Urteil des SozG Duisburg vom 11.02.2003

SozG Duisburg: bevölkerung, anteil, evangelische kirche, kirchensteuer, arbeitsentgelt, auskunft, mehrheit, bemessungszeitraum, pauschalierung, anschluss

Sozialgericht Duisburg, S 12 AL 47/02
Datum:
11.02.2003
Gericht:
Sozialgericht Duisburg
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 12 AL 47/02
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung
wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt höheres Arbeitslosengeld.
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Die 1949 geborene Klägerin gehört keiner Kirche an. Sie meldete sich am 05.11.2001
zum 01.01.2002 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Im Jahr 2001 erzielte sie
ein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt in Höhe von 00.000,- DM. Ausweislich der
vorgelegten Lohnsteuerkarte 2001 unterlag sie nicht dem Kirchensteuerabzug.
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Mit Bescheid vom 10.01.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld ab
01.01.2002 nach einem Bemessungsentgelt von 000,00 EURO und Leistungsgruppe
A/0 zu einem wöchentlichen Leistungssatz von 000,00 DM. Den Widerspruch der
Klägerin, mit dem diese sich gegen den Kirchensteuerabzug wendete, wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2002 gestützt auf §§ 129 Ziff. 2 und 136,
137 SGB III als unbegründet zurück. Ausgehend von dem im Bemessungszeitraum
erzielten Arbeitsentgelt sei bei der Bewilligung des Arbeitslosengeldes ein gerundetes
wöchentliches Arbeitsentgelt von 000,- EURO zu Grunde zu legen. Unter
Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse und weil die Klägerin kein Kind im Sinne des §
32 Abs. 1, 3 bis 5 EStG habe, sei Leistungsgruppe A ohne Kindermerkmal einschlägig.
Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmer
gewöhnlich anfielen, ergebe sich daraus ein wöchentlicher Leistungssatz von 000,00
EURO, der auch bewilligt worden sei. Maßgeblich sei das pauschalierte Netto-Entgelt,
nicht ein individuelles Netto-Entgelt. Individuelle Sozialversicherungsbeiträge und
Steuerverhältnisse blieben außer Betracht. Deshalb könne auch die
Kirchensteuerfreiheit der Klägerin bei der Bestimmung des Leistungssatzes nicht
berücksichtigt werden. Zu den gewöhnlich bei Arbeitnehmern anfallenden gesetzlichen
Entgeltabzügen gehöre auch die Kirchensteuer, weil sie bei der Mehrheit der
Arbeitnehmern weiterhin anfalle.
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Zur Begründung ihrer am 25.02.2002 erhobenen Klage meint die Klägerin, es
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widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen, bei der Bemessung des
Leistungsentgeltes zu ihren Lasten Kirchensteuerbeträge zu berücksichtigen, obwohl
sie konfessionslos sei. Jedenfalls für das Jahr 2000 müsse bezweifelt werden, ob der
Kirchensteuerabzug noch zu den gesetzlichen Entgeltabzügen gehöre, die bei
Arbeitnehmern gewöhnlich anfielen. Die jüngere Rechtsprechung des BSG betreffe nur
die Zeit bis 1999.
Seit dem 01.05.2002 ist die Klägerin wieder versicherungspflichtig beschäftigt.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 10.01.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24.01.2002 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld für die
Zeit vom 01.01.2002 bis 30.04.2002 ohne Berücksichtigung des
Kirchensteuerhebesatzes zu bewilligen, hilfsweise die Berufung zuzulassen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält die angefochtenen Bescheide aus den im Widerspruchsbescheid genannten
Gründen für rechtmäßig und meint, verfassungsrechtliche Bedenken gegen die
Einbeziehung des Kirchensteuerhebesatzes bei der Bestimmung der wöchentlichen
Leistungen griffen nicht durch. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Einzelnen
werden dadurch nicht berührt. Die pauschale Berechnungsweise führe auch nicht zu
einer Ungleichbehandlung bzw. unsachgemäßen Gleichbehandlung. Die Regelung sei
aus Praktikabilitätsgründen geboten.
