt. Denn bei der Liposuktion handelt es sich jedenfalls um eine NUB. Dabei
kommt es für die Frage, ob eine Behandlungsmethode „neu“ ist, nicht darauf an,
wann diese Methode erstmals angewendet und entwickelt wurde. Eine Methode ist
vielmehr solange „neu“, als sie nicht fester und unumstrittener Bestandteil der
vertragsärztlichen Versorgung ist (BSG SozR 3 - 2500 § 135 Nr. 4). Sie ist ein
derartiger Bestandteil jedenfalls dann (so Ziffer 2.1 der BUB-Richtlinie), wenn sie
Eingang in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab für Ärzte gefunden hat, im
Übrigen allenfalls dann, wenn ihre Bewährung völlig außer Zweifel steht. Die
Liposuktion befindet sich nicht im EBM. Sie ist auch noch nicht ohne jeglichen
Zweifel anerkannt, was sich schon daraus ergibt, dass sich der MDK zurückhaltend
und kritisch mit der Methode auseinander setzte. Somit gehört die Methode noch
nicht zum Leistungsangebot der Krankenkassen. Die Beklagte hätte hiernach oder
hat sogar wegen ihrer strikten Bindung an die Richtlinien die Übernahme der
Behandlungskosten zu Recht abgelehnt. Diese Aussicht der Beklagten formal zu
Recht erfolgte Ablehnung ist jedoch im Ergebnis gleichwohl rechtswidrig. Denn
nach Auffassung des erkennenden Gerichts beruht die Nichtaufnahme der
Liposuktion als Behandlungsmethode auf einem sog. Systemversagen.
Zu einem derartigen „Systemversagen“ hat das BSG a. a. O. zutreffend
ausgeführt, dass es trotz grundsätzlicher Verbindlichkeit der NUB-Richtlinien nicht
völlig in das Belieben des Bundesausschusses gestellt werden könne, wie und
wann er über eine Methode befinde. Es stehe auch nicht im freien Belieben der
antragsberechtigten Gruppierungen, einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Vielmehr komme - quasi als Regulativ - eine Erstattungspflicht für NUB ohne
Aufnahme in den Positivkatalog der Richtlinien dann in Betracht, wenn aus
sachfremden Erwägungen oder schlicht mit Verschleppungsabsicht ein
Anerkennungsverfahren nicht in angemessener Zeit beantragt oder durchgeführt
werde.
Ein Systemversagen in diesem Sinne vermag das Gericht allerdings vorliegend
nicht festzustellen; Anhaltspunkte hierfür bestehen nicht.
Damit ist die Frage nach dem Vorliegen eines Systemversagens nach Auffassung
des Gerichts aber noch nicht abschließend beantwortet. Denn das
„Systemversagen“ ist kein vom Verschulden abhängiger Vorwurf an die mit der
Anerkennung neuer Methoden befassten Gremien, sondern mit § 13 Abs. 3 SGB V
als Anspruchsgrundlage ein verschuldensunabhängiges Korrektiv für Lücken im
System der gesetzlichen Krankenversicherung, d. h. für Fälle, in denen eine
Leistung angemessen, wirtschaftlich, geeignet und notwendig ist, gleichwohl aber
im Leistungserbringerrecht nicht anerkannt worden ist. Insoweit besteht vorliegend
eine Lücke und damit auch ein Systemversagen darin, dass das formalisierte
Verfahren nach den Richtlinien nicht geeignet ist, darüber zu befinden, ob eine
Behandlungsmethode bei seltenen und damit nicht der intensiven Forschung
unterliegenden Krankheitsbildern geeignet und notwendig ist.
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An der Annahme eines derartigen prinzipiellen Systemversagens sieht sich das
Gericht durch die zitierte BSG-Rechtsprechung nicht gehindert. Vielmehr hat auch
das BSG deutlich gemacht, dass ein nicht zeitgerecht durchgeführtes
Anerkennungsverfahren ein Unterfall des Systemmangels ist und andere Formen
des Systemmangels nicht ausgeschlossen werden (BSG SozR 3 - 2500 § 153 Nr. 4
S. 21 „ein solcher Systemmangel kann (auch) darin bestehen, dass das
Anerkennungsverfahren … nicht zeitgerecht durchgeführt wird“).
Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage eines grundsätzlichen
Systemmangels bei seltenen Erkrankungen liegt nicht vor, was gerade in dieser
Seltenheit begründet ist. Allerdings hat sich das BSG bereits in der mehrfach
zitierten Grundsatzentscheidung zur Verbindlichkeit der NUB-Richtlinien mit der
Duchenne’schen Erkrankung befasst, einer so wörtlich - „verhältnismäßig seltenen
Erkrankung“. Vor diesem Hintergrund kann allerdings nicht davon ausgegangen
werden, dass der Gesetzgeber des SGB V beabsichtigt hat, in solchen Fällen neue
Behandlungsmethoden niemals zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
erbringen lassen zu wollen, vielmehr ist dieser seltene Ausnahmefall offensichtlich
vom Gesetzgeber nicht gesehen worden. Darüber hinaus würde sich die Frage
stellen, wie derartige Fälle überhaupt allgemein gültig in Gesetz und Richtlinien
geregelt werden sollten.
Nach alledem stellt sich vorliegend die Frage, anhand welcher Kriterien in
Seltenheitsfällen wie dem Vorliegenden - nach Ziffer 2 der Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Phlebologie ist die Erkrankung eher selten - festzulegen ist, ob
eine Kostentragungspflicht der Krankenkasse besteht oder nicht. Das in derartigen
Seltenheitsfällen nicht etwa stets eine Erstattungspflicht bzw. ein
Freistellungsanspruch der Krankenkassen anzunehmen ist, bedarf keiner näheren
Erörterung. Es sind insoweit vielmehr Kriterien festzulegen, welche eine restriktive
Zulassung von Methoden ermöglicht, die im Ergebnis im Wesentlichen dem NUB-
Verfahren bei seltenen Erkrankungen entspricht. Das Gericht hatte schließlich zu
berücksichtigen, dass das BSG a. a. O. mit zutreffenden Gründen die
grundsätzliche Verbindlichkeit der BUB-Richtlinien gerade deshalb gefordert hat,
weil es unangemessen erscheint, dass die Erstattungsfähigkeit einer
Behandlungsmethode von der individuellen Würdigung eines jeweiligen Gerichts
abhängt oder von der individuellen Würdigung des von diesem ausgewählten
Sachverständigen. Insoweit kann das erkennende Gericht auch in Seltenheitsfällen
wie dem Vorliegenden nicht seine subjektive Auffassung von der Wirksamkeit einer
Methode an die Stelle des an und für sich notwendigen Votums des
Bundesausschusses setzen.
Nach alledem sind nach Auffassung des Gerichts folgende Anforderungen an die
Anerkennung einer neuen Behandlungsmethode im Seltenheitsfall zu stellen:
- Die Behandlung darf nicht aus anderen Gesichtspunkten außerhalb der BUB-
Richtlinien mit der Rechtsordnung im Widerspruch stehen. Dies ist vorliegend nicht
der Fall, was unstreitig ist.
- Die Behandlungsmethode, muss mit seriösen wissenschaftlichen Methoden
einen gewissen Erforschungsgrad erreicht haben. Methoden, die z. B. nur von
einem Behandler angeboten werden, der keine allgemeine Überprüfung zulässt,
können auch im Seltenheitsfall niemals anerkannt werden, weil feststeht, dass sie
bei Hinwegdenken der Seltenheit und der Durchführung des NUB-Verfahrens
ebenfalls nicht anerkannt werden könnten. Auch diese Voraussetzung ist erfüllt.
Das Gericht verweist insoweit auf die Ausführungen des Dr. med. R. vom 13.
Dezember 2001 Bl. 45 - 48 Verwaltungsvorgang sowie auf die Äußerung des
Gerichtssachverständigen Dr. O. (S. 8 des Gutachtens).
