Urteil des SozG Duisburg vom 04.05.2007

SozG Duisburg: freiwillige versicherung, erwerbsfähigkeit, krankenversicherung, angina pectoris, ärztliches gutachten, mitgliedschaft, versicherungspflicht, erwerbsunfähigkeit, krankenkasse

Sozialgericht Duisburg, S 11 KR 228/06
Datum:
04.05.2007
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 KR 228/06
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 12 KR 33/07 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 01.08.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25.10.2006 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die
freiwillige Versicherung ab dem 01.05.2006 durchzuführen. Die Kosten
werden der Beklagten auferlegt. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob der Kläger als freiwillig versichertes Mitglied bei der beklagten
Krankenkasse zum 01.05.2006 aufzunehmen ist.
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Der 1948 geborene Kläger erlitt 2004 einen Herzinfarkt. Seit vielen Jahren leidet er an
einer Vielzahl internistischer Grunderkrankungen, unter anderem an wiederholt
auftretenden Blutdruckentgleisungen und Angina pectoris-Beschwerden.
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Seit dem 01.01.2005 bezog der Kläger Leistungen nach § 19 2. Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) Arbeitslosengeld II ( ALG II) und war deshalb bei der Beklagten pflichtversichert.
Während des Bezuges von Sozialhilfe in den Jahren davor war der Kläger nicht
krankenversichert. Die ARGE Duisburg als zuständiger Träger nach dem SGB II hob die
Bewilligung von Leistungen mit Wirkung zum 30.04.2006 auf. Seit dem 01.05.2006
bezieht der Kläger Leistungen nach dem 12. Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) durch
die Beigeladene.
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Der Kläger stellte im April 2006 bei der Beklagten einen Antrag auf Durchführung der
freiwilligen Versicherung ab dem 01.05.2006. Aus dem von der Beklagten
beigezogenen Aufhebungsbescheid der ARGE vom 18.04.2006 ergibt sich, dass die
Leistungen nach dem SGB II eingestellt worden sind mit der Begründung, der Kläger sei
nicht mehr mindestens 3 Stunden täglich erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Er habe
Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII:.
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Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 01.08.2006 die Durchführung der freiwilligen
Versicherung ab. In Ermangelung ausreichender Vorversicherungszeiten seien die
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Voraussetzungen einer freiwilligen Versicherung -§ 9 Abs.1 Nr.1 5. Buch
Sozialgesetzbuch (SGB V) -nicht erfüllt. Zwar sei der Kläger vom 01.01.2005 bis zum
30.04.2006 durch die ARGE versicherungspflichtig angemeldet gewesen, die
Leistungen seien jedoch wegen Wegfall der Erwerbsfähigkeit eingestellt worden. Da
nicht nachgewiesen sei, seit wann Erwerbsunfähigkeit vorliege, gehe man davon aus,
dass die Erwerbsfähigkeit bereits 2005 weggefallen sei. Versicherungszeiten, in denen
eine Versicherung allein deshalb bestanden habe, weil ALG II zu Unrecht bezogen
worden sei, seien nicht zu berücksichtigen ( § 9 Abs.1 Nr.1 2.Halbsatz SGB V).
Zur Begründung des hiergegen am 04.08.2006 erhobenen Widerspruches wurde durch
die Beigeladene für den Kläger ausgeführt, die gesamte Auszahlungszeit des ALG II
müsse als Vorversicherungszeit anerkannt werden. Eine Überprüfung der
Rechtmäßigkeit des ALG II - Bezuges sei den Krankenkassen nicht gestattet.
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Der Kläger hat ebenfalls am 04.08.2006 im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die
Gewährung von Krankenversicherungsschutz durch die Beklagte beantragt. Die
Beklagte hat sich bereit erklärt, der Kläger bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung
über das Bestehen einer freiwilligen Krankenversicherung vorläufig Leistungen der
freiwilligen Krankenversicherung nach dem SGB V zu gewähren. Die Beklagte hat
einen Erstattungsanspruch bei der Beigeladenen geltend gemacht.