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Das Gericht hat eine Anfrage an das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
gerichtet um zu klären, aufgrund welcher Datenlage bei der Erstellung der SGB III
Leistungsverordnung 2002 Kirchensteuer als gewöhnlich anfallender Abzug
berücksichtigt worden sei. Auf die Auskunft des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Arbeit vom 19.12.2002 wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Prozessakten und der die Klägerin betreffenden Leistungsakten der
Beklagten. Diese Akten haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Zu Recht hat die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld ab 01.01.2002 nach einem
wöchentlichen Leistungssatz von 000,00 EURO bewilligt.
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Unter Berücksichtigung des von der Klägerin im Bemessungszeitraum erzielten
Arbeitsentgeltes, ihrer familiären Situation und der auf ihrer Steuerkarte eingetragenen
Steuerklasse entspricht der bewilligte wöchentliche Leistungssatz der Leistung, die der
Klägerin zusteht. Die vorgenommene Berechnung ist korrekt.
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Die Konfessionslosigkeit der Klägerin und insbesondere der bei ihr nicht
vorgenommene Kirchensteuerabzug führt zu keinem anderen Ergebnis. Das
Bundessozialgericht hat zuletzt in zwei Entscheidungen Ausführungen in diesem
Zusammenhang gemacht (B 11 AL 43/01 R, Urteil vom 08.11.2001 und B 7 AL 18/01 R,
Urteil vom 21.03.2002). In beiden Entscheidungen, die die Zeit bis 1999 betreffen, hat
das BSG ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht
(BVerfGE 90, 226, 236 ff.) gemachten Vorgaben und einer Auskunft des
Bundesministeriums für Arbeit vom 06.11.2001 über die Berücksichtigung des
Kirchensteuerhebesatzes bei der Bestimmung des wöchentlichen Leistungssatzes
weder in tatsächlicher, noch verfassungsrechtlicher Hinsicht zu beanstanden sei. Die in
den Entscheidungen des BSG wiedergegebenen Auskünfte des Bundesministeriums für
Arbeit entsprechen inhaltlich der Auskunft des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Arbeit vom 19.11.2002, die das Gericht eingeholt hat. Danach kann der Anteil der
Arbeitnehmer, die Kirchensteuer zahlen, nur über die Auswertung der Lohn- und
Einkommenssteuerstatistik ermittelt werden. Die Lohn- und Einkommenssteuerstatistik
werde in einem dreijährigen Turnus erstellt. Hierzu beauftrage das Ministerium das
Statistische Bundesamt jeweils mit den notwendigen Auswertungen. Da die Frist zur
Abgabe der Steuererklärung abgewartet werden müsse, liege die Lohn- und
Einkommensstatistik erst gut drei Jahre nach Ablauf des Jahres vor, auf das sie sich
beziehe. Im Sommer 1999 sei die Statistik für das Jahr 1995 erstellt und ausgewertet
worden. Mit den Ergebnissen für das Jahr 1998 werde frühestens gegen Ende 2002
gerechnet. Zum ersten Mal seien die Lohn- und Einkommensstatistik des Jahres 1992
ausgewertet worden. Es lägen demnach gegenwärtig nur die Erkenntnisse für die Jahre
1992 und 1995 vor. Im Jahre 1992 habe der Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuer
zahlten 69 % und im Jahre 1995 60 % betragen. Für die Jahre am aktuellen Rand werde
der Anteil der Arbeitnehmer, die Kirchensteuer zahlten, in Anlehnung an den Anteil der
Kirchenmitglieder in der Bevölkerung ermittelt. Es werde für das Jahr, für das zuletzt
Auswertungen der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik vorlägen, die Differenz
zwischen den Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung und an den
Arbeitnehmern ermittelt. Diese Differenz werde näherungsweise als konstant betrachtet
und auf den aktuellen Wert des Anteils der Kirchenmitglieder der Bevölkerung gezogen.