- Die vom BSG grundsätzlich geforderte breite Resonanz in der wissenschaftlichen
Diskussion in Fällen des Systemversagens kann naturgemäß bei Seltenheitsfällen
gerade nicht gefordert werden. Allerdings muss die Methode jedenfalls dort, wo sie
diskutiert wird, keine wissenschaftlich beachtlichen Gegenstimmen gefunden
haben. Auch dies ist vorliegend der Fall. Der Gerichtssachverständige hat insoweit
unstreitig ausgeführt, die Liposuktion werde weltweit tausendfach durchgeführt und
erfülle nachweislich notwendige wissenschaftliche Kriterien zum Nachweis eines
methodischen Erfolges.
- Es dürfen keine Nebenwirkungen bekannt und auch nur zu befürchten sein, die
von ihrer Wirkung her ähnlich gefährlich sind, wie die zu behandelnde Krankheit
selbst. Eine Behandlungsmethode mit zwar möglicherweise hoher Erfolgsaussicht,
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selbst. Eine Behandlungsmethode mit zwar möglicherweise hoher Erfolgsaussicht,
bei der aber auch eine nicht zu vernachlässigende Gefahr drastischer
Verschlimmerung bestünde, könnte auch wegen der Folgekosten für die
Solidargemeinschaft auch im Seltenheitsfall nicht zu Lasten der
Krankenversicherung gehen. Vorliegend ergibt sich aus den Darlegungen des
Gerichtssachverständigen (S. 11) dass die Gefahr der Verletzung von
Lymphgefäßen „theoretisch“ besteht. Dies stellt eine nur vernachlässigenswerte
Nebenwirkung dar.
- Es dürfen keine ernsthaft möglichen und Erfolgversprechende bereits
anerkannten Alternativmethoden zur Behandlung zur Verfügung stehen. Insoweit
ist nach Auffassung des Gerichts für ein Systemversagen kein Raum, wenn es eine
oder mehrere andere anerkannte Behandlungsmethoden gibt. Es besteht dann
weder eine Lücke noch ein Bedürfnis für die außerhalb des normalen Verfahrens
stehende Anerkennung einer weiteren neuen Behandlungsmethode. Vorliegend
standen letztlich unstreitig keine Behandlungsalternativen zur Verfügung. Dr. O.
hat dargelegt, dass eine dauerhafte Kompressionstherapie nur als „mechanische
Hilfe“ zu verstehen ist. Auch die regelmäßig durchzuführenden Lymphdrainagen
sind lediglich im Sinne einer kosmetischen Korrektur zu verstehen.
- Schließlich fordert es die gebotene restriktive Handhabung und Annahme eines
Systemversagens, dass die zu behandelnde und wegen Seltenheit nicht
hinreichend erforschte Erkrankung dringlich Behandlungsbedürftig ist. Insoweit
bedarf es einer sorgfältigen Abwägung der Interessen des an einer seltenen
Erkrankung leidenden Versicherten mit dem Interesse der Solidargemeinschaft
nicht hinreichend erforschte Methoden nicht tragen zu müssen. Diese Abwägung
ist zu Gunsten der Interessen der Solidargemeinschaft zu treffen, wenn es nur
darum geht, einen auch ohne therapiegesicherten dauerhaften pathologischen
Zustand - wie typischerweise bei geistigen Behinderungen - zu bessern oder eine
Krankheit zu lindern. Vorliegend ist ein progressives Krankheitsbild gegeben (vgl.
S. 3 Gutachten des Dr. O.) wobei gerade vor dem Hintergrund der Berufstätigkeit
der Klägerin als Optikerin die von der Beklagten vorgeschlagene Behandlung mit
Kompressionsstrumpfhosen ausweislich der Ausführungen des
Gerichtssachverständigen insbesondere in den Sommermonaten als „brutal“
einzustufen sei.
Nach alledem ist vorliegend zum einen ein Systemversagen gegeben und zum
andern liegen nach Auffassung des Gerichts alle Kriterien vor, die eine
Kostenerstattung der Behandlungsmethode im Seltenheitsfall ausnahmsweise
ohne das sonst übliche Anerkennungsverfahren ermöglichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.