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Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
25.10.2006 zurück. Auch wenn das ALG II aus Sicht der ARGE zu Recht im Rahmen
des § 44a SGB II gezahlt worden sei, sei der Bezug seit 2005 zu Unrecht erfolgt. Im
Ergebnis solle verhindert werden, dass wegen fehlender Erwerbsfähigkeit zu Unrecht
bezogenes ALG II dazu führe, dass nach Ende des unrechtmäßigen Leistungsbezuges
eine dauerhafte freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenkasse begründet
werden könne.
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Hiergegen richtet sich die am 31.10.2006 erhobene Klage.
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Der Kläger trägt vor, er sei bei der Beklagten 16 Monate während des Bezuges von ALG
II pflichtversichert gewesen. Beiträge zur Pflichtversicherung seien durch die ARGE
entrichtet worden. Eine eigene Entscheidungskompetenz darüber, ob der Kläger
erwerbsfähig sei, stehe der Beklagten nicht zu. Da die Bewilligungsbescheide der
ARGE für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.04.2006 bestandskräftig seien, liege ein
rechtmäßiger Bezug von ALG II vor. Da die Vorversicherungszeit erfüllt sei, müsse die
Beklagte den Kläger zur freiwilligen Krankenversicherung zulassen. Der Kläger
beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 01.08.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25.10.2006 aufzuheben und der Kläger zur freiwilligen Mitgliedschaft in der
gesetzlichen Krankeversicherung bei der Beklagten ab Antragstellung zuzulassen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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§ 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1,2.Halbsatz SGB V regele, dass bei den erforderlichen
Vorversicherungszeiten für die freiwillige Versicherung Versicherungszeiten nicht
berücksichtigt würden, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden habe, weil
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ALG II zu Unrecht bezogen worden sei. Mit diesem durch Gesetz vom 22.12.2005
eingefügten Passus habe der Gesetzgeber für die Zeit ab dem 31.12.2005 insbesondere
verhindern wollen, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug
von ALG II dazu führe, dass im Anschluss daran eine dauerhafte Mitgliedschaft in der
gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden könne. Hieraus werde abgeleitet,
dass es im Rahmen der Vorversicherungszeit ( anders als in der Regelung des § 5
Abs.1 Nr.2a SGB V hinsichtlich der Versicherungspflicht) nicht auf die formelle, sondern
auf die materielle Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges ankomme, also die
Bedürftigkeit und die Erwerbsfähigkeit nach § 19 SGB II. Die Nichtberücksichtigung als
Vorversicherungszeit setze daher nicht zusätzlich auch die rückwirkende Aufhebung
des Bewilligungsbescheides über ALG II voraus.
Die Beigeladene schließt sich dem Klageantrag des Klägers an.
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Sie verweist insbesondere auf §§ 44a, 45 SGB II. Danach obliege die Entscheidung
darüber, ob der Bezug von ALG II wegen fehlender Erwerbsfähigkeit zu Unrecht erfolgt
sei, nicht der Beurteilung und Entscheidung der Beklagten. Auf den Beschluss des LSG
NRW vom 17.08.2006 ( L 5 B 41/06 ER) werde hingewiesen. Es sei zwar zutreffend,
dass nach der Auskunft der ARGE die Minderung der Leistungsfähigkeit des Klägers mit
Arztgutachten vom 19.10.2005 festgestellt worden sei, die Weiterzahlung der
Leistungen bis zur tatsächlichen Feststellung der Erwerbsunfähigkeit iS des § 8 Abs.2
SGB II nach § 44 a SGB II sei aber rechtmäßig erfolgt.