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Die Evangelische Kirche Deutschlands und der Verband der Diozöse Deutschlands
werde jeweils zum Jahresende nach den Kirchenmitgliederzahlen gefragt. Die Zahlen
würden ein bis eineinhalb Jahre nach dem Stichtag veröffentlicht. Gegenwärtig bezögen
sich die neuesten Zahlen auf den 31.12.2000. Nach der letzten Sonderauswertung der
Lohn- und Einkommenssteuerstatistik im Jahre 1995 seien 60 % der Arbeitnehmer
kirchensteuerpflichtig gewesen. Zum Jahresende 1995 seien 68 % der Bevölkerung
Mitglieder der Evangelischen und der Katholischen Kirche gewesen. Der Anteil der
Kirchenmitglieder unter den Arbeitnehmern habe damit 1995 um 8 Prozentpunkte unter
dem Anteil der Kirchenmitglieder der Bevölkerung gelegen. Zum Jahresende 2000
seien nach den Meldungen der Evangelischen Kirche Deutschland und der Deutschen
Bischofskonferenz 64,9 % der Bevölkerung Mitglieder einer Kirche gewesen. Analog zu
den Ergebnissen aus den Jahren 1995 könne damit auch weiterhin angenommen
werden, dass eine Mehrheit der Arbeitnehmer einer der kirchensteuererhebenden
Kirche angehöre. Aufgrund dieser Datenlage berücksichtige die SGB III
Leistungsentgeltverordnung 2002 die Kirchensteuer als bei Arbeitnehmern für
gewöhnlich anfallenden Entgeltabzug.
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Das Gericht ist mit dem BSG der Meinung, dass die Vorgehensweise des
Bundesministeriums für Arbeit bzw. jetzt für Wirtschaft und Arbeit zulässig ist (ebenso
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SG Dortmund, Urteil vom 12.07.2002, S 5 AL 264/01 für die Jahre 2001 und 2002; SG
Duisburg, Urteil vom 06.11.2002, S 16 AL 140/02 für 2002 - nicht rechtskräftig: jetzt LSG
NRW L 9 AL 240/02).
Für die weiteren Überlegungen legt das Gericht die bis zum Jahre 2000 erhobenen
Zahlen über die Bevölkerungsentwicklung und die Religionszugehörigkeit der
Bevölkerung zu Grunde. Ausweislich einer vom Vorsitzenden am 10.02.2003
durchgeführten Recherche auf der Internetseite des Statistischen Bundesamtes
Deutschland (www.destatis.de), die im Termin zur mündlichen Verhandlung mit den
Beteiligten erörtert worden ist, liegen für das Jahr 2001 bisher erst die Zahlen über die
Bevölkerung vor (insgesamt 82.440,3 Millionen). Für die Religionszugehörigkeit liegen
zum aktualisierten Stand vom 16.12.2002 noch keine Zahlen vor. Nach den statistischen
Erkenntnissen hat seit 1995 der Anteil der Kirchenmitglieder unter den Arbeitnehmern
um 8 Prozentpunkte unter dem Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung
gelegen. 1995 waren 68 % der Bevölkerung Mitglied der Evangelischen oder
Katholischen Kirche. 1998 waren dies 66,1 %, 1999 65,4 % und im Jahr 2000 64,9 %.
Unter Berücksichtigung der Entwicklung der letzten Jahre hält es das Gericht für
gerechtfertigt anzunehmen, dass der Anteil der Bevölkerung, der Mitglied einer dieser
Kirchen ist, jährlich um ca. 0,6 Prozentpunkte abnimmt. Danach ist für 2001
anzunehmen, dass 64,3 % und für 2002, dass 63,7 % der Bevölkerung Mitglied einer
dieser Kirchen war. Vermindert um 8 Prozentpunkte ist damit anzunehmen, dass im Jahr
2001 noch etwa 56,3 % und im Jahr 2002 noch etwa 55,7 % der Arbeitnehmer
Kirchenmitglieder waren und der Kirchensteuerpflicht unterlegen haben. Anhaltspunkte
für eine hiervon wesentlich abweichende Entwicklung findet das Gericht nicht. Unter
Berücksichtigung dieser fortgeschriebenen Entwicklung gehört demnach der
Kirchensteuer weiterhin zu den bei Arbeitnehmer gewöhnlich anfallenden gesetzlichen
Abzügen und ist bei der Pauschalierung des wöchentlichen Leistungssatzes
entsprechend zu berücksichtigen.
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Da sich somit die Ausgangslage gegenüber dem Sachverhalt, denen das
Bundesverfassungsgericht (aaO) zu beurteilen gehabt hat, nicht wesentlich geändert
hat, hat das Gericht im Anschluss an die Entscheidungen des BSG (aaO) keine
Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden gesetzlichen Regelungen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Das Gericht misst der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs.
2 Nr. 1 SGG bei und hat deshalb die Berufung zugelassen.
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