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In der beigezogenen, den Kläger betreffenden Leistungsakte der ARGE findet sich der
Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II. Der Kläger gab danach bereits bei
der Antragstellung an, er könne nicht mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig sein,
da er herzkrank sei. Aus einem Bearbeitungsvermerk der Agentur für Arbeit vom
25.11.2005 ergibt sich, dass eine persönliche Vorsprache des Klägers dort damals nicht
für erforderlich gehalten worden ist mit der Begründung, der Kläger sei dauerhaft
außerstande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes 3
Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Ein ärztliches Gutachten des
Gesundheitsamtes gelangte am 26.01.2006 zu dem Ergebnis, der Kläger leide seit
Jahren an internistischen Grunderkrankungen, es komme immer wieder zu
Entgleisungen des Blutdrucks. Aufgrund der vorliegenden chronischen Erkrankungen
sei der Kläger nicht leistungsfähig für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die
Mitteilung der fehlenden Erwerbsfähigkeit an die Beigeladene erfolgte im Februar 2006.
Die Beigeladene rief die Einigungsstelle ein und bat die ARGE um vorläufige
Weitergewährung der Leistung. Der Rentenversicherungsträger gelangte zu dem
Ergebnis, dass Erwerbsunfähigkeit bei dem Kläger seit dem 24.02.2006 gegeben ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der
Beigeladenen verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Kläger hat auf Grund eines wirksamen Beitritts zur freiwilligen Krankenversicherung
Anspruch auf Krankenversicherungsschutz. Die Voraussetzungen für die freiwillige
Krankenversicherung nach § 9 Abs.1 Nr.1 SGB V liegen vor.
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Nach § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB V können der freiwilligen Krankenversicherung
Personen beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind
und unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen zumindest 12 Monate versichert
waren. Dabei sind Zeiten, in denen die Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil
ALG II zu Unrecht bezogen wurde, nicht zu berücksichtigen ( § 9 Abs.1 Nr.1, 2.
Halbsatz). Nach § 188 Abs.2 SGB V beginnt die Mitgliedschaft der nach § 9 Abs. 1 Nr.1
und 2 SGB V Versicherten mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der
Versicherungspflicht. Der Beitritt ist den Krankenkassen innerhalb von 3 Monaten
anzuzeigen.
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Der Kläger hat seinen Beitritt zum 01.05.2006 mit dem am 24.04.2006 bei der Beklagten
eingegangenen Antrag schriftlich erklärt ( § 188 Abs.3 SGB V). Unmittelbar vor dem
Ausscheiden aus der Versicherungspflicht nach § 190 Abs.12 SGB V war er zudem
mindestens 12 Monate versichert. Die Versicherungspflicht folgte aus § 5 Abs.1 Nr. 2a
SGB V, denn die Kläger hat vom 01.01.2005 bis zum 30.04.2006 Leistungen nach dem
SGB II bezogen. Die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für diesen Zeitraum
wurde auch nicht rückwirkend aufgehoben. Nach § 190 Abs.12 SGB V endet die
Pflichtmitgliedschaft der Bezieher von ALG II mit Ablauf des letzten Tages, für den die
Leistung bezogen wird.
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Zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob die Vorversicherungszeit deshalb nicht
erfüllt ist, weil der Kläger nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen eventuell
bereits seit Anfang 2005 voll erwerbsgemindert war. Soweit die Beklagte die Auffassung
vertreten hat, die Mitgliedschaft dürfe gemäß § 9 Abs.1 Satz1 Nr.1 2. Halbsatz ( in der
seit dem 01.01.2006 geltenden Fassung, Art 2 a des Fünften Gesetzes zur Änderung
des 3. Buches Sozialgesetzbuch und andere Gesetze vom 22.12.2005, BGBl. I, 3676)
nicht berücksichtigt werden, da seit 2005 feststehe, dass der Kläger nicht erwerbsfähig
im Sinne des § 8 Abs.1 SGB II sei mit der Folge, dass er seither ALG II zu Unrecht
bezogen habe, konnte die Kammer sich dieser Ansicht nicht anschließen.
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Zwar erhält ALG II nur, wer erwerbsfähig ist ( § 19 Satz 1, 8 Abs.1 Satz 2 Ziff. 3 SGB III).
Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit
außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Aber auch dann, wenn
Erwerbsfähigkeit tatsächlich nicht mehr gegeben war folgt daraus nicht unmittelbar, dass
ALG II zu Unrecht bezogen worden ist im Sinne des § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 2. Halbsatz
SGB V.
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Die Regelung des § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 2. Halbsatz SGB V soll zwar verhindern, dass
"ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug von ALG II dazu führt, dass
nach Ende des unrechtmäßigen Leistungsbezugs eine dauerhafte freiwillige
Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden kann" (BT-
Drs. 16/245, S. 9). Allerdings sind die Krankenkassen an die Entscheidung der ARGEs
gebunden, die Entscheidung, ob der Bezug von ALG II wegen fehlender Rechtmäßigkeit
zu Unrecht erfolgt ist, obliegt nicht der Beurteilung und Entscheidung der Beklagten
(Ebenso der 5. Senat des LSG NRW, Beschluss vom 17.08.2006 - L 5 B 41/06 KR ER-,
aber auch der 11. Senat des LSG NRW, Beschluss vom 31.08.2006, - L 11 B 18/06 KR
ER-).
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Die Regelung des § 9 Abs.1 Satz 1 Nr.1 2. Halbsatz SGB V kann insbesondere nicht
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ohne die im streitigen Zeitraum noch geltende Vorschrift des § 44a SGB II (die zum
01.01.2005 in Kraft getretene Vorschrift trat außer Kraft am 30.07.2006 durch Art. 1 des
Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.07.2006,
BGBl. I, 2535) gesehen werden. Nach § 44a SGB II stellte die Agentur für Arbeit die
Erwerbsfähigkeit fest. Nur in den Fällen, in denen der kommunale Träger oder ein
anderer Leistungsträger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, die
Auffassung der Agentur für Arbeit nicht teilte, hatte die Einigungsstelle zu entscheiden.
Bis zur Entscheidung der Einigungsstelle waren Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende zu erbringen.
Eine eigenständige Prüfung durch die Beklagte war daher in keinem Zeitpunkt
vorgesehen. Nach den bis zum 30.07.2006 geltenden Regelungen der §§ 44 S.2, 45
SGB II konnten Krankenkassen noch nicht einmal ein Einigungsstellenverfahren nach §
45 SGB II in Gang setzen. Nach den Neuregelungen haben sie zwar inzwischen ein
eigenes Antragsrecht zur Überprüfung der Entscheidung der ARGEs, ein eigenes
Beurteilungsrecht steht ihnen aber weiterhin nicht zu. Dabei hat der Gesetzgeber
durchaus berücksichtigt, dass von den finanziellen Folgen eines rechtswidrigen Bezugs
von ALG II aufgrund fehlender Erwerbsfähigkeit auch die Krankenkassen betroffen sind
(BT-Drs. 16/1410, 27). Und trotzdem wurde nur eine Beteiligung am
Einigungsstellenverfahren geregelt.
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Gegen ein - gesetzlich eindeutig nicht geregeltes - eigenes Beurteilungs- und
Entscheidungsrecht bei der Frage der Erwerbsfähigkeit des Beziehers der Leistungen
nach dem ALG II spricht auch, dass im Sozialleistungssystem die anderen Träger die
Regelungsbefugnisse der anderen Träger zu akzeptieren haben. Soweit das Gesetz
nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt, muss jeder Träger die Entscheidung der
anderen Träger respektieren und inhaltlich seinen Entscheidungen zugrunde legen (
BSG SozR 1300 § 103 Nr.2; SozR 3-2200 § 183 Nr.6, SozR 3- 1300 § 86 Nr.3).
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Zu berücksichtigen ist auch, dass selbst dann, wenn nachträglich festgestellt wird, dass
der Arbeitssuchende erwerbsunfähig war und ist, eine Aufhebung der Bewilligung von
ALG II nur mit Wirkung für die Zukunft in Betracht kommt. Bis zur Entscheidung der
Einigungsstelle ist der Bezug von ALG II als rechtmäßig anzusehen. Der Betroffene wird
hierdurch geschützt, denn ansonsten müsste er die ALG II - Leistungen zurückzahlen,
könnte aber einen Anspruch auf Sozialleistungen nicht mehr realisieren. Der
Leistungsbezieher würde durch die Streitigkeiten der beiden Träger untereinander
benachteiligt. Wenn schon der Bezug des ALG II so lange als rechtmäßig anzusehen ist,
bis die Einigungsstelle entschieden hat, muss dies erst recht in den Fällen gelten, in
denen gar kein Einigungsstellenverfahren veranlasst wird, sondern auf anderem Weg
(hier durch Beiziehung eines Gutachtens des ärztlichen Dienstes und durch
Einschaltung des Rentenversicherungsträgers über § 45 SGB XII) die
Erwerbsunfähigkeit festgestellt wird.
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Bei einer "falschen" Entscheidung der ARGE kann sich aus Sicht der Kammer maximal
die Frage nach Erstattungsansprüchen der Träger untereinander stellen. So ist seit dem
01.08.2006 durch § 44 a Abs.2 SGB II bei einer Entscheidung der Einigungsstelle dem
Träger nach dem SGB II ein Erstattungsanspruch entsprechend § 103 SGB X
eingeräumt worden.
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Nachvollziehbar für die Kammer ist allerdings der Unmut der Beklagten darüber, dass
durch die ARGE erst zum 30.04.2006 die Bewilligung von ALG II aufgehoben worden
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ist, obwohl schon früh Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers angebracht gewesen
wären. Der 11. Senat des LSG NRW diskutiert in einem ähnlich gelagerten Fall in
seinem Beschluss vom 31.08.2006 ( L 11 B 18/06 KR ER ) die Möglichkeit eines
Schadensersatzanspruches der Krankenkasse gegen die ARGE, gestützt auf § 86 SGB
X.
Es ist jedoch dringend zu unterscheiden zwischen den Ansprüchen der
Sozialleistungsträger untereinander und den Ansprüchen der Versicherten gegen die
Träger. Streitig ist im vorliegenden Fall allein, ob der Kläger gegenüber der Beklagten
einen Anspruch auf Durchführung der freiwilligen Versicherung hat. Die positive Folge
der Bindung der Krankenkassen an die Entscheidung des Trägers nach dem SGB II ist,
dass bei der Prüfung der Voraussetzungen der freiwilligen Krankenversicherung allein
auf den tatsächlichen Bezug des ALG II und die daraus folgenden Pflichtversicherung
abzustellen ist. Damit kann das Bestehen eines Krankenversicherungsschutzes nicht
lange ungeklärt bleiben. Streitigkeiten können jedenfalls nicht zu Lasten der
Versicherten / Leistungsbezieher über längere Zeit zwischen den ARGEs und den
Krankenkassen ausgefochten werden.
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Im vorliegenden Fall ist von einem "rechtmäßigen" Bezug von ALG II vom 01.01.2005
bis 30.04.2006 auszugehen. Unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der
Pflichtversicherung war der Kläger mindestens 12 Monate versichert. Die
Voraussetzungen einer freiwilligen Krankenversicherung liegen vor. Auf den Antrag des
Klägers hin ist diese ab dem 01.05.2006 durchzuführen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Sprungrevision ist gemäß § 161 Abs.1 und 2 SGG zugelassen worden. Die
Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung dem Antrag der Beklagten auf
Zulassung der Sprungrevision zugestimmt. Im Hinblick auf eine Vielzahl der bei den
Sozialgerichten, insbesondere aber auch bei der Beklagten noch anhängigen Verfahren
hat die Sache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 161 Abs.2 Satz 1 in
Verbindung mit § 160 Abs.2 Nr.1 SGG. Eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser
Frage liegt noch nicht vor.